Repression und Selbstbehauptung: Die Zeugen jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur

Repression und Selbstbehauptung: Die Zeugen jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur

Organisatoren
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, TU Dresen; Arbeitsstelle Kirchliche Zeitgeschichte der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.11.2000 - 05.11.2000
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Von
Hubert Roser, Mannheim; Hans Hesse, Göttingen

Die bis heute zu den "vergessenen Opfern" der NS-Diktatur zaehlende christliche Religionsgemeinschaft "Zeugen Jehovas" (ZJ) findet in letzter Zeit immer mehr Beachtung. Seit 1993, dem Erscheinungsjahr von Detlef Garbes grundlegender Studie zu den ZJ im Nationalsozialismus, steht das Schicksal dieser Opfergruppe im Nationalsozialismus und neuerdings auch unter der SED- Diktatur im Blickpunkt der Zeitgeschichtsforschung. Ziel der Dresdener (Dr. Clemens Vollnhals) und Heidelberger (Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier) Kooperationstagung war es daher, den aktuellen Forschungsstand zu beiden totalitaeren Diktaturen aufzuarbeiten und in vergleichender Perspektive kritisch zu hinterfragen.

Die Ertraege der Tagung, an der neben namhaften Historikern aus Deutschland und der Schweiz einschlaegige Fachleute aus den Reihen der Glaubensgemeinschaft, Zeitzeugen der DDR-Verfolgung sowie zwei FilmemacherInnen teilnahmen, sollen 2001 in einem groesseren Sammelband vorgestellt werden. Nach einem Grusswort des Praesidenten des deutschen Zweiges der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft, Willi Pohl (Selters/T.), und einer Einfuehrung in die Thematik von Clemens Vollnhals (Dresden) widmete sich der erste Themenblock der NS-Verfolgung der ZJ. Detlef Garbe (Hamburg) bilanzierte hierzu den aktuellen Forschungsstand. Er stellte fest, dass sich die Kenntnisse ueber das Schicksal dieser Opfergruppe inzwischen grundlegend verbessert haetten. Fuer die zukuenftige Erforschung sieht Garbe fuenf vorrangige Themenfelder: 1. die Erarbeitung einer zusammenfassenden Darstellung ueber die ZJ als Haeftlingsgruppe in den KZ, 2. die Auseinandersetzungen zwischen ZJ und voelkischem Radikalismus/Kirchen in der Weimarer Republik, 3. die Frage nach dem Anpassungsgrad unter den Mitgliedern der ZJ beim Uebergang in die Illegalitaet 1933 und damit zusammenhaengend eine staerkere Hinwendung zu dieser bislang zu wenig beachteten Personengruppe, 4. die weitere Analyse der Verhandlungen zwischen NS- Regierung und Wachtturm-Gesellschaft 1933/34 und 5. eine naehere Untersuchung des schnellen staatlichen Vorgehens beim Verbot der ZJ 1933, das offensichtlich im Interesse um Einvernehmen mit den Kirchen hinsichtlich der NS-Kirchenpolitik erfolgte.

Die europaeische Komponente der Verfolgung der ZJ in den Jahren 1933-1945 beleuchteten Hubert Roser (Mannheim) und Max Woernhard (Thun). Waehrend Roser mit Blick auf die europaweiten illegalen Netzwerke der ZJ die fuehrende Stellung der Schweiz hervorhob, betonte Woernhard die sich seit 1935 auch hier zunehmend verschlechternde Situation der ZJ, die zu Verfolgungsmassnahmen und fast zu ihrem Verbot fuehrte. Roser zeigte zudem, dass sich die juengsten, in der Schweiz heftig diskutierten Erkenntisse zur schweizerischen Fluechtlingspolitik auch auf die ZJ uebertragen lassen. Trotz ihrer vergleichsweise geringen Zahl wurden die aus Deutschland oder den von ihm besetzten Laendern gefluechteten ZJ seit 1937/38 als eigenstaendige Fluechtlingsgruppe aufgefasst. Wie die Juden oder die politischen Fluechtlinge sollten die ZJ dabei von der Schweiz moeglichst ferngehalten oder doch nur mit grossen Vorbehalten aufgenommen werden. Manfred Zeidler (Frankfurt/M.) beleuchtete am Beispiel des saechsischen Sondergerichts Freiberg die zunehmende Indienstnahme der Justiz durch den NS-Staat sowie die unnachgiebige gerichtliche Verfolgung der ZJ besonders in den Jahren 1935- 1939.

Der zweite Themenblock befasste sich vornehmlich mit den Formen und Instrumenten der Repression der Verfolgung der ZJ in der DDR, die hier von Oktober 1950 bis zur "Wende" 1989/90 als Glaubensgemeinschaft verboten waren. Die ZJ galten in der DDR als Staatsfeinde, die unter dem Deckmantel der Religion Spionage fuer die "BRD" und den "US-amerikanischen Imperialismus" betrieben. Nach einem einfuehrenden Beitrag zur Kirchenpolitik in der DDR von Bernd Schaefer (Dresden), der sowohl die wesentlichen Instrumente der Repression: 1. die SED mit ihrer parteiinternen "Arbeitsgruppe Kirchenfragen", 2. das Ministerium fuer Staatssicherheit (Stasi) und 3. das mit Stasi-Informanten durchsetzte Staatssekretariat fuer Kirchenfragen, als auch die zentralen kirchenpolitischen Strategien des SED-Regimes vorstellte, referierte Hans-Hermann Dirksen (Hadamar) im Vorgriff auf seine demnaechst erscheinende umfassende Dissertation zu dem Thema ueber die strafrechtliche Verfolgung der ZJ in der DDR mit Schwerpunkt 50er-Jahre. Nach Dirksen kam es in 40 Jahren DDR zu etwa 6.000 Inhaftierungen und 5.000 Verurteilungen, wobei die im Vergleich zur NS-Zeit anfangs wesentlich laengere Haftdauer seit den 60er-Jahren allmaehlich abnahm. Direkt nach dem Verbot der ZJ 1950 kam es auch zu ueber 250 Faellen sogenannter "Doppelverfolgung". Wie die anwesenden Zeitzeugen aus eigener leidvoller Erfahrung bestaetigen konnten, mussten ZJ, die bereits in der NS-Zeit im Gefaengnis oder KZ einsassen, in der DDR erneut lange Jahre unter grossenteils unzulaenglichen Haftbedingungen zubringen. Waldemar Hirch (Darmstadt) und Gerhard Besier (Heidelberg) in seinem einfuehrenden Referat vom Vortage befassten sich vornehmlich mit der Stasi, die seit den 60er-Jahren die Hauptarbeit der "Zersetzung" gegen die ZJ in der DDR trug.

Anhand von Beispielen stellte Hirch die Taetigkeit der sogenannten IMs ("Informellen Mitarbeiter") vor, deren Wirken die ZJ von innen heraus laehmen und das bis in den Westen reichende Kurier- und Verbindungssystem zerstoeren sollte. Besier konzentrierte sich vor allem auf die "Christliche Verantwortung", ein im Auftrag der Stasi von ehemaligen ZJ gefuehrtes Publikationsorgan mit guten Kontakten zu DDR-Pfarrern und "Sektenbeauftragten" in der Bundesrepublik. Unter der Aegide der Familie Pape erwuchs die "Christliche Verantwortung" zu einem zentralen Instrument der Stasi gegen die ZJ. Nach dem Ende der DDR 1990 wurde die Zeitschrift eine Zeitlang im Westen von dem Tuebinger Theologen Klaus-Dieter Pape weitergefuehrt. Der Themenblock wurde abgerundet durch zwei regionalgeschichtliche Beitraege von Robert Schmidt (Frankfurt/M.) und Goeran Westphal (Jena), die anhand von Zeitzeugeninterviews mit ZJ in der Oberlausitz bzw. Weimar unter anderem die Resonanz der Stasi-Bespitzelung vor Ort untersuchten. Den Versuch einer Verbindung zwischen erstem und zweitem Themenblock unternahm Gerald Hacke (Dresden), Autor einer grundlegenden Monographie ueber die ZJ in der DDR, mit seinem vergleichenden Beitrag ueber "Die Perzeption der ZJ in der nationalsozialistischen und der kommunistischen Diktatur". Nach Hacke war beiden Systemen gemeinsam, dass die ZJ als politische Gruppierung wahrgenommen wurden, die sich durch die Religion lediglich tarnte. Dabei waren die jeweiligen Feindbilder voellig kontraer. Waehrend die Nationalsozialisten, die sich bei ihrer "Wurzelsuche" auf die gaengige voelkische Literatur beriefen, in den ZJ eine "juedisch-bolschewistische" Gruppierung sahen, orteten die DDR-Machthaber die ZJ im Fahrwasser des "imperialistischen anglo-amerikanischen Kapitalismus". Die ebenso unterschiedlichen Formen der Verfolgung: im Nationalsozialismus in erster Linie physischer Terror, in der DDR "Zersetzung" durch die Stasi, sollten die Anhaenger der ZJ zu einer zumindest aeusserlichen Verhaltensaenderung zwingen.

Ein dritter Themenblock konzentrierte sich auf die "Doppelverfolgung" und die Rolle der Zeuginnen Jehovas in der DDR. Wolfram Slupina (Selters/Ts.) stellte in seinem Referat die Biografien zweier "Doppelverfolgter", Elisabeth Kuehne und Walter Schmidt, vor. Kuehne wurde 14 Jahre in verschiedenen Haftanstalten und KZ gefangen gehalten, Schmidt verbrachte insgesamt 111/2 Jahre in 22 Strafanstalten, darunter acht Jahre in einem KZ. Slupina betonte, dass ein Vergleich zwischen NS- und DDR-Verfolgung keine Gleichsetzung bedeute. Leid liesse sich nicht bilanzieren. Hans Hesse (Goettingen) beschaeftigte sich mit der Gruppe der "doppelverfolgten" Frauen, die ca. 10% aller verfolgten Zeuginnen Jehovas in der DDR ausmachten. Nach gegenwaertigem Kenntnisstand betrug das Verhaeltnis von Maennern und Frauen, die der Verfolgung in der DDR ausgesetzt waren, etwa Drei zu Eins. Generell waren in der DDR deutlich weniger Frauen von Verfolgung betroffen als in der NS-Zeit. Widerstand leisteten diese Frauen vor allem, indem sie Schriften aus dem Westen einschmuggelten und weiter verteilten sowie durch ihre missionarische Taetigkeit. Zu den Haftbedingungen von Zeuginnen Jehovas in der DDR bemerkte Hesse, dass sich die Methoden der Nationalsozialisten und des DDR-Regimes ¾ bei mancher Parallele im Detail (Etwa die ausschliessliche Ausgabe von Blutwurst an Zeuginnen Jehovas, die den Verzehr aus religioesen Gruenden ablehnten) ¾ insgesamt eher unterschieden. Hans-Hermann Dirksen (Hadamar) rundete den Themenblock mit einem Exkurs ueber die Verfolgung der ZJ in den Ostblockstaaten ab und fuehrte hierfuer Beispiele aus Ungarn und Moldawien an. In der Diskussion wurde auf das zeitliche Zusammenfallen der Verfolgungen im Ostblock hingewiesen. Den Schluss markierte Johannes Wrobel (Selters/Ts.), Leiter des zentralen Archivs der Wachtturm-Gesellschaft in Deutschland, mit einem Ueberblick ueber die bisher bekannten Zahlen zum Strafvollzug von ZJ in der DDR. Nach derzeitigem Kenntnisstand sind 4.878 DDR-Opfer bekannt; 62 starben, darunter 16 Frauen. Wrobel wies darauf hin, dass die inhaftierten ZJ durch ein lila "Z" an der Zellentuer zu kennzeichnen waren.

In Anlehnung an das uebergreifende Totalitarismus-Modell von Juan Linz definierte Clemens Vollnhals (Dresden) in seinem resuemierenden Beitrag anti- totalitaeren Widerstand in drei Kategorien: 1. politische Opposition, direkt auf den Sturz des Regimes gerichtet, 2. gesellschaftliche Verweigerung/Resistenz und 3. weltanschauliche Dissidenz. Den Widerstand der ZJ als Gruppe ordnete Vollnhals in Gruppe 2 "gesellschaftliche Verweigerung" ein, waehrend das Verhalten von Einzelpersonen auch der Gruppe 3 "weltanschauliche Dissidenz" zugerechnet werden koenne. Die in den Referaten angesprochenen Themen wurden durch zwei aktuelle Filmdokumentationen "Folget mir nach" von Fritz Poppenberg (Berlin) und "Bei uns werdet Ihr nichts zu lachen haben ..." von Loretta Walz (Berlin) illustriert. Die beiden 60 und 35 Minuten langen Videos thematisieren den Strafvollzug bzw. die Verfolgung der ZJ in der DDR vornehmlich in den 50er- Jahren. Als bedauerlich werteten die Tagungsteilnehmer die offenbar geringe Resonanz solcher Filmproduktionen im Fernsehen und auf Filmfestspielen. Moeglicherweise haenge dies mit der geringen Lobby von sogenannten gesellschaftlichen "Randgruppen" bei Programmdirektoren und Festspielleitern und der oeffentlichen Stigmatisierung der ZJ als "Sekte" zusammen. Ein ergaenzender Beitrag von Robert Reichel (Freiburg/Br.) beschaeftigte sich zudem mit dem Thema Kriegsdienstverweigerung von ZJ in der Bundesrepublik. In den 50er- und 60er-Jahren wurden ueber 800 ZJ, die aus Gewissensgruenden sowohl den Wehrdienst als auch den als Ersatz hierfuer eingerichteten Zivildienst ablehnten, mitunter mehrfach zu mehrmonatiger Gefaengnishaft bestraft. Erst 1969 schuf der Gesetzgeber die Moeglichkeit, anstelle des Ersatzdienstes einen freiwilligen Dienst bei einem oeffentlichen Arbeitstraeger abzuleisten.


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