Widerstreitende Historiographien. Ostmitteleuropas Konfliktgeschichte und die Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert

Widerstreitende Historiographien. Ostmitteleuropas Konfliktgeschichte und die Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Herder-Institut
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.04.2000 - 30.04.2000
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Von
Kai Struve

Ende April 1950 hatten sich in Marburg 23 Historiker und Sozialwissenschaftler mit dem Ziel versammelt, einen Ersatz fuer die wissenschaftlichen Einrichtungen der deutschen "Ostforschung" zu schaffen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs mit den deutschen Ostgebieten verlorengegangen waren. Damit sollte die "geistige Auseinandersetzung" mit dem oestlichen Mitteleuropa, wie es damals hiess, auf eine neue institutionelle Grundlage gestellt werden. Auf dieser Versammlung wurde der Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat gegruendet, der als seine Forschungseinrichtung das Herder-Institut ins Leben rief. Das fuenfzigjaehrige Bestehen des Herder-Instituts war der Anlass fuer die Tagung unter der Ueberschrift "Widerstreitende Historiographien. Ostmitteleuropas Konfliktgeschichte und die Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert". 1950 war noch wenig von einer kritischen Reflexion der Frage zu spueren gewesen, inwieweit auch die "Ostforscher" zu "Vordenkern der Vernichtung" (Goetz Aly/Susanne Heim) geworden waren. Tatsaechlich wirkte in der deutschen Ostmitteleuropahistoriographie das deutschtumsgeschichtliche Paradigma der "Ostforschung" noch lange nach, nicht zuletzt auch im Herder-Institut. Somit diente die Jubilaeumstagung, die von Eduard Muehle (Marburg) und Frank Hadler (Leipzig) konzipiert worden war, auch der kritischen Reflexion der Institutsgeschichte. Tatsaechlich ging das Thema der Tagung jedoch ueber die Geschichte der deutschen "Ostforschung" hinaus. Es sollten die verschiedenen ostmitteleuropaeischen Historiographien im "Zeitalter der Extreme" unter dem Gesichtspunkt ihres Beitrags zur Konfliktgeschichte dieser Region im 20. Jahrhundert untersucht werden. Es ging darum, ob und wie die Geschichtswissenschaften zur Verschaerfung oder zur Ueberwindung von Konflikten beigetragen haben, wie sie sich gegenseitig beeinflussten und in welchem Verhaeltnis Politisierung und Erkenntnisfortschritt zueinander standen. Diesen Fragen sollte sowohl fuer die erste Haelfte des Jahrhunderts als auch fuer die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nachgegangen werden, als die antagonistischen Beziehungen zunehmend ueberwunden wurden, die ostmitteleuropaeischen Historiographien jedoch den politischen Zwaengen der kommunistischen Diktatur ausgesetzt waren.

Zum Auftakt der Konferenz hatten die Veranstalter Gottfried Schramm (Freiburg) als Osteuropahistoriker, Christoph Klessmann (Potsdam) als Zeithistoriker und Bernd Faulenbach (Bochum) als Historiographiehistoriker gebeten, aus ihrer jeweils fachspezifischen Sicht Fragestellungen an das Tagungsthema zu formulieren. Gottfried Schramm machte auf das komplizierte Verhaeltnis von politischer Au enbestimmung der Wissenschaft und Erkenntnisfortschritt aufmerksam und betonte, dass das eine das andere nicht notwendigerweise ausgeschlossen habe. Zum Forschungsstand hob er hervor, dass dringend mehr komparative und beziehungsgeschichtliche Untersuchungen gebraucht wuerden, da bisher die jeweiligen nationalen Historiographien meist weitgehend isoliert betrachtet worden seien. Dieses Defizit beklagte auch Christoph Klessmann und betonte, dass auch ein Vergleich der Geschichtswissenschaft in der DDR mit den Historiographien der anderen sozialistischen Laender Ostmitteleuropas ein Desiderat sei und vermutlich fruchtbare Erkenntnisse bringen koenne - nicht nur fuer die historiographiegeschichtliche Forschung, sondern auch im Hinblick auf die Differenzierungen der verschiedenen sozialistischen Gesellschaften. Bernd Faulenbach skizzierte aus historiographiegeschichtlicher Sicht vier gro e Fragenkomplexe, die fuer das Tagungsthema eine Rolle spielten: 1. Welche Rolle hatten die Historiographien bei den Nations- und Staatsbildung in Ostmitteleuropa? Inwieweit trugen sie zur kritischen Reflexion der nationalen Mythen und der nationalen Konflikte bei? 2. Wie waren sie in die "ethnischen Saeuberungen" verwickelt? 3. In welchem Verhaeltnis standen wissenschaftliche Innovation und Politisierung der Wissenschaft? 4. In welchem Umfang wurden die Historiographien in den ostmitteleuropaeischen Laendern nach 1945 sozialistisch oder inwieweit blieben aeltere Traditionen bestehen? Wie sahen die Kontinuitaeten der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 aus? Ueber die Frage der personellen Kontinuitaeten hinaus muessten die institutionellen, begrifflichen und thematischen Kontinuitaeten oder Veraenderungen genauer untersucht werden.

In der ersten Sektion der Tagung "Wissenschaftliche Institutionen und politische Rahmenbedingungen" behandelte Joerg Hackmann (Greifswald) die Entstehung der Institutionen der polnischen "Westforschung" seit den 1920er Jahren und die an sie anknuepfenden Einrichtungen in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Institute verstanden es als ihre vorrangige Aufgabe, den Thesen der deutschen "Ostforschung" wissenschaftlich und propagandistisch entgegenzutreten und nach dem Zweiten Weltkrieg auch, den Anschluss der deutschen Ostgebiete an Polen historiographisch zu legitimieren. Eduard Muehle (Marburg) skizzierte im Anschluss daran die institutionelle Entwicklung der "Ostforschung" von der Weimarer Republik bis in die fruehe Bundesrepublik. Dabei stellte Muehle gegenueber der von Michael Fahlbusch und Ingo Haar vertretenen These, die Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften des Dritten Reiches seien ein effizient vernetztes Gro forschungssystem gewesen, fest, dass die Organisation der "Ostforschung" sich seit 1939 immer staerker wieder in konkurrierende Institutionen aufloeste und die wissenschaftliche Taetigkeit der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft zumindest seit 1943 weitgehend zum Erliegen kam, als sie mit Himmlers Ernennung zum Innenminister dem Reichsfuehrer SS unterstellt wurde. Diesen beiden "komplementaeren" Vortraegen standen zwei eher kontraere Kommentare gegenueber. Waehrend Markus Krzoska (Mainz) von der "Austauschbarkeit" der polnischen "Westforschung" und der deutschen "Ostforschung" sprach und meinte, dass die polnische Forschung die deutsche gewissermassen kopiert habe, benannte Jan Piskorski (Stettin/Posen) eher Unterschiede. So habe es in der "Westforschung" keine "Herrenmenschen"-Ideologie gegeben. Dagegen habe aber die Geschichtswissenschaft auch im 19. Jahrhundert in der Zeit, als die ostmitteleuropaeischen Nationen keinen eigenen Staat besassen, eine wichtige Rolle bei der Erhaltung und Staerkung des nationalen Bewusstseins gespielt. Im Anschluss daran stellten Leo Dribins (Riga) die lettische Nationalhistoriographie in der Zwischenkriegszeit und Rainer Lindner (Konstanz) diejenige Weissrusslands im 20. Jahrhundert vor. Dribins betonte die starke Zaesur, die die Errichtung der Diktatur Ulmanis' 1934 fuer die lettische Historiographie bedeutet habe, waehrend Lindner vor allem die Durchsetzung des Stalinismus in der wei russischen Geschichtswissenschaft behandelte.

Die zweite Sektion der Tagung war den "Themen, Methoden und Inhalten" der Historiographien gewidmet. Alvydas Nikzentaitis (Klaipeda) behandelte die Darstellung des Deutschen Ordens und des Ordenslandes in der litauischen, polnischen und deutschen Historiographie in der ersten Haelfte des 20. Jahrhunderts. Er hob dabei hervor, wie stark die Wertungen von den jeweils aktuellen politischen (Konflikt-)Konstellationen abhaengig waren. In seinem Kommentar betonte Christian Luebke (Greifswald) die Fruchtbarkeit eines Dreier-Vergleichs, an den sich die Historiker sonst selten heranwagten, und formulierte grundsaetzliche Forschungsfragen fuer die historiographiegeschichtliche Untersuchung des Themas "Kulturtransfer im Hoch- und Spaetmittelalter". Zunaechst sei danach zu fragen, wie "Kultur" verstanden und mit welchen Methoden ihr Transfer untersucht worden sei. Dabei zeige sich, dass bei der "Ostforschung" weniger in diesen Punkten das Problematische liege, sondern in erster Linie in der "voelkischen" Zielsetzung. Als naechstes untersuchte Jaroslav Panek (Prag) die Bewertung der fruehneuzeitlichen Staendegesellschaft in Boehmen durch die tschechischen Historiker von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Panek machte deutlich, dass in den Urteilen der Historiker ueber die Staendegesellschaft immer zugleich auch aktuelle politische Botschaften enthalten waren. Joachim Bahlcke (Leipzig) ging im Anschluss daran auf die deutschen Forschungen zu den ostmitteleuropaeischen Staendegesellschaften in der Zeit zwischen den Weltkriegen ein. Die Staendegesellschaften zogen damals ein gesteigertes Interesse auf sich. Das Bild, das diese Forschungen zeigen, blieb jedoch ambivalent. Einerseits brachten sie wohl einen bedeutsamen Wissensfortschritt, in ihren Urteilen blieben sie jedoch ueberwiegend von einer sich aus borussischen Traditionen speisenden Abwertung der Staendegesellschaften bestimmt. Am Schluss dieser Sektion stand ein Vortrag von Zoltan Szasz (Budapest) ueber die Haltung der ungarischen Historiker gegenueber den Territorialverschiebungen und Grenzziehungen nach den Weltkriegen, der von Peter Haslinger (Freiburg) kommentiert wurde. Tatsaechlich beteiligten sich die professionellen Historiker in Ungarn zumindest nach 1921 kaum noch an der publizistischen Diskussion der Grenzen. Gleichwohl hatte die radikale Beschneidung des ungarischen Staatsgebiets einen foerdernden Einfluss auf die ungarische "Volkstumsforschung".

Die dritte und letzte Sektion der Tagung stand unter der Ueberschrift "Schulbildungen und personelle Netzwerke". An ihrem Anfang stand ein Vortrag von Dan Diner (Leipzig/Tel Aviv) ueber die juedische Historiographie. Diner kontrastierte die osteuropaeische von der westlichen, vorwiegend juedisch-deutschen Geschichtsschreibung. Waehrend die oestliche Richtung, als deren wichtigsten Exponenten er Simon Dubnov nannte, eine juedische Volksgeschichte geschrieben und von einer seit biblischen Zeiten durchgaengig existierenden juedischen Kollektivitaet ausgegangen sei, die auch in der Gegenwart weiter erhalten werden muesse, habe sich das westliche Judentum konfessionalisiert und die wissenschaftliche Erforschung der Geschichte der Juden sei zur "Wissenschaft vom Judentum" geworden. Anke Hilbrenner (Bonn) ergaenzte diesen Vortrag mit einem Kommentar ueber Simon Dubnov und seinen Entwurf einer Geschichte des juedischen Volkes als Nationalgeschichte von Anbeginn der Ueberlieferung. Die historische Ostmitteleuropaforschung in Ungarn und in der Slowakei bildeten die Themen der Vortraege von Holger Fischer (Hamburg) und Dusan Kovac (Bratislava). Fischer erklaerte, dass ein wesentliches Anliegen der ungarischen Historiographie nach 1919 gewesen sei, die Ueberlegenheit der ungarischen Kultur gegenueber der der Nachfolgestaaten zu zeigen und damit revisionistische Ziele zu untermauern. Ein Schwerpunkt sei die Agrar- und Siedlungsgeschichte der verlorenen Komitate gewesen. Nicht zuletzt auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen sprachen abschliessend Piotr Wandycz (Yale) ueber die polnische Exilhistoriographie und ihr Verhaeltnis zur Geschichtsschreibung im sozialistischen Polen sowie Jan Kren (Prag) ueber die Geschichtsschreibung in der sozialistischen Tschechoslowakei und das Verhaeltnis zwischen den Dissens-Historikern und ihren "offiziellen" Kollegen.

Die Abschlussdiskussion, die durch eine Zusammenfassung von Eduard Muehle (Marburg) und Kurzkommentare von Norman Naimark (Stanford), Erich Volkmann (Potsdam) und Witold Matwiejczyk (Lublin) eingeleitet wurde, machte deutlich, dass bei dem Tagungsthema noch viele Fragen offen sind. Die bisherigen Forschungen konzentrierten sich fast ausschliesslich jeweils auf eine nationale Historiographie. Aber auch dort sind die Forschungsstaende sehr unterschiedlich. Komparative und beziehungsgeschichtliche Forschungen zur ostmitteleuropaeischen Historiographiegeschichte gibt es bisher kaum. Deutlich wurde auch, dass die Bestimmung von Kriterien, nach denen die historiographischen Arbeiten bewertet werden koennen, noch weiterer Diskussion beduerfen. Wann kann man von "Erkenntnisfortschritt" sprechen und wo liegen die Grenzen einer noch zulaessigen Politisierung? Ist "Erkenntnisfortschritt" in diesem Zusammenhang ueberhaupt ein fruchtbarer Begriff? Inwieweit ist die "Einhaltung professioneller Standards" ein hilfreiches Kriterium? Eine weitere Klaerung dieser und aehnlicher Fragen scheint auch noetig zu sein, um eine konzeptionelle Grundlage fuer vergleichende und beziehungsgeschichtliche Forschungen zu gewinnen. Zugleich ist aber auch zu erwarten, dass sich die Bewertungskriterien erst im Zuge weiterer derartiger Forschungen in produktiver Weise klaeren lassen.

Am Abschluss der Tagung stand die Festveranstaltung zum Jubilaeum des Herder-Instituts, auf der Juergen Kocka (Berlin) den Festvortrag zum Thema "Das oestliche Mitteleuropa als Herausforderung fuer eine vergleichende europaeische Geschichte" hielt. Wenn man eine Geschichtswissenschaft betreiben wolle, die Europa als Ganzes in den Blick nehme, erklaerte Kocka, dann muesse auch das oestliche Europa einbezogen werden. Bisher seien Vergleiche von den deutschen Historikern vorwiegend mit westlichen Laendern vorgenommen worden. Letztlich habe dem die Vorstellung eines westlichen "Normalwegs" der Geschichte zugrunde gelegen, wie sich sich in der Debatte ueber einen deutschen "Sonderweg" gezeigt habe. Wenn man auch das oestliche Europa in einen solchen Vergleich einbeziehe, ergebe sich ein ganz anderes Bild. Am Beispiel des Themas der Entwicklung der buergerlichen Zivilgesellschaft in Europa seit Ende des 18. Jahrhundert skizzierte Kocka dann konkretere Fragestellungen fuer eine vergleichende Einbeziehung Ostmitteleuropas.


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