Vorwelten und Vorzeiten. Archäologie als Spiegel historischen Bewußtseins in der Frühen Neuzeit

Vorwelten und Vorzeiten. Archäologie als Spiegel historischen Bewußtseins in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel; Leitung: Dietrich Hakelberg und Ingo Wiwjorra (HAB); gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.11.2007 - 23.11.2007
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Von
Dietrich Hakelberg, Herzog August Bibliothek; Ingo Wiwjorra, Herzog August Bibliothek

Vom 20. bis 23. November 2007 fand im Bibelsaal der Herzog August Bibliothek unter der Leitung von Dietrich Hakelberg und Ingo Wiwjorra (beide Wolfenbüttel) das Arbeitsgespräch „Vorwelten und Vorzeiten. Archäologie als Spiegel historischen Bewusstseins in der Frühen Neuzeit“ statt. Das deutlich konstatierbare Interesse an ausgegrabenen materiellen Relikten antiker Völker in der Frühen Neuzeit und ihr Niederschlag in gedruckten Publikationen waren Anlass, dieses wissenschaftsgeschichtliche Phänomen transdisziplinär in den Blick zu nehmen. Die Tagung wurde durch die Fritz Thyssen Stiftung gefördert.

Das Arbeitsgespräch ging der leitenden Frage nach, warum die Gelehrten in der Frühen Neuzeit archäologisch tätig wurden, ausgruben und sammelten, wie archäologische Funde in der Zeit vor der Gründungswelle von Altertumsvereinen zu Beginn des 19. Jahrhunderts rezipiert wurden und womöglich die Vorstellung vor-historischer Epochen prägten. Untersuchungsgegenstand waren prähistorische, römische und mittelalterliche Funde bzw. Befunde in den Grenzen des Alten Reichs (einschließlich der Schweiz und Preußen). Das Arbeitsgespräch umfasste 21 Vorträge in sechs thematischen Sektionen.

In der ersten Sektion Einführungen und Überblicke fasste DIETRICH HAKELBERG (Wolfenbüttel) einleitend Motivationen und Fragestellungen zusammen und gab einen kritischen Überblick, der die fachinterne ‚Forschungsgeschichte‘ von einer Wissenschaftsgeschichte der Archäologie im kulturhistorischen Kontext absetzte. Wie am Beispiel von Gottfried Wilhelm Leibniz‘ archäologischen Forschungen zur Untersetzung seiner Welfengeschichte sichtbar, war die Rezeption archäologischer Funde als Geschichtsquelle für das ‚Herkommen‘ von Regionen oder politischen Einheiten in der Frühen Neuzeit von Bedeutung. Erzeugung und Anerkennung archäologischen Wissens lassen sich nur unter Berücksichtigung der historischen Rahmenbedingungen und Zusammenhänge untersuchen und nachvollziehen. Archäologische Praktiken im Kontext ihrer Zeit zu sehen erfordert es aber, die Quellen neu zu lesen. Das aus derartigen Überlegungen entstandene Digitalisierungs- und Erschließungsprojekt „Archäologische Funde in der Frühen Neuzeit. Publikationen zu archäologischen Funden im Gebiet des Alten Reichs, 1500-1800. Digitalisierung und exemplarspezifische Erschließung“ will die gedruckte Überlieferung für die Wissenschaftsgeschichte besser zugänglich machen. Vorgehensweise und Bearbeitungstand des Projektes wurden von INGO WIWJORRA (Wolfenbüttel) vorgestellt.
CORNELIA WOLLF (Berlin) fasste den Erkenntnisstand zur Beschreibung archäologischer Funde in frühneuzeitlichen Handschriften und Drucken zusammen und stellte dabei den Unterschied zwischen oberirdisch sichtbaren Geländedenkmalen und in der Erde verborgenen und ausgegrabenen Bodenfunden heraus. Da es eine archäologische Ur- und Frühgeschichtsforschung im heutigen Sinne noch nicht gab, bildet eine diesbezügliche ‚Fach’-Literatur keine schon in der Frühen Neuzeit definierte Einheit. Diese kann nur als ein retrospektiv zusammengestellter Kanon von Texten dargestellt werden. Daher sind zum Teil sachlich völlig unterschiedliche Textgattungen als Quellen einer archäologischen Forschungspraxis zu bibliographieren und zu dokumentieren.
In den Interessenkontext frühneuzeitlicher Eliten stellte GERRIT WALTHER (Wuppertal) die Altertumskunde, die damals unerforschtes Terrain voller Entdeckungen und Überraschungen war. Adelige lebten Geist und Stil eines Künstlers. Zu ihrem Selbstverständnis gehörte das Sammeln antiker Kunstwerke wie ausgegrabener Kuriositäten als Statussymbole. Altertumskunde war zudem ein Vehikel adeliger Libertinage, ohne die christlich-kirchlichen Werte allzu offensichtlich zu missachten.
Die Geschichte vor der ältesten schriftlichen Überlieferung, jenseits der Antike, stellte ein Problem für die frühneuzeitliche Historiographie dar. HELMUT ZEDELMAIER (München) zeigte, wie wenig archäologische Funde die Geschichtsphilosophie bis zum 19. Jahrhundert prägten. Eine verbreitete Skepsis sah die älteste vor-historische Geschichte als einen Bezirk ohne nachvollziehbare historische Signifikanz. Archäologische Forschungen und Funde besaßen weder für die engere Historiographie noch die philosophische Geschichte besondere Erklärungskraft. Voltaire beispielsweise hielt die Vorgeschichte für eine völlig uninteressante Epoche.
ALAIN SCHNAPP (Paris) stellte Urnen, Großsteingräber und Donnerkeile als häufig genannte und illustrierte Vertreter archäologischer Objekte schon zu Beginn der Renaissance in das Zentrum antiquarischen Interesses. Als Überreste alter Völker wurden solche archäologischen Objekte im Zeitalter der Entdeckungen wahrgenommen und für Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern des Polygenismus und des Monogenismus instrumentalisiert. Schnapp warb in diesem Zusammenhang für eine komparative Erforschung der Geschichte der Archäologie.

Die Suche nach Herkommen und Tradition erwies sich bei der Rezeption archäologischer Funde durch Adelsfamilien, Städte oder Klöster als ein häufig zu beobachtendes Motiv. HANS-RUDOLF MEIER (Dresden) exemplifizierte archäologisches Wissen in seiner Funktion als Herrschaftswissen frühneuzeitlicher Klöster, wo ausgegrabene Gebeine von Heiligen und Stiftern, Grabanlagen oder andere bedeutungsschwere Artefakte zum dinglichen Beweis ihrer frühesten Historizität stilisiert werden konnten. Die „Evidenz der Dinge“, etwa im Dienste der Stiftermemoria, bewies uraltes Herkommen und legitimierte politisch-rechtliches Dasein. Empirische archäologische Methoden trugen so zur Traditionskonstruktion bei.
MICHAEL NIEDERMEIER (Berlin) stellte die gefälschten „Prillwitzer Idole“ in einen politischen Interessenkontext: Die 1761 erfolgte Verbindung der Herzöge von Mecklenburg-Strelitz mit dem Haus Hannover und hierdurch mit dem englischen Königshaus bot den Anlass, gemeinsame sächsische Wurzeln hervorzukehren und das Herkommen der Obodritenherzöge mit den germanischen, ja sogar antik-griechischen Herrscherstammbäumen zu verknüpfen. Die archäologische Entdeckung ließ vermuten, dass man im eigenen Herzogtum das Wendenheiligtum Rethra gefunden habe. Die Neuanlage des englischen Gartens in Hohenzieritz inszenierte die Herrscherabstammung. Sie griff in die natürliche Landschaft mit ihren archäologischen Geländedenkmalen aus und bettete diese in das Konzept des Landschaftsgartens ein.
Auch in den süddeutschen Reichsstädten war man auf der Suche nach den eigenen Ursprüngen, wie MARTIN OTT (München) quellenreich belegen konnte. In mittelalterlicher Tradition suchten die Stadtchroniken äußerst kreativ den Anschluss der „tatsächlich erinnerten“ Stadt- an die biblische Schöpfungsgeschichte. Seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts richtete sich die Aufmerksamkeit der Gelehrten jedoch verstärkt auf römische Bodenfunde, bevorzugt Skulpturen und Inschriftensteine. Mit der Topographie römischer Inschriften, dem Bezug der ‚steinernen Texte‘ auf ihre Fundorte, gewannen Realien für die humanistische Stadt- und Landesgeschichte an Bedeutung.

Die Antiquare der Frühen Neuzeit sammelten in der Regel empirisch. Sie häuften materielle Kultur der Vergangenheit neben vielen anderen Natur- und Kunstprodukten in ihren Kabinetten an. In der Sektion Sammler und Sammlungen konnte FRAUKE KREIENBRINK (Leipzig) in einer Fallstudie zum Naturalienkabinett des Leipziger Apothekers Johann Heinrich Linck zeigen, wie archäologische Objekte in den Sammlungskontext eines Naturalienkabinetts eingebettet waren. Herausragend ist eine im 17. oder 18. Jahrhundert epigrammatisch beschriftete Urne aus der Linck’schen Sammlung, die dort ein heidnisches Objekt im Dienste christlicher Todeserinnerung repräsentiert.
Besonders Schlesien war für seine ‚heidnischen‘ Urnenfunde berühmt. MICHAL MENCFEL (Poznań) wies nicht nur auf die Menge archäologischer Funde in schlesischen Naturaliensammlungen hin, sondern untersuchte auch die Metaphorik ihrer Zuweisung als ‚heidnische‘ Artefakte im Sammlungskontext. Einerseits veranschaulichten sie den Kontrast zwischen den düsteren heidnischen Zeiten und dem siegreichen Christentum, andererseits fungierten sie als materielle historische Quellen, die von der Kultur der Ureinwohner Schlesiens zeugten. Urnenfunde dienten sowohl als Quelle historischen Wissens, als auch zur Erinnerung an die eigene Sterblichkeit. Pyramidenförmige Sammlungsschränke, wie sie sich in schlesischen und sächsischen Sammlungen nachweisen lassen, nahmen Bezug auf die Pyramide als dauerhaftes Denkmal – ein Sinnbild für memoria und Nachruhm.
Der Gedächtnisaspekt beim Sammeln ausgegrabener Artefakte und Fossilien ist auch im Zürich der Aufklärung zu spüren, wo Johann Jakob Scheuchzer versteinerte Tier- und Pflanzenreste als „Däncksäulen“ und „Reliquien der ersten Welt“ auswies. CLAUDIA RÜTSCHE (Zürich) präsentierte die umfangreichen Sammlungen der Burgerbibliothek in der Zürcher Wasserkirche, die eine Kunstkammer mit reichen Beständen ausgegrabener, häufig römischer Funde enthält. Wie die Rats-, Schul- oder Kirchenbibliotheken der schlesischen Städte war auch die Burgerbibliothek ein Hort von ‚Nicht-Buch-Objekten‘, die im Laufe der Zeit zumeist von Bürgern und Gelehrten gestiftet worden waren. Die Zuschaustellung und Betrachtung von Naturalien, Kunstsachen und Münzen dienten der Ehre Gottes und waren Grundlage für eine ordnende Spezialisierung der Sammeltätigkeit.

Die Sektion Ausgräber, Gelehrte, Antiquare verfolgte einen personengeschichtlichen Ansatz, um das individuelle Wirken einzelner Gelehrter herauszuarbeiten. Der kaiserliche Antiquar Jacopo Strada, dessen Biographie und Werk von VOLKER HEENES (Berlin) in den historischen Kontext gestellt wurde, verkörperte den Typus des „Künstler-Antiquars“. Als professioneller Goldschmied rezipierte Strada Antiken auch künstlerisch, wie er auch spezielle Sammlungsräume gestaltete. Das Antiquarium der Münchener Residenz als repräsentativer Zweckbau geht auf Stradas Entwürfe zurück. Seine Karriere bis an den Kaiserhof in Wien beruhte auf seinem antiquarischen Wissen und dem Handel mit Altertümern.
Die antiquarischen Interessen des schlesischen Dichters Martin Opitz lagen lange abseits der germanistischen Forschung. HARALD BOLLBUCK (Wolfenbüttel) spürte als hervorragender Kenner der Quellen Opitz‘ Aktivitäten als Epigraph und Antiquar in Siebenbürgen nach. Opitz‘ Ziel war die Abfassung einer Dacia antiqua, einer Landesbeschreibung des antiken Dacien auf archäologisch-epigraphischer Grundlage. Die autopsierten römischen Inschriften bildeten aber auch Imitationsmuster für Epigramme und überschrieben eine „elende Gegenwart mit einer glänzenden Vergangenheit“. Verwitternde Namen in Stein waren dem Dichter neustoizistische Allegorien der Vergänglichkeit, gleichzeitig brachte Opitz Texte und Sachen in Übereinstimmung, um Geschichte gleichsam mikroskopisch zu kommentieren. Opitz inszenierte sich so antiquarisch als Gelehrter und Poet.
Auch Tirol war ein Bezugsfeld antiquarischer Landeskunde und Inschriftensammlung. FLORIAN MÜLLER und FLORIAN SCHAFFENRATH (beide Innsbruck) stellten die in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchgeführten Ausgrabungen des Tiroler Polyhistors Anton Roschmann im römischen Aguntum bei Lienz vor. Ihr Vortrag kontextualisierte zunächst Roschmann als Bibliothekar und Gelehrtenpersönlichkeit, und widmete sich dann seinen Ausgrabungen und insbesondere den Interpretationen von Hypokausten durch „ungebildete Einheimische“ als „Zwergengebäude“. Roschmanns erhaltene Befundokumentation konnte anhand jüngster archäologischer Nachuntersuchungen im Sinne einer „Archäologie der Archäologie“ sehr anschaulich und detailliert nachvollzogen werden.
Über den Zürcher Altertumsforscher und Epigraphen Johann Caspar Hagenbuch sprach URS B. LEU (Zürich). Hagenbuch hat durch seine Entdeckung und historische Einordnung eines römischen Grabsteins mit der Aufschrift „Turicum“ erheblich zu einem neuen Verständnis der Frühgeschichte Zürichs und der Schweiz beigetragen. Demnach konnte die vormittelalterliche Vergangenheit von Zürich nämlich nicht mehr auf die heldenhaften „Tiguriner“ zurückgeführt werden, von denen die nun als falsch erkannte Ortsbezeichnung „Tigurum“ abgeleitet worden war. Dieser Erkenntniswandel habe nicht nur zu einer Entmythologisierung der Geschichtsschreibung Zürichs beigetragen, sondern führte auch zu kurios anmutenden Umbenennungen von Zürcher Editionen, die sich des lateinischen Namens der Stadt bedienten.
Die Altertumsforscher in den Alpenländern mit ihrer römischen Vergangenheit hinter sich lassend, wandte sich JAN ALBERT BAKKER (Baarn, NL) namhaften Gelehrten im ‚Barbaricum‘ des niederländisch-deutschen Grenzgebietes zu. Dort beschrieb und publizierte Johan Picardt im 17. Jahrhundert archäologische Geländedenkmale und behauptete, Riesen seien die Erbauer der Großsteingräber gewesen. Ausgrabungen der friesischen Dichterin Titia Brongersma in einem Hünengrab in Drenthe 1685 förderten Menschenknochen zu Tage, und spätere Forscher in Westfalen und den Niederlanden, wie Jodokus Hermann Nunningh, widerlegten daraufhin die Riesentheorie. Der Adlige Sweder Schele van Weleveld fasste in seinem Hausbuch gelehrte Ansichten zu den archäologischen Überresten und ihren ‚Sagen‘ zusammen. Auch westfälische Adelige suchten ihr Herkommen im Altertum zu begründen. Die Grafen von Bentheim wurden nach dem Fund des römischen Münzschatzes von Brandlecht 1620 auf den römischen Feldherrn Drusus zurückgeführt. Johannes van Lier versuchte Großsteingräber zeitlich einzuordnen, wobei er das erst im 19. Jahrhundert entwickelte Dreiperiodensystem Thomsens nahezu vorwegnahm.

Im Rahmen der Sektion Vorzeit in Sage und Volksüberlieferung wurde in zwei Vorträgen die Rezeption archäologischer Funde durch ungebildete Schichten, das sog. ‚Volk‘ untersucht. CLAUDIA LIEBERS (St. Augustin) thematisierte die neolithischen Megalithgräber Nordwestdeutschlands in ihren vermeintlich volkstümlichen Deutungen, die sich hinsichtlich ihrer Authentizität aber als problematisch erweisen. Ihr Vortrag ließ deutlich werden, dass insbesondere die häufig kolportierte These von der Kontinuität heiliger Orte einer genauen quellenkritischen Analyse und der historischen Rekonstruktion der Textentstehung bedarf. So enthalten die frühneuzeitlichen Darstellungen zu Alter und Kult der Megalithen häufig mythologische Textmuster, Wandersagen oder junge literarische Erzählungen, die zu unrecht für althergebracht gehalten werden.
Sehr viel pointierter problematisierte KLAUS GRAF (Neuss) den vor allem im national(istisch)en Kontext inflationär verwendeten Begriff der ‚Volksüberlieferung‘ und kritisierte ihn als ein Konstrukt einer auf Ahistorizität zielenden ‚Volkskunde‘. Der Rätselhaftigkeit der Altertümer begegnete die Romantik durch ätiologische Sagen, also Deutungssagen, die keinerlei mündlich tradierten „wahren Kern“ besitzen, der möglicherweise sogar Jahrtausende zurückreicht. Bei dem, was als ‚Volksüberlieferung‘ bezeichnet wird, handelt es sich vielmehr in der Regel um in der Frühen Neuzeit verschriftlichte Wahrnehmungen oder Ereignisse, die gerade von Bildungseliten in Umlauf gebracht und tradiert, verschliffen, verballhornt und teilweise auch wieder vergessen wurden. Archäologische Funde und Ausgrabungen sind als „kommunikatives Ereignis“ zu werten, das zur assoziationsreichen Nach- und Weitererzählung anregt: bei einer Ausgrabung oder Entdeckung laufen Neugierige herbei, die sich einerseits das Ereignis merken und andererseits erinnerte oder tradierte Fundereignisse am Ort erzählen – oder eben auch nicht (die im Vortrag von Florian Schaffenrath und Florian Müller erwähnten „Zwergengebäude“ Roschmanns beispielsweise waren den Besuchern der Grabung 2007 kein Begriff mehr, wohl aber wurden römische Einzelfunde aus jüngster Zeit erinnert).
Die sich an die Vorträge anschließende sehr engagierte Debatte ließ vor allem deutlich werden, in welch hohem Maße Archäologie bis heute als eine Erinnerungspraxis zu verstehen ist, die wissenschaftshistorisch analysiert und nachvollzogen werden kann. Eliten- und Volkskultur lassen sich dabei nicht trennen. Die von Graf postulierte Wechselwirkung von „gelehrten“ und „populären“ Sichtweisen und die Austauschvorgänge zwischen ihnen erwiesen sich in der Diskussion besonders am aktuellen Beispiel der sogenannten „Himmelsscheibe von Nebra“ als überzeugend.
Die thematische Sektion Heidnische Vorzeit zwischen Glauben und Wissen widmete sich archäologischen Praktiken und Interpretationen im Spannungsfeld von Frömmigkeit und Konfession, theologischer Erkenntnis und aufklärerischer Empirie oder der Beobachtung und Erforschung von Kausalzusammenhängen. STEPHAN CARTIER (Delmenhorst) befasste sich hierzu mit dem Wandel chronologischer Vorstellungen im 17. und 18. Jahrhundert. Führten die biblischen Chronologievorgaben zunächst zu eklatanten Fehldatierungen archäologischer Funde, trug die Fülle relativchronologischer Beobachtungen und absolutchronologischer Schlussfolgerungen schließlich entscheidend dazu bei, archäologische Praktiken als geschichtswissenschaftliche Methode zu etablieren. Bei diesem Prozeß sollte nicht der archäologischen Empirie oder der theologischen Deutungshoheit eine Priorität zugewiesen werden, sondern es ging darum, beide historiographischen Zugänge einander anschlussfähig zu machen.
Der Vredener Kanonikus und Scholaster Jodikus Hermann Nunningh war als Numismatiker gerade an Sachüberlieferung interessiert, wie GERD DETHLEFS (Münster) ausführte. 1711 führte Nünning systematische Ausgrabungen vorgeschichtlicher Gräber im Münsterland durch und publizierte diese 1713. Für Nunninghs Landesgeschichte spielte das Konfessionalisierungsparadigma keine Rolle, vielmehr entpolitisierte und verwissenschaftlichte sein Blick auf die archäologischen Funde die Landesgeschichte. Nünning stand mit vielen protestantischen Gelehrten in Briefwechsel – Wissenschaft wurde in der Gelehrtenrepublik entkonfessionalisiert.
Die gedruckten Veröffentlichungen von archäologisch forschenden Gelehrten wie Johann Daniel Major oder Trogillus Arnkiel eröffneten zu ihrer Entstehungszeit einen neuen Blick auf die Realien, meinte JAN-MARCO SAWILLA (Hamburg). Dennoch blieb die Bibel das zentrale historiographische Referenzwerk. Der frühneuzeitliche Antiquarianismus mit seiner Ausgrabungspraxis weitete die als historiographisch relevant erachteten Bereiche jenseits schriftliche Überlieferung aus und integrierte sie in historiographische Traditions- und Diskussionszusammenhänge. Die zeitgenössische Reflexion „heidnischer Begräbnisbräuche“ stand im Spannungfeld gentil definierter Eigengeschichte und moraltheologischem Entsetzen vor heidnischen Bestattungsriten.

Die Schlussdiskussion ließ deutlich werden, dass die Rezeption ausgegrabener Altertümer nördlich der Alpen in der Frühen Neuzeit nicht isoliert von der Rezeption von Antiken aus dem Mittelmeerraum zu sehen ist. Sammler und Gelehrte nahmen diese heute gewohnte scharfe Trennung nicht vor. Vielmehr griffen alle Gelehrten bei der Interpretation ihrer Funde auf antike Texte zurück. Manche stellten sich direkt in die Tradition antiker Antiquare. In den Kunstkammern wurden verschiedenste prähistorische, römische und mittelalterliche Artefakte zusammengeführt. Archäologische Funde im Allgemeinen und römische Inschriften im Besonderen galten als unbestechliche Überlieferung, deren Dinglichkeit historische Authentizität repräsentierte. Durchgehend maß sich das Erkenntnisinteresse der frühneuzeitlichen Gelehrten an „römisch kontaminiertem“ Gebiet: wie weit waren die Römer vorgedrungen, welche archäologischen Funde waren als römisch anzusehen, und welche nicht? Mit den gesammelten antiquarischen Erfahrungen von Bildungsreisen und Studienaufenthalten an italienischen Universitäten gab es ambivalent „Eigenes“ und „Fremdes“ zu entdecken.

Die Tagung war hinsichtlich ihres inhaltlichen Zuschnitts ein Novum, was von Teilnehmern und Gästen anerkennend zum Ausdruck gebracht wurde. Insofern darf die vorgesehene Publikation des Tagungsertrages mit Spannung erwartet werden.

Konferenzübersicht:

Einführungen und Überblicke

Dietrich Hakelberg, Ingo Wiwjorra (Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel): Das DFG-Projekt „Archäologische Funde in der Frühen Neuzeit“. Ziele, Ergebnisse, Perspektiven
Cornelia Wollf (Staatsbibliothek zu Berlin): Die Beschreibung ur- und frühgeschichtlicher Funde in gedruckten Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts
Gerrit Walther (Historisches Seminar, Bergische Universität Wuppertal): Profit und Leidenschaft. Motive adligen Interesses für „Antiquitäten“ in der Frühen Neuzeit
Helmut Zedelmaier (Arbeitsgemeinschaft historischer Forschungseinrichtungen, München): Vor- und Frühgeschichte als Problembezirk historischen Wissens im 18. Jahrhundert
Alain Schnapp (Université de Paris I – Panthéon, Sorbonne, Paris): Antiquare zwischen Naturgeschichte und Kulturgeschichte von der Renaissance bis zur Aufklärung

Herkommen und Tradition

Hans-Rudolf Meier (Lehrstuhl für Denkmalkunde und angewandte Bauforschung Technische Universität Dresden): Frühneuzeitliche Klostergrabungen nach Gräbern und Grüften
Michael Niedermeier (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin): Radegast – Odin – Wodan. Die gefälschten mecklenburgischen Bodendenkmäler und inszenierte Herrscherabstammungen im „englischen“ Garten
Martin Ott (Historisches Seminar, Universität München): Vor uns die Sintflut? Die vorgeschichtlichen Epochen süddeutscher Stadtgeschichte zwischen historiographischer Konstruktion und archäologischer Empirie

Sammler und Sammlungen

Frauke Kreienbrink (Professur für Vor- und Frühgeschichte, Universität Leipzig): Die Sammlung der Leipziger Apothekerfamilie Linck – Zur Geschichte einer frühneuzeitlichen Naturalien- und Kunstkammer
Michal Mencfel (Kunstgeschichtliches Institut, Universität Poznań) Neutralisierung und historische Aneignung. Sammlungen schlesischer Altertumsforscher um 1700
Claudia Rütsche (Kulturama-Stiftung, Zürich): Einblicke in die archäologische Sammeltätigkeit einer gelehrten Bürgerschaft im 17. und 18. Jahrhundert am Beispiel der Zürcher Kunstkammer

Ausgräber, Gelehrte, Antiquare

Volker Heenes (Berlin): Jacopo Strada – Goldschmied und Maler, Antiken- und Münzhändler, Sammler und Antiquarius Caesareus
Harald Bollbuck (Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel): Imitation, Allegorie, Kritik – Antikenfunde bei Martin Opitz
Florian Müller und Florian Schaffenrath (Leopold-Franzens-Universität Innsbruck): Der Tiroler Archäologe Anton Roschmann (1694–1760) und die Ruinen der Römerstadt Aguntum
Urs B. Leu (Zentralbibliothek Zürich): Johann Caspar Hagenbuchs Entmythologisierung der schweizerischen Altertumskunde
Jan Albert Bakker (Baarn NL): Johan Picardt, Sweder Schele und Jodokus Hermann Nunningh und die Vorgeschichte: Archäologie in den östlichen Niederlanden und dem westlichen Deutschland zwischen dem späten 16. und dem frühen 18. Jahrhundert

Vorzeit in ‚Sage‘ und ‚Volksüberlieferung‘

Claudia Liebers (St. Augustin): Die neolithischen Megalithgräber Nordwestdeutschlands im Spannungsfeld von Volksüberlieferung, kirchlich-religiösem Weltbild und neuzeitlicher Geschichtsschreibung
Klaus Graf (Neuss): Archäologisches in populären Überlieferungen der Frühen Neuzeit

Heidnische Vorzeit zwischen Glauben und Wissen

Stephan Cartier (Delmenhorst): „Wie die Zeit vergeht“. Archäologie und Prähistorik im Spannungsfeld naturwissenschaftlicher und historiographischer Zeithorizonte des 17. und 18. Jahrhunderts
Gerd Dethlefs (LWL-Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte – Westfälisches Landesmuseum, Münster): Von der Landesgeschichte zu den Heidengräbern der Vorzeit. Katholische und lutherische Archäologen im Westfalen des frühen 18. Jahrhunderts
Jan Marco Sawilla (Hamburg): Von „Todten-Töpffen und andern Merckwürdigkeiten“. Zur Reflexion heidnischer Bestattungsriten und ihren Überresten in Norddeutschland um 1700


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