Gesellschaftlicher Protest und politische Gewalt in Italien und der BRD in den 1960er- und 1970er-Jahren

Gesellschaftlicher Protest und politische Gewalt in Italien und der BRD in den 1960er- und 1970er-Jahren

Organisatoren
Christoph Cornelißen, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Brunello Mantelli, Università di Torino; Petra Terhoeven, Georg-August-Universität Göttingen/Deutsches Historisches Institut Rom
Ort
Trient
Land
Italy
Vom - Bis
21.02.2008 - 22.02.2008
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Von
Mathias Heigl

Am 21. und 22. Februar 2008 fand der von Christoph Cornelißen (Kiel), Brunello Mantelli (Turin) und Petra Terhoeven (Göttingen/Rom) organisierte deutsch-italienische Kongress statt, der die Geschichte der Protestbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre einschließlich ihrer gewaltsamen Formen aus länderübergreifender Perspektive in den Blick nahm. Jenseits der Konstatierung oberflächlicher Analogien zwischen deutschen und italienischen Fällen sollten Parallelen und Unterschiede herausgearbeitet sowie Fragen der gegenseitigen Wahrnehmung und Beeinflussung zum Gegenstand der historischen Analyse gemacht werden.

Nach den Eröffnungsworten des Gastgebers GIAN ENRICO RUSCONI (Trient) hielt LUTZ KLINKHAMMER (Rom) ein ambitioniertes Einleitungsreferat, welches sich dem Vergleich der Nachkriegsentwicklung in Italien und der Bundesrepublik widmete. Für beide Gesellschaften relativierte Klinkhammer den Bruch von 1945 mit dem Hinweis auf zahlreiche „Brücken“ zwischen faschistischer Vergangenheit und Nachkriegszeit. Gemeinsam war beiden Ländern außerdem die christdemokratische Dominanz in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten und die starke wirtschaftliche und militärische Westbindung. Während jedoch in der Bundesrepublik früh die nationalsozialistische Nachfolgepartei SRP und bald auch die kommunistische KPD verboten worden waren, blieb das Parteienspektrum in Italien über mehr als vier Jahrzehnte von einer starken kommunistischen Partei einerseits und dem neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) andererseits eingerahmt. Dabei zeichnete sich das Vorgehen der Christdemokraten seit den Zeiten des Nachkriegsministerpräsidenten De Gasperi durch eine Doppelstrategie aus Verbotsdrohung und Hegung des MSI aus, um diesen als Kraft gegen den kommunistischen PCI instrumentalisieren zu können. Klinkhammer machte in diesem ungleich größeren politischen Spannungsbogen in Italien eine wesentliche Ursache für die ungewöhnlich heftigen und lang andauernden sozialen Konflikte der 1960er- und 1970er-Jahre aus. Während der gesellschaftliche Veränderungsdruck der späten 1960er-Jahre in der Bundesrepublik ein Ventil im Machtwechsel hin zur sozialliberalen Koalition gefunden habe, sei südlich der Alpen weiterhin der politische Transformismus dominant geblieben. Daneben verwies Klinkhammer auf die weit schwieriger bestimmbare Bedeutung säkularer Trends für die Entwicklung sozialer Bewegungen in beiden Ländern.

Anschließend eröffnete HANS WOLLER (München) die erste Sektion, nicht ohne zuvor vor der Tendenz zu warnen, einseitige italienische „Anomalien“ zu konstruieren. Stattdessen solle die Nachkriegsentwicklung Italiens als Eingliederungsprozess in eine europäische „Normalität“ betrachtet werden.

DIEGO GIACHETTI (Turin) analysierte in seinem Vortrag die Entstehung eines 'Jugendproblems' im Italien der 1960er-Jahre: Vor dem Hintergrund der raschen Industrialisierung und Urbanisierung Italiens ab 1958 sowie der starken Binnenmigration habe sich eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie zwischen den Generationen entwickelt, die sich einerseits politisch, andererseits aber auch jugendkulturell manifestiert habe. Die scheinbar unpolitischen Jugendlichen der frühen sechziger Jahre hätten bereits 1960 (vor dem Hintergrund der Formierung einer Rechtsregierung unter Ministerpräsident Tambroni) eine hohe Mobilisierungsbereitschaft entwickelt, die von den Medien und bald auch von der traditionellen Linken rasch negativ bewertet worden sei. Von diesen frühen Momenten spontaner politischer Jugendgewalt schlug Giachetti einen Bogen zur späteren Eskalation, für welche die Straßenschlachten in Rom des Jahres 1968 sowie das neofaschistische Massaker auf der Mailänder Piazza Fontana im Dezember 1969 als wesentliche Wendepunkte anzusehen seien. Anfangs durchaus vorhandene pazifistische Strömungen seien zunehmend marginalisiert und Gewalt schließlich als bewusste Strategie zur Verteidigung kollektiver Handlungsräume einkalkuliert worden. Nicht zu unterschätzen sei dabei die „symbolische und therapeutische Dimension“, die die Gewalt für manche Jugendliche entwickelt habe.

MARCO GRISPIGNI (Brüssel) verwies in seinem Kommentar darauf, dass gerade die von Giachetti zentral gesetzte Generationenfrage es erlaube, produktiv zwischen einer modernisierungstheoretischen und einer politikzentrierten Lesart von 1968 zu vermitteln. Um die Gewalt der Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre zu erfassen, sei es notwendig, die Konflikte als Produkte einer Interaktion zu begreifen, in der die Staatsseite sowohl in der Bundesrepublik als auch in Italien mit extremer Härte reagiert habe, wobei die „dramatische Besonderheit“ der Mailänder Bombe auf der Piazza Fontana gleichwohl hervorzuheben sei. Gleichzeitig müsse die massenhafte Gewalt der sozialen Bewegungen auf ihre subkulturelle Färbung hin untersucht werden und im Anschluss an Pizzorno als identitätsstiftender Akt begriffen werden.

DIETMAR SÜSS (Jena) hob hervor, dass ein Großteil der deutschen 68er eben nicht den Weg der Radikalisierung und Gewalt beschritten habe. Zwar habe die Gewaltfrage spätestens seit dem Tod Benno Ohnesorgs am 2.Juni 1967 im SDS eine zentrale Rolle gespielt, wobei Praktiken gezielter Regelverletzung dazu dienen sollten, das 'autoritär-faschistische' Gesicht des Staates zu enthüllen. Als sich der SDS im Frühjahr 1970 auflöste, habe sich die Mehrheit seiner Anhängerschaft aber nicht den so genannten K-Gruppen angeschlossen, sondern sich vielmehr auf den 'Langen Marsch durch die Institutionen' begeben, wobei die Gewaltfrage eine Art unsichtbarer Trennlinie zwischen den Strömungen gewesen sei. Ein großer Teil dieser politisierten Generation sei schließlich in die SPD eingetreten und habe dort für parteiinterne und gesamtgesellschaftliche Reformen gekämpft. Dieser Generationenwechsel habe die Partei in der Folge inhaltlich erheblich geprägt.

BRUNELLO MANTELLI (Turin) verwies in diesem Zusammenhang auf einen Phasenwechsel der gegenseitigen Wahrnehmung und Beeinflussung zwischen der italienischen und der deutschen Studentenbewegung: Auf eine Phase des 'Germania docet', in welcher der SDS eine Vorbildfunktion gerade für die Aktivisten an norditalienischen Universitäten wie Trient oder Turin gehabt habe, sei eine Phase des 'Italia docet' gefolgt, in welcher die breite Zusammenarbeit von Studenten und Arbeitern im 'heißen Herbst' 1969 ein Modell für große Teile der deutschen Studentenbewegung dargestellt habe. Zudem machte Mantelli deutlich, dass es in Italien kein Pendant zu den Jusos gegeben habe, da die kommunistische Jugendorganisation nie einen derartigen Resonanzraum für die Anliegen der sozialen Bewegungen dargestellt habe.

FABRIZIO FIUME (Mailand) untersuchte in seinem Vortrag die Ideologie zweier zentraler Gruppen der Neuen Linken in Italien - Lotta Continua und Potere Operaio – zu Beginn der 1970er-Jahre. Fiume vertrat dabei die These, dass ab 1970 das Konzept eines prinzipiell schon in der Gegenwart möglichen bewaffneten Kampfes der Massen in der Rhetorik der beiden Gruppen zunehmend die utopische Idee einer Revolution in mehr oder minder ferner Zukunft abgelöst habe. Dabei sei zunehmend nicht mehr auf Vorbilder aus der Dritten Welt rekurriert worden, sondern auf den Konflikt in Nordirland. Während allerdings Potere Operaio auf eine direkte Übertragung der nordirischen Verhältnisse gesetzt habe und dementsprechend auch die frühen Aktionen der Roten Brigaden (BR) und der von Giangiacomo Feltrinelli ins Leben gerufenen Gruppi di Azione Partigiana (GAP) positiv bewertete, habe Lotta Continua lediglich eine Art "virtueller Simulation" durchgeführt, da die Gegenwartsanalyse der Gruppe stets stärker politisch als militärisch ausgerichtet gewesen sei.

Anschließend hielten CHRISTOPH CORNELIßEN (Kiel) und FRANCO MILANESI (Turin) zwei Vorträge zu den "Hochburgen des studentischen Protests in Deutschland und in Italien". Cornelißen verwies zu Beginn seines Vortrags auf die Bedeutung der kulturgeschichtlichen Wende in der Forschung zu 1968: Einerseits habe diese zu einer Entzauberung tradierter Mythen beigetragen, andererseits aber drohe ´68 bei einer Überbetonung der säkularen Trends auf eine Katalysatorfunktion reduziert zu werden. Anschließend ging Cornelißen auf drei wesentliche Aspekte von 1968 in der Bundesrepublik ein: Den rasanten Strukturwandel der deutschen Universitäten in den 1960er-Jahren als Möglichkeitsbedingung von 1968, die Topographie als bisher noch stark vernachlässigten Faktor im Verhältnis von meist großstädtischen Hochburgen und oft provinziellen "Nebenburgen" des studentischen Protests sowie den studentischen Protestdiskurs und die Reaktionsmuster von Staat und Öffentlichkeit. Dass die örtlichen Verhältnisse selbst in den heißen Monaten der Studentenproteste den Verlauf der Dinge erheblich beeinflussen konnten, zeige nicht zuletzt die Bereitschaft zur Ausübung von Gewalt. Zwar gaben auch auf diesem Feld die Hochburgen ein „Modell“ ab, aber die Nachahmer in den Nebenburgen agierten auf beiden Seiten, die Studierenden auf der einen Seite, die Polizei auf der anderen Seite, insgesamt zurückhaltender.

Milanesi kritisierte in seinem Vortrag zunächst die einseitige Konzentration auf die Frage nach der Kontinuität zwischen ‚1968’ und den „bleiernen“ 1970er-Jahren, die vieles von der Komplexität der Bewegung verdecke. Anschließend benannte er die Reformdefizite des italienischen Hochschulsystems in den 1960er-Jahren als wesentliche Voraussetzung von 1968. Der Studentenprotest in Italien, zusammengesetzt aus einer linkskatholischen und einer in sich heterogenen marxistischen Strömung, sei zu einem frühen Zeitpunkt hochgradig politisiert gewesen. Mehrheitlich habe man sich als Teil des Proletariats gesehen und keine Reform, sondern eine Revolution im Sinne einer fortschreitenden Erosion der existierenden Machtverhältnisse angestrebt. Vor dem Hintergrund der revolutionären Ziele habe sich in der Studentenschaft während und nach dem ‚Heißen Herbst’ ein strategischer Konflikt um die Ein- bzw. Unterordnung der Bewegung unter die Arbeiterschaft oder die Entwicklung eigener Kämpfe im Bildungsbereich entwickelt.

Der Soziologe ENZO RUTIGLIANO (Trient) steuerte einen Beitrag zur Sonderstellung der Studentenproteste an der sozialwissenschaftlichen Reformuniversität Trient bei, welche sich aus der engen Verbindung mit dem deutschen SDS und der Pariser Studentenbewegung ergeben habe. Folge dieser Verbindungen sei der dezidiert antiautoritäre Charakter der Trentiner Bewegung gewesen, die der feministischen, der ökologischen sowie der Homosexuellen-Bewegung Italiens entscheidende Impulse gegeben habe. Rutigliano entwarf ein stark autobiographisch gefärbtes Bild von der Situation an der soziologischen Fakultät, deren Präsident Francesco Alberoni für emanzipatorische Reformen offen gewesen sei. Nach 1969 sei die Bewegung jedoch zunehmend marxistisch-leninistisch hegemonialisiert worden, was schließlich zur Spaltung und zum Ende des progressiven Experiments an der Fakultät geführt habe.

ALFONS KENKMANN (Leipzig) ging in seinem Kommentar auf mögliche Dimensionen eines deutsch-italienischen Vergleichs ein. Zunächst nannte er die Bildungskrise und den entsprechenden Reformbedarf in beiden Ländern, wobei die Bundesrepublik in den 1960er-Jahren hinsichtlich einiger wichtiger Indikatoren wie Abiturquote, Bildungsausgaben und Zugangsbeschränkungen noch hinter Italien rangiert habe. Zweitens rekurrierte Kenkmann auf das Verhältnis von Arbeitern und Studenten, welches nur in Italien zu einer dauerhaften Verbindung geworden sei. Eine weitere Ebene betrifft die in der bisherigen Forschung zu wenig berücksichtigte Topographie des Studentenprotests, aber auch die Frage nach dessen Verankerung in einem konfessionell geprägten Milieu. Als letzten Punkt ging Kenkmann auf die in beiden Ländern verbreitete Furcht vor einer 'Refaschisierung' der politischen Systeme ein.

Der Kommentar SIMONE NERI SERNERIS (Siena) wandte sich gegen eine Dichotomisierung kultureller und politischer Faktoren in der Analyse von 1968. Hinsichtlich der Ursachen der Gewalteskalation in Italien betonte Neri Serneri noch einmal, dass die Haltung, Politik sei nicht als Aushandlungsprozess, sondern als Kampf zu verstehen, nicht alleine von der sozialen Bewegung ausgegangen, sondern ihr auch vom italienischen Staat aufoktroyiert worden sei. Außerdem sei es wichtig, die große Vielfalt der Positionen zur Gewaltfrage in der Neuen Linken Italiens im Einzelnen zu analysieren und nicht fälschlich zu homogenisieren.

MARCO SCAVINO (Turin) dekonstruierte in seinem Vortrag die Vorstellung von den Arbeiterkämpfen der Jahre 1968/69 als plötzlichem Wendepunkt. Dem 'heißen Herbst' von 1969 sei vielmehr ein wenig idyllisches Jahrzehnt vorausgegangen, in dem sich vor dem Hintergrund einer rasanten sozioökonomischen Modernisierung eine spezifische Konfliktkonstellation entwickelt habe: Eine vom Nachkriegsboom geprägte, häufig durch Binnenmigration aus traditionellen Bindungen gelöste junge Arbeitergeneration habe nicht nur gegen den Fabrikalltag, sondern auch gegen gewerkschaftliche Hierarchien aufbegehrt. Zugleich seien links vom PCI Netzwerke von Dissidentengruppen und -Zeitschriften entstanden. Für die Vehemenz und rasche Ausbreitung der Arbeitermilitanz 1969 sei schließlich der Kontakt vor allem zur Mailänder und Turiner Studentenbewegung ausschlaggebend gewesen. Der letztlich erfolgreiche Versuch der Gewerkschaften, die Kontrolle über die Arbeiterkämpfe wiederzuerlangen und die Revolutionshoffnungen der extremen Linken abzublocken, habe seinen Preis gehabt: In den Fabriken habe man der Basis mit ihren radikalen Forderungen und Aktionsformen relativ große Spielräume eingeräumt, was zu der permanenten Konflikt- und Krisensituation der 1970er-Jahre erheblich beigetragen habe.

Der Kommentar von WINFRIED SÜß (Potsdam) stellte die italienischen Arbeiterproteste in einen europäischen Kontext. Zunächst konstatierte Süß, dass das italienische '68 mit seiner hohen Konfliktbereitschaft unter den Arbeitern gerade im Vergleich mit den übrigen romanischen Ländern keineswegs ein Sonderfall gewesen sei: entsprechend gelte es, das dominante Bild eines studentischen ´68 um seine proletarische Dimension zu erweitern. Den etwa 7,5 Millionen Streikenden während des ‚heißen Herbstes’ in Italien standen in der Bundesrepublik allerdings gerade einmal 140.000 Arbeiter gegenüber, die sich im September 1969 an der kurzen Welle basisbestimmter Montanstreiks beteiligten. Gleichwohl, so Süß, habe diese Streikbewegung die Gewerkschaftsstrategie der nächsten Jahre nachhaltig beeinflusst. Zur Erklärung der prinzipiell unterschiedlichen Rolle der Arbeiterschaft in der italienischen und deutschen Protestbewegung verwies Süß auf die Ergebnisse Marica Tolomellis: Anders als in Italien habe man nördlich der Alpen die Arbeitsbeziehungen eben nicht grundsätzlich konflikthaft, sondern im Rahmen einer weitgehend verrechtlichten Sozialpartnerschaft gedeutet.

Der Soziologe DAVIDE LA VALLE (Trient) stellte anschließend die Frage, ob 1968 eher als Ende eines alten oder als Auftakt eines neuen Zyklus zu verstehen sei. Er interpretierte die Ereignisse als Scharnier zwischen traditioneller Industriegesellschaft und einer postindustriellen Welt, die sich durch ungleich höhere Komplexität und Fluidität auszeichne.

Der Beitrag von ALDO SABINO GIANNULI (Bari) blieb durch den krankheitsbedingten Ausfall von Wolfgang Kraushaar (Hamburg) leider ohne deutsches Pendant, was – wie Petra Terhoeven anmerkte – die Gefahr einer einseitigen Konzentration auf die Dysfunktionalitäten des italienischen Systems barg. Giannuli ordnete in seinem differenzierten Beitrag die so genannte "Strategie der Spannung" zunächst in den internationalen Kontext der umkämpften Entspannung zwischen den Supermächten zwischen 1960 und 1975 ein. Anschließend machte er deutlich, wie eine militant-antikommunistische "NATO-Partei" innerhalb des italienischen Staatsapparats die extreme Rechte gegen PCI und soziale Bewegungen instrumentalisiert habe und wie diese Auseinandersetzung von den verschiedenen Teilen des politischen Spektrums entsprechend der eigenen politischen Strategie unterschiedlich gedeutet worden sei: von den Exponenten der "NATO-Partei" als Konflikt zwischen Kommunismus und Antikommunismus, vom PCI als Auseinandersetzung von Faschismus und Antifaschismus, von den Exponenten der Neuen Linken als Konflikt zwischen revolutionärer Bewegung und kapitalistischem System.

BRUNELLO MANTELLI unterstrich in seinem Kommentar, dass Giannulis Interpretation der "Strategie der Spannung" insofern innovativ sei, als sie nicht wie üblich eine Parallelgeschichte der Massaker konstruiere, sondern diese in eine allgemeine Politikgeschichte Italiens im internationalen Kontext der Nachkriegszeit integriere. Zudem verwies er darauf, dass die grundsätzlichen Unterschiede zwischen solchen Akteuren innerhalb der Protestbewegung, die Massenmilitanz praktizierten, und solchen, die Untergrundorganisationen aufbauten, im Begriff des bewaffneten Kampfes zu verschwimmen drohten. Abschließend unterstrich Mantelli, dass soziale Komponenten wie die Marginalisierung gerade der großstädtischen Jugend wichtige, im bisherigen Verlauf der Tagung unterbelichtete Erklärungsfaktoren für die Gewaltförmigkeit des sozialen Protests in Italien darstellten.

In der letzten Sektion wurden Fragen des Vergleichs, aber auch der Wahrnehmung und Beeinflussung in den Mittelpunkt gerückt. PETRA TERHOEVEN (Göttingen/Rom) interpretierte die Terrorakte der RAF als destruktiven Kern eines Kommunikationsprozesses, dessen transnationale Dimension bislang weitgehend vernachlässigt worden sei. Spätestens seit 1974 habe der deutsche Linksterrorismus und die Frage seiner adäquaten Bekämpfung auch international große Aufmerksamkeit erregt, wobei die Auslandswahrnehmung durch bestimmte Deutungsmuster bzw. Perzeptionsfilter vorstrukturiert gewesen sei, die sich nur zum Teil mit den deutschen deckten. Gerade in solchen Ländern mit traumatischen Besatzungserfahrungen im Zweiten Weltkrieg schien sich die Frage nach Bruch oder Kontinuität der Bundesrepublik zum ‚Dritten Reich’ angesichts der terroristischen Herausforderung neu zu stellen. Dazu kam die breit geteilte Annahme einer Vorreiterfunktion Westdeutschlands für zukünftige gesamteuropäische Entwicklungen. Alle Akteure agierten vor dem Hintergrund spezifischer innenpolitischer Auseinandersetzungen, innerhalb derer die Vorgänge im Nachbarland instrumentalisiert zu werden drohten. Terhoeven illustrierte diese Befunde anhand der bemerkenswert heftigen Reaktionen, die die so genannte ‚Todesnacht von Stammheim’ 1977 in Italien auslöste, wobei sie besonders die Bedeutung deutscher Mittlerfiguren hervorhob.

GIAN ENRICO RUSCONIS Kommentar bezeichnete das Jahr 1977 als außerordentlich traurigen Moment der deutsch-italienischen Beziehungsgeschichte, wofür er vor allem das Versagen der italienischen, aber auch einiger deutscher Intellektueller verantwortlich machte.

MARICA TOLOMELLI (Bologna) verglich in ihrem Beitrag die Reaktionsmuster der jeweiligen nationalen Öffentlichkeiten auf die Entführung Hanns-Martin Schleyers 1977 und die Verschleppung Aldo Moros ein halbes Jahr später. Trotz des beiderseits der Alpen verbreiteten Gefühls einer existenziellen Krise der jeweils bestehenden Ordnung seien doch auch wesentliche Unterschiede feststellbar: Während etwa in der Bundesrepublik die außerparlamentarische Linke in ihrer (selbst)kritischen Auseinandersetzung mit der RAF weitgehend isoliert vom Rest der Gesellschaft gewesen sei, habe der Konflikt zwischen Roten Brigaden und Staat in Italien die Arbeiterbewegung direkt berührt. In Deutschland habe gewissermaßen eine stille Übereinkunft zwischen Institutionen und Bevölkerung bestanden, dass letztere keinen Einfluss auf den Verlauf der Auseinandersetzung nehmen solle. In Italien hingegen sei die Bevölkerung unter anderem von Seiten der Gewerkschaften zur Unterstützung der Institutionen gegen die BR aufgefordert worden, was zu einer breiten Mobilisierung geführt habe.

Den Veranstaltern ist es gelungen, einen ausgesprochen anregenden und produktiven Austausch zwischen italienischen und deutschen Wissenschaftlern/innen über den gesellschaftlichen Protest der 1960er- und 1970er-Jahre zu initiieren. Gerade ihre Entscheidung, auf die Formulierung gleichlautender Fragen für die jeweils vortragenden Wissenschaftler/innen aus den beiden Ländern zu verzichten, erwies sich als gewinnbringend, da so die Vielfalt der Perspektiven, Fragestellungen und Methoden deutlich wurde, mit denen man sich den gesellschaftlichen Konflikten dieser Jahre in beiden Ländern bislang genähert hat. Im Verlauf der Konferenz kristallisierten sich einige Aspekte heraus, die gewissermaßen als Basis für einen produktiven vergleichenden Blick auf die sozialen Bewegungen der beiden Länder gelten können: Spektakuläre Höhepunkte des Sozialprotests wie '68 müssen in längere Zyklen vielfältiger Bewegungsdynamiken vor dem Hintergrund säkularer Modernisierungstendenzen und ihrer Widersprüche eingeordnet werden, wobei kulturelle und politische Lesarten kombiniert werden sollten. In Bezug auf '68 sollte dabei keine Verengung auf studentische Trägerschichten des Protests erfolgen, sondern auch andere jugendliche und proletarische Akteursgruppen einbezogen werden. Statt von der weitgehenden Homogenität der Bewegung und der relativen Kontinuität ihrer Entwicklung auszugehen, sollten eher Heterogenität und Diskontinuitäten akzentuiert werden. Um die Unterschiedlichkeit von '68 in Italien und der Bundesrepublik zu erklären, müssen sowohl strukturelle Differenzen des juridischen, politischen und ökonomischen Systems als auch Unterschiede im Bereich des kollektiven Imaginären einbezogen werden. Die Konjunkturen gegenseitiger Beeinflussung und Bezugnahme der Bewegungen in den beiden Ländern gliederten sich in verschiedene Phasen und folgten oft einer unterschwelligen Logik, welche nur durch detaillierte Analyse zutage zu fördern ist. Es wäre dringend zu wünschen, dass die zahlreichen Anregungen und Impulse dieser Veranstaltung Interessierten in beiden Ländern in Form eines Tagungsbandes zugänglich gemacht werden.


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