Bibliotheken im Altertum

Bibliotheken im Altertum

Organisatoren
Prof. Dr. Elke Blumenthal, Leipzig; Prof. Dr. Wolfgang Schmitz, Köln
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.11.2007 - 14.11.2008
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Von
Werner Arnold, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Der Forschungsstand für die Bibliotheken der Antike ist im Grunde gut aufgearbeitet und regelmäßig aktualisiert worden. Die vier ersten Kapitel (Vorderorient; Griechenland-Rom; Byzanz; Islam) in Band 3 des Handbuchs der Bibliothekswissenschaft bilden nach wie vor eine sehr gute inhaltliche Grundlage.1 Der Artikel „Bibliotheken“ in der RE liefert einen Überblick über die Arbeiten unter internationaler Perspektive2; R. Fehrles Darstellung über Rom ist informativ und konzis3, und der gleiche Nutzen lässt sich aus L. Cassons Buch „Libraries in the Ancient World“ ziehen, in dem erneut die gesamte Bibliothekswelt der Antike abgehandelt wird.4 Die bibliographische Tradition der griechischen und lateinischen Literatur hat R. Blum umfassend behandelt.5 Der Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter ist am Beispiel Augustinus‘ durch J. Schulz dargestellt worden.6 R. Pfeiffers Standardwerk über die klassische Philologie7 ist durchgängig eine Geschichte der literarischen Überlieferung und ihrer Aufbewahrungsorte, der Bibliotheken, die in der alten Welt Institutionen der praktischen Anwendung des gesammelten Wissens für die Ausbildung, vor allem die Rhetorik, darstellten.8

An diese Tradition knüpfte das Symposion des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte zum Thema: „Bibliotheken im Altertum“ an, das unter der Leitung von Elke Blumenthal (Leipzig) und Wolfgang Schmitz (Köln) vom 12. bis zum 14. November 2007 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel veranstaltet wurde. Alle Disziplinen der Altertumswissenschaften – Philologie; Archäologie; Assyriologie; Ägyptologie; Islamwissenschaft und Byzantinistik – waren vertreten und die entsprechenden Referate zeigten durch die Ergebnisse die Aktualität der Thematik.

WOLFGANG SCHMITZ skizzierte in seiner Einleitung die Fragestellungen zu den Gebieten Bestandsaufbau, Verwaltung und Benutzung sowie Beschaffung und Herstellung von Texten. Die erste Antwort lieferte STEFAN M. MAUL (Heidelberg) zum Thema: „Altorientalische Tontafelbibliotheken in Privathäusern, Tempeln und Palästen.“ Er beschrieb die Ergebnisse eines unter seiner Leitung auf dem Gebiet des historischen Assur durchgeführten Ausgrabungsprojekts, in dessen Zusammenhang eine Tontafelbibliothek rekonstruiert wurde. Wichtige Informationen enthalten die Kolophone, die Notizen der Schreiber, zu unterschiedlichen Gesichtspunkten: Vorschriften über die Durchführung von Zeremonien, Zusammenstellungen der den Göttern darzubringenden Opfergaben, apotropäische Formeln, Schilderung von Krankheitssymptomen und Medikamente gegen Erkrankungen sowie Bestimmungsbücher für Heilpflanzen. Neben der Überlieferung für die Lebenspraxis fanden sich Abschriften von Texten kanonischer Tradition, die auf göttlichen Ursprung zurückgeführt wurden. Die in den „Tafelhäusern“ ausgebildeten Schreiber waren gesellschaftlich hoch geachtet und gehörten über mehrere Generationen einer Familie an. Aufgrund einzelner Daten kann die von Maul bearbeitete Sammlung in das 7. Jh. v. Chr. datiert werden (Assur wurde 614 v. Chr. durch die Meder zerstört).

ELKE BLUMENTHAL befasste sich mit dem schwierigen – da durch Quellen unzureichend gesicherten – Thema: „Privater Buchbesitz im pharaonischen Ägypten“, der Zeitraum ihrer Untersuchung reichte vom 3. Jahrtausend bis zur Eroberung Ägyptens durch Alexander den Großen im 4. Jh. v. Chr. Privater Buchbesitz wurde in den Gräbern von Beamten gefunden: literarische Traditionen, magische und rituelle Anweisungen, Onomastiken, medizinische Hinweise, administrative Mitteilungen und auch Texte von Schülern. Über die Entstehung der Sammlungen ist nichts bekannt, ihre Zusammensetzung ist zufällig, und es finden sich keine Hinweise zu systematisch verwalteten Privatbibliotheken. Die lesefähige Bevölkerung bezifferte Blumenthal auf bis zu fünf Prozent. Die Schreiber, sie stammten aus dem Mittelstand, gehörten – wie in den mesopotamischen Reichen – zur Bildungselite.

Die Überlieferungsgeschichte des Alten Testaments ist gut dokumentiert.9 Der Alttestamentler UDO RÜTERSWÖRDEN (Bonn) verwies in seinen „Erwägungen zur Textüberlieferung im Alten Israel“ auf die Schwierigkeiten der Tradition. Es liegen keine archäologischen Spuren von Schulgebäuden vor. Die Schriftlichkeit wurde vermutlich nach dem Famulus-Prinzip vom Vater auf den Sohn vermittelt. Neben der schriftlichen Überlieferung der Prophetensprüche ist mündliche Weitergabe anzunehmen. Das AT wurde in der Bibliothek von Alexandria aufbewahrt, zur Gründungsgeschichte der Septuaginta verwies der Referent auf den Aristeas-Brief.10 Die bedeutenden Funde in den Höhlen von Qumran – die Lagerung in Höhlen kann als Sicherungsverwahrung von Handschriften interpretiert werden – haben die Textüberlieferung des Alten Testaments auf neue Grundlagen gestellt.

Philologisch reflektiert und durch die Quellen kontrolliert beschrieb CARL WERNER MÜLLER (Saarbrücken) „Griechische Büchersammlungen und Bibliotheken vom 6. Jh. v. Chr. bis in hellenistische Zeit“. Als Mitherausgeber der von der Mainzer Akadmie getragenen Platon-Ausgabe mit der Materie eng vertraut, entwickelte Müller am Beispiel der literarischen Tradition den Kontext von Schriftentwicklung und Bibliothek. Zeugnisse für Bibliotheken sind erst seit dem 5. Jh. v. Chr. vorhanden, während für die ältere Zeit Büchersammlungen angenommen werden müssen, aber nicht belegbar sind; allerdings hätte auf andere Weise die Überlieferung der Epen Homers, der Werke Hesiods und Sapphos kaum stattfinden können. Für die Homer-Tradition kommt Athen seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert eine zentrale Rolle zu, und Müller vermutet, dass dort der Bevölkerung Bibliotheken zur Verfügung standen. Die Annahme, dass Platons Akademie eine Bibliothek besaß, besitzt Wahrscheinlichkeit, während Aristoteles‘ systematisches Sammeln von Büchern bezeugt ist. Für die griechische Literatur der Antike stellte die Bibliothek von Alexandria den Hauptort der Sammlungen dar. Dieses kulturelle Zentrum des alten Mittelmeerraums stand im Mittelpunkt des Vortrags von ANGELIKA ZDIARSKY (Wien) („Die Bibliothek von Alexandria im Spiegel der Papyri“), in dem die Referentin versuchte, die Funktion der Bibliothek nach modernen Gesichtspunkten – Bestandsaufbau; Erschließung; Bestandsgröße und Benutzungsschwerpunkte – zu erklären. Sichere Aussagen zu Kauf, Kopie, Überlieferung, zur Benutzung und Entleihung bestimmter Werke scheitern jedoch an der fragmentarischen Überlieferung der Quellen.

Zurück zu den archäologischen Quellen führte die Untersuchung von LILIAN MAUL-BALENSIEFEN (Berlin/ Heidelberg) „Zur Funktion und Bedeutung der Bibliotheken in römischen Thermenanlagen“, in der sie die oft luxuriöse Ausstattung der Thermen aus der Kaiserzeit (Trajan, Caracalla, Diokletian) mit Lagerungsmöglichkeiten für Buchrollen diskutierte. Die Anlagen besaßen eine Ausdehnung, die an viele gleichzeitige Benutzer denken lässt. Ganz offensichtlich gehörten die Bibliotheken in den Thermen zum Angebot des „otium“, der Mußezeit für Bildungszwecke. Die Ordnung der Schriftrollen lässt eine Differenzierung nach griechischer und lateinischer Literatur erkennen, die Leitung der Bibliotheken lag bei Gelehrten. Neben der Literatur wurden Kunstwerke ausgestellt, so dass die Interpretation naheliegt, dass auch die Thermen Roms Größe und Herrschaftsanspruch repräsentieren und als Teil der römischen Identität verstanden werden sollten.

Die beiden folgenden Referate von GERHARD ENDREß (Bochum) und PETER SCHREINER (Köln) legten mit aller Deutlichkeit die Bedeutung der ehemaligen römischen Provinzen für die Überlieferung der griechischen Literatur dar. Endreß („Neue Leser für alte Bücher: Lehrüberlieferung, Textüberlieferung und die Bewahrung des antiken Erbes in den Bibliotheken des arabisch-islamischen Kulturraums“) erläuterte, wie das Corpus Aristotelicum und die Werke der Peripatetiker nach der Zerstörung der Bibliothek von Alexandria in den Institutionen des arabischen Sprachraums bewahrt wurde. Möglicherweise hat zur Erhaltung auch beigetragen, dass die Bibliotheken der Kalifen nicht öffentlich im Sinne allgemeiner Zugänglichkeit waren und auch nicht der Forschung dienten. Schreiner („Aspekte der Tradierung der antiken griechischen Literatur in Byzanz“) gab einen umfassenden Überblick über die Rolle Byzanz‘ bei der Bereitschaft, die griechische Tradition zu rezipieren und zu bewahren, auch wenn Griechisch als Sprache nur eingeschränkt verstanden wurde. Wichtig für den Erhalt war die Stadtkultur im 3. und 4. Jahrhundert, denn nach dem Untergang der Städte konnten Handschriften, die nicht etwa bis zum 7. Jahrhundert in Konstantinopel oder in einem Kloster aufgenommen waren, nicht überleben. Auch durch Abnutzung des Papyrus sind bereits bis zum Anfang des 6. Jahrhunderts viele Dokumente zerstört worden. Texte, die aus der Majuskel in die Minuskel umgeschrieben wurden (Einheitlichkeit der Schrift; schnelleres Kopieren), besaßen gute Chancen der Erhaltung, während nicht umgeschriebene Werke nicht mehr gepflegt und vergessen wurden. Konstantinopel war das reichste Zentrum antiker Literatur und erlitt durch Zerstörungen bei Katastrophen erhebliche Verluste an griechischen Quellen, die nicht quantitativ zu beziffern sind. Eine Sonderform der Überlieferung findet sich auf Palimpsesten, die für theologische, mathematische und auch literarische Werke bedeutend war. Auch nach der Eroberung Konstantinopels 1453 wurde die Kopistentätigkeit bis ins 16. Jahrhundert hinein fortgesetzt.

MICHELE C. FERRARI (Erlangen) erörterte die Arbeit Cassiodors und seines Klosters Vivarium („‚Manu hominibus predicare‘. Cassiodors Vivarium im Zeitalter des Übergangs“). Mit der Zerstörung des Orts sind auch die Quellen untergegangen, so dass im Grunde kaum genaue Vorstellungen über die Wirksamkeit in Vivarium gesichert sind. Cassiodor ließ die wichtigen Texte sammeln und zusammenfügen. Da griechische Sprachkenntnisse bereits in der späten Antike auf einzelne Gruppen beschränkt waren, wurden nichtlateinische Werke übersetzt. Sein Streben nach philologischer Exaktheit spiegelt sich in der Empfehlung, den Bibeltext unaufhörlich zu revidieren, um die „Wahrheit“ des Textes zu erreichen.

ARMIN SCHLECHTER (Heidelberg) beschloss die Tagung mit einer Bestandsbeschreibung der „Klassische(n) lateinische(n) Literatur in der Bibliotheca Palatina“. Die Palatina wurde,wie alle Fürstensammlungen, aus dem Netzwerk gebildet, was ein früher Katalog (1466) und der Bestand des 16. Jahrhundert von circa 6.400 Titeln erkennen lassen; in dieser Zahl sind etwa 60 Werke der klassischen Antike enthalten, was zunächst eigentlich keine große Menge darstellt. Wertvolle Handschriften gelangten über die Lorscher Bibliothek in den Bestand, aber der wirklich große Zuwachs an klassischen Autoren kam erst mit der Bibliothek Ulrich Fuggers nach Heidelberg, die 1584 integriert wurde. Viele Handschriften aus Fuggers Besitz wurden im 14./ 15. Jahrhundert in Italien hergestellt und zeigen die Blütezeit der Renaissance, die mit diesem und ähnlichen Transfers den Norden in ihren Einflussbereich nahm.

Kurzübersicht:

Wolfgang Schmitz (Köln): Begrüßung und Einführung in das Thema
Stefan Maul (Heidelberg): Altorientalische Tontafelbibliotheken in Privathäusern, Tempeln und Palästen
Elke Blumenthal (Leipzig): Privater Buchbesitz im pharaonischen Ägypten
Udo Rüterswörden (Bonn): Erwägungen zur Textüberlieferung im Alten Israel
Carl Werner Müller (Saarbrücken): Griechische Büchersammlungen und Bibliotheken vom 6. Jh. v. Chr. bis in hellenistische Zeit
Angelika Zdiarsky (Wien): Die Bibliothek von Alexandria im Spiegel der Papyri
Lilian Maul-Balensiefen (Heidelberg): Zur Funktion und Bedeutung der Bibliotheken in römischen Thermenanlagen
Gerhard Endreß (Bochum): Neue Leser für alte Bücher: Lehrüberlieferung, Textüberlieferung und die Bewahrung des antiken Erbes in den Bibliotheken des arabisch-islamischen Kulturraumes
Peter Schreiner (Köln): Aspekte der Tradierung der antiken griechischen Literatur in Byzanz
Michele C. Ferrari (Erlangen): „Manu hominibus predicare“. Cassiodors Vivarium im Zeitalter des Übergangs
Armin Schlechter (Heidelberg): Klassische lateinische Literatur in der Bibliotheca Palatina

Anmerkungen:
1 Leyh, Georg (Hrsg.), Handbuch der Bibliothekswissenschaft. Begründet von Fritz Milkau. 2. Aufl., Wiesbaden 1955, Bd.3/1, S.1-242.
2 Cancik, Hubert; Schneider, Helmuth, Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Bd.2., Stuttgart, Weimar 1997, Sp.634-647.
3 Fehrle, Rudolf, Das Bibliothekswesen im alten Rom. Voraussetzungen, Bedingungen, Anfänge, Freiburg i.Br. 1986.
4 Casson, Lionel, Libraries in the Ancient World, New Haven and London 2001 (dt.: Bibliotheken in der Antike, Düssedorf u. Zürich 2002).
5 Bluhm, Rudolf, Kallimachos und die Literaturverzeichnung bei den Griechen. Untersuchungen zur Geschichte der Bibliographie, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 18 (1977), S. 1-360; ders., Die Literaturverzeichnung im Altertum und Mittelalter. Versuch einer Geschichte der Biobibliographie von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 24 (1983) S. 1-256.
6 Schulz, Jürgen, Buch und Bibliothek bei Augustinus, in: Bibliothek und Wissenschaft 12 (1978), S.14-114.
7 Pfeiffer, Rudolf, History of the Classical Scholarship, Bd.1-2, Oxford 1968, (Reprint 1978; dt.: Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, Reinbek b. Hamburg 1970).
8 Vgl. beisp. Dominik, William; Hall, Jon (Hrsg.), A Companion to Roman Rhetoric, Malden, MA 2007, S. 25ff. u. 294 f.
9 Stegmüller, Otto, Überlieferungsgeschichte der Bibel, in: Die Textüberlieferung der antiken Literatur und der Bibel (Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur, Bd.1I, München 1975, S. 152 ff (1. Aufl. Zürich 1961).
10 Stegmüller, Überlieferungsgeschichte, S. 160.


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