Kirche, Staat und Gesellschaft nach 1945. Konfessionelle Prägungen und sozialer Wandel

Kirche, Staat und Gesellschaft nach 1945. Konfessionelle Prägungen und sozialer Wandel

Organisatoren
Bernd Hey, Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen, Bielefeld; Johannes Horstmann, Katholische Akademie Schwerte; Kommission für Kirchliche Zeitgeschichte der Bistümer Paderborn und Münster; Kommission für kirchliche Zeitgeschichte der Evangelischen Kirche von Westfalen; Katholische Akademie Schwerte
Ort
Düsseldorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.03.2000 - 25.03.2000
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Von
Norbert Friedrich, Evangelisch-theologische Fakultät Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre, Ruhr-Universität Bochum

Vom 23. bis 25. Maerz 2000 fand in der Katholischen Akademie Schwerte eine Studientagung statt, die sich mit der Geschichte der beiden Kirchen nach 1945 beschaeftigte und dabei wesentliche Weichenstellungen der fuenfziger und sechziger Jahre fuer die Konfessionen untersuchen wollte. Gerade die Perspektive eines konfessionellen Vergleichs erwies sich dabei als ausserordentlich fruchtbar, ermoeglichte sie doch, spezifische Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich herauszustellen. Die Tagung war eine Kooperationsveranstaltung der Kommissionen fuer Kirchliche Zeitgeschichte der Bistuemer Paderborn und Münster unter Federfuehrung der Kommission fuer kirchliche Zeitgeschichte der Evangelischen Kirche von Westfalen. Die Tagungsleitung lag bei Bernd Hey (Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen, Bielefeld) und bei Johannes Horstmann (Katholische Akademie Schwerte). Der folgende Tagungsbericht ist eine Zusammenstellung der Zusammenfassungen, die die einzelnen Referenten erstellt haben.

Axel Schildt (Hamburg) gab einleitend einen Ueberblick ueber Politik, Gesellschaft und Kultur der 60er Jahre. Er kennzeichnete jene Dekade am Ende der Nachkriegszeit insgesamt als entscheidenden Umbruchszeitraum in der Geschichte der Bundesrepublik - in Abgrenzung zur haeufig anzutreffenden Vorstellung, der zufolge die "bleiernen Zeiten" erst durch die Revolte von "1968" beendet worden seien. Der Uebergang zur postindustriellen Gesellschaft, die Multikulturalisierung durch Arbeitsimmigration, die Herausbildung moderner Lebensstile auf der Basis enorm gestiegener Konsummoeglichkeiten und massenmedialer Angebote korrespondierten neuen Tendenzen in der politischen Kultur und Oeffentlichkeit, die sich am Ende der60er Jahre kumulativ radikalisierten. Als besonders charakteristisch hervorgehoben wurde in diesem Zusammenhang die bis zur Reformeuphorie aufgipfelnde Diskussion ueber infrastrukturelle Fragen (Stadtplanung, Bildung, Rechtswesen u.a.) und die Verbindung von politischem Protest, jugendlicher Gegenkultur und deren aesthetisch- medialer Stilisierung.

Frank-Michael Kuhlemann (Bielefeld) plaedierte in seinem einleitenden Vortrag ueber den Nachkriegsprotestantismus dafuer, bereits die fuenfziger Jahre und nicht erst die sechziger Jahre als eine Epochenschwelle im Transformationsprozess des Protestantismus im 20. Jahrhundert zu begreifen. Er wandte sich damit gegen gaengige Interpretationen, die die fuenfziger Jahre noch ganz in den kulturellen Kontinuitaeten seit den 1920er Jahren verorten. Entscheidende Aspekte eines grundlegenden Wandels sah Kuhlemann, trotz aller nach wie vor gegebenen traditionalen Ueberhaenge, in einem neuen Verhaeltnis der Protestanten zur Politik, in der Ueberwindung des politischen und kulturellen Konfessionalismus sowie in der Entwicklung eines neuen nationalprotestantischen Selbstverstaendnisses. Dabei war die politische Mentalitaet der Protestanten offen sowohl fuer die Konzeptionen eine “europaeischen Nationalismus” Konrad Adenauers als auch eines “friedensbewegten Neutralismus”, der sich etwa im Umfeld Gustav Heinemanns und der Gesamtdeutschen Volkspartei artikulierte.

Wilhelm Damberg (Bochum/Muenster) hielt ein Korreferat zur Einleitung von Axel Schildt unter dem Thema: “Katholiken im Umbruch. Zur historischen Verortung des II. Vatikanischen Konzils”, das von der Einsicht ausging, dass auch eine regionalgeschichtlich ausgerichtete Tagung, die den Wandel von Kirche und Katholizismus in den 60er Jahren beleuchtet, sich notwendig mit dem kirchengeschichtlichen Grossereignis dieses Konzils befassen muss, das die Denk- und Lebensformen der Katholiken, insbesondere Selbst- und Fremdwahrnehmung einschliesslich entsprechender Handlungsimperative in Richtung auf Begriffe wie “Dialog” und “Oeffnung” nachhaltig veraenderte. Zugleich zerstoerte es die Legitimationsgrundlage des katholischen Sozialmilieus, dessen Neuformierung nach 1945 offenkundig an seine Grenzen stiess und bereits deutliche Erosionssymptome zeigte. In der Folge kam ein Transformationsprozess des Milieus in Richtung auf eine innere Pluralisierung in Gang.

Benedikt Kranemann (Erfurt) untersuchte die Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) im Bistum Muenster, die durch Bemuehungen um eine Erneuerung des liturgischen Lebens seit den 20er Jahren im Bistum vorbereitet war. Die Liturgiereform ist noch waehrend des Konzils in Angriff genommen worden (bereits 1964/65 Bildung einer Liturgiekommission). Markante Punkte waren Veraenderungen der gottesdienstlichen Ordnungen, die Einfuehrung und Umsetzung neuer muttersprachlicher liturgischer Buecher, der Um- und Neubau von Kirchen, staerkere Teilnahme der Glaeubigen, auch in verschiedenen Laiendiensten etc. Die Reform wurde unter starker Teilnahme und mit grosser Akzeptanz auch der Laien umgesetzt. Sie wurde mit einer wachsenden religioesen Pluralisierung, einem zunehmend staerker subjektiven Liturgieverstaendnis sowie der Infragestellung tradierter liturgischer Formen konfrontiert. Bereits seit den 50er Jahren sank zudem der Gottesdienstbesuch. Die Reformvorstellungen zur Liturgie haben sich im 20. Jahrhundert mit Veraenderungen in Kirche und Gesellschaft gewandelt. Die Entwicklung verlaeuft vom Versuch der Intensivierung der religioesen Praxis und dem Bemuehen um mehr Muttersprachlichkeit zwecks staerkerer Partizipation der Glaeubigen hin zur Veraenderung der materialen Gestalt der Liturgie und zum Versuch, durch neue gottesdienstliche Formen der “Saekularisierung” und der Ausdifferenzierung von Glaubensbiographien nachzukommen. Die Rolle der Laien ist jetzt gekennzeichnet durch zunehmende liturgische Kompetenz, Mitverantwortung fuer die Liturgie und Teilhabe an der Gestaltung der Gottesdienste.

Juergen Kampmann (Muenster/Loehne) stellte das gemeinsame Bemuehen der evangelischen Landeskirchen wie der katholischen Bistuemer in (Nordrhein-) Westfalen um eine Reform des Verfahrens zur Erhebung von Kirchensteuern nach 1945 dar. In beiden Konfessionen war man geleitet von dem Interesse, moeglichst zeitnah zur aktuellen Einkommenssituation der Kirchensteuerpflichtigen zu veranlagen (“Gegenwartsbesteuerung”) und durch Einfuehrung des sogenannten Lohnabzugsverfahrens personalkostensparend zu arbeiten. Katholischerseits kam das Bestreben hinzu, die Moeglichkeit gesetzlich zu verankern, nicht nur auf Orts-, sondern auch auf Dioezesanebene Kirchensteuern erheben zu koennen; evangelischerseits stand bei den Bemuehungen um eine Neuordnung ebenfalls das Interesse im Hintergrund, landeskirchlicherseits eine rechtliche Handhabe gegenueber den Ortskirchengemeinden zu erlangen, einen landesweit einheitlichen Kirchensteuerhebesatz durchzusetzen. Entsprechend umstritten war die Reform innerkirchlich; trotz Behauptung des Gegenteils waren die von Befuerwortern und Gegnern ins Feld gefuehrten theologischen Argumentationen aber eher flach. Ins Auge faellt, dass man sich besonders seitens der Landesregierung und aus den politischen Parteien im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens 1949/1950 dafuer einsetzte, dass die Rechte der Ortskirchengemeinden im Zuge der Reform nicht zu stark beschnitten wurden.

Karl Eugen Schlief (Muenster) stellte die Entwicklung von der Ortskirchensteuer zur Dioezesankirchensteuer dar. An der Geschichte der Kirchensteuer laesst sich der Weg von der Staatskirchenhoheit im 19. Jahrhundert bis zum heutigen Verhaeltnis von Staat und Kirche verfolgen, das auf dem Boden beiderseitiger Freiheit und Unabhaengigkeit beruht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat noch das preussische Gesetz betr. die Erhebung von Kirchensteuern in den katholischen Kirchengemeinden und Gesamtverbaenden vom 14. Juli 1905 gegolten, das das Ortskirchensteuersystem festschrieb. Wesentliche Kennzeichen dieses Systems waren die restriktive Staatsaufsicht, die Vergangenheitsbesteuerung, die fehlende Moeglichkeit des Lohnabzugs und die Unmoeglichkeit eines Finanzausgleichs zwischen Bistum und Kirchengemeinden. Da das Ortskirchensteuersystem nicht geeignet war, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu bewaeltigenden Aufgaben des Wiederaufbaus und eines Neuanfangs zu loesen, wurde es durch das Gesetz ueber die Erhebung von Kirchensteuern im Land Nordrhein-Westfalen vom 15. Februar 1950 abgeloest, das den Kirchen ermoeglichte, die Dioezesankirchensteuer einzufuehren. Aber erst das Gesetz ueber die Erhebung von Kirchensteuern im Land Nordrhein-Westfalen vom 30. April 1962 brachte die Kirchensteuerreform nach 1945 zum Abschluss, indem es die staatlichen Vorschriften beseitigte, die dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen widersprachen.

Helmut Geck (Recklinghausen) referierte ueber das Thema “Kirche in einer Zeit des Umbruchs – Die Verwaltungs- und Finanzreform von 1968/69”. Der Referent stellte die beiden innerhalb der Evangelischen Kirche von Westfalen (EKvW) durchgefuehrten Reformen vor und analysierte deren Intentionen vor dem Hintergrund der politischen Reformbewegungen, die in den 60-er Jahren des 20.Jahrhunderts ueberall in der Bundesrepublik oeffentliches Aufsehen erregten. In dieser Zeit des Umbruchs reformierte die EKvW zunaechst ihren kirchlichen Verwaltungsdienst, indem sie ihn durch die Einrichtung von Kreiskirchenaemtern vereinheitlichte, durch die Einstellung von ausgebildeten Verwaltungsfachleuten professionalisierte und schliesslich durch den Einsatz von EDV – Anlagen rationalisierte. Im Jahre 1969 reformierte die EKvW darueber hinaus auch ihre Finanzwirtschaft, indem sie durch einen gesetzlich geregelten Finanzausgleich die zwischen armen und reichen Kirchengemeinden, bzw. Kirchenkreisen bestehende “Gerechtigkeitsluecke” schloss. Als leitendes Interesse stand hinter der Finanzreform von 1969 die damals von einer breiten Oeffentlichkeit geforderte Durchsetzung von Prinzipien wie “Solidaritaet”, “Gerechtigkeit”, “Transparenz” und “Eigenverantwortlichkeit”. Da beide Reformen die Bedeutung der Kirchenkreise fuer die Organisationsstruktur der EKvW ins Bewusstsein der kirchlichen Oeffentlichkeit rueckten, sind sie gegenwaertig Gegenstand der Kirchenkreisgeschichtsforschung.

In einem zweiten Beitrag unter dem Titel: “Alle Macht den Raeten? Reformen in Leitung und Verwaltung des Bistums Muenster 1965-1972” beleuchtete Wilhelm Damberg die organisationsgeschichtlichen Konsequenzen, mit dem das Bistum auf diesen Paradigmenwechsel reagierte. Zunaechst wurde ein vergleichsweise offen strukturierter innerer Kommunikations-Prozess initiiert (“Dialog”, 1965/66), gefolgt vom Ausbau eines umfaenglichen Raetesystems (ab 1967), das jedoch infolge unklarer Kompetenzabgrenzungen bald einer “Flurbereinigung” unterworfen wurde. Etwas zeitversetzt wurde ein “Strukturplan” entworfen und diskutiert, der groessere Seelsorgeeinheiten unter maximaler Partizipation der Katholiken zur Steigerung konziliar definierter seelsorglicher und sozialer “Dienstleistung” ausbilden wollte. Ab 1970 jedoch verabschiedete sich das Bistum von diesen Visionen, die in offenkundiger mentalitaetsgeschichtlicher Parallele zu den (gleichfalls gescheiterten) sozialtechnologischen Ambitionen der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt standen.

Den “Kulturkampf in der Nachkriegsaera”, also die Konflikte um die Wiedererrichtung bzw. Beibehaltung der Konfessionsschulen behandelte Joachim Kuropka (Vechta) am Beispiel der Laender Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Es handelt sich gewissermassen um einen klassischen Konflikt zwischen insbesondere der katholischen Kirche, Staat und Gesellschaft mit einer starken Massenmobilisierung, in dem vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der NS-Zeit um die Chancen der Glaubensweitergabe wie um den Einfluss der Kirche in der Oeffentlichkeit gerungen wurde. Aus dem ungeloesten Konflikt in Niedersachsen erwuchs die Verfassungsgerichtsentscheidung über die Fortgeltung des Reichskonkordats und in deren Folge eine Nueubestimmung des Verhaeltnisses von Staat und Kirchen, die durch das Verhalten der Katholischen Kirche bei Abschluss des Niedersachsenkonkordats zum Ende der volkskirchlichen Bewegung fuehrte.

Albrecht Geck sprach zum Thema “'Evangelische Unterweisung’ statt 'Religionsunterricht’ Der konzeptionelle Neuanfang des evangelischen Religionsunterrichts in der Nachkriegszeit” In einem ersten Hauptteil behandelte der Vortrag die schulpolitischen und religionsdidaktischen Grundentscheidungen der Vorlaeufigen Leitung der Evangelischen Kirche von Westfalen und der ersten Nachkriegssynoden sowie deren politische, kirchenpolitische und theologiegeschichtliche Voraussetzungen. Nach Jahrzehnten der Zurueckdraengung der Kirche aus dem oeffentlichen Leben in der Weimarer Republik und schliesslich sogar des offenen Kampfes gegen die Kirche unter den Nationalsozialisten eroeffnete die kirchenfreundliche Politik der Alliierten die Chance, verlorenes Terrain zurueckzugewinnen. Vor dem Hintergrund des kirchenpolitischen Erbes der Bekennenden Kirche stiess der schulpolitische Einsatz fuer die evangelische Bekenntnisschule als staatliche Regelschule dann freilich schon bald auf Kritik. In einem zweiten Hauptteil behandelte der Vortrag die von Schulrektor Wilhelm Schlepper aus Bad Salzuflen in die Praxis umgesetzte religionsdidaktische Grundsatzentscheidung fuer die “Evangelische Unterweisung” gegen den am humanistischen Bildungsideal orientierten “Religionsunterricht”. In den fuer die Volksschule konzipierten Unterrichtswerken Evangelische Unterweisung (1947) und Biblische Geschichte (1948) entwarf Schlepper den Religionsunterricht vom Verkuendigungsauftrag der Kirche her. Ziel des Unterrichts sei es, die Schueler "in den lebendigen Zusammenhang mit der Gemeinde" zu bringen, weshalb der Religionslehrer selbst bekennender evangelischer Christ und aktives Glied seiner Gemeinde sein muesse. Insgesamt wurde deutlich, dass und warum die religionsdidaktische Konzeption der “Evangelischen Unterweisung”, obwohl sie den Anforderungen einer weitgehend saekularisierten und v.a. pluralisierten Gesellschaft heute nicht mehr gerecht zu werden vermag, nach der Katastrophe zweier Weltkriege ihren Kairos hatte. Denn natuerlich gebuehrte einer Konzeption, die in Gericht und Gnade das Urteil ueber die Vergangenheit sprach und darin zugleich Zukunft eroeffnete, damals die Deutungshoheit.

“Akademischer Bieresel” ode “theophiler Revoluzzer”? Zwischen diesen beiden zeitgenoessischen Zuschreibungen lotete Thomas Grossboelting (Muenster) das Konfliktverhalten und die Protestformen katholischer Studierender zum Ende der sechziger Jahre aus. Wo auf der einen Seite das Zweite Vatikanische Konzil bis zu diesem Zeitpunkt unhinterfragte theologische und kirchliche Positionen zur Diskussion gestellt hatte, bot auf der anderen Seite die Studentenbewegung ein Set von Artikulations- und Protestformen. Auf den unterschiedlichen Ebenen der Gemeinde- und Verbandsorganisationen wurde der Impuls von "1968" unterschiedlich aufgenommen: Insbesondere die Dachorganisation Katholische Deutsche Studenten- Einigung versuchte als Schrittmacher einer gesellschafts- und kirchenkritischen Opposition zu wirken. Dabei verlor sie aber den Kontakt zu einem grossen Teil der Basis in den Studentengemeinden vor Ort, die die 'Politisierung’ ihrer Einrichtungen nicht mittragen wollten. Trotz eines Versandens der kirchenkritischen Anstoesse blieben aber die ,kulturrevolutionaeren’ Folgen von "1968" evident: Es blieben alternative Lebensformen und religioese Praktiken, die sich nicht mehr in die traditionelle Katholizitaet integrieren liessen.

Norbert Friedrich (Hagen/Bochum) untersuchte die Geschichte der Evangelisch-theologischen Fakultaeten in Bochum, Muenster und Bethel (Kirchliche Hochschule) in der Nachkriegszeit. Anders als in den theologischen Konflikten der 60er Jahre, die im Detail zwischen den Fakultaeten nicht zu unueberwindlichen Bruechen innerhalb der wissenschaftlichen Theologie fuehrten, veraenderte sich die Situation unter dem Eindruck der Politisierung der Theologie und der Forderungen einer neuen Generation von Studierenden durch die Protestbewegung von “1968” vollstaendig. Dabei waren, trotz aller Unterschiede zwischen den Fakultaeten, die Entwicklungen an den Fakultaeten im Grundsatz vergleichbar, wenn auch die Konflikte an der Fakultaet in Bochum besonders tief gingen.

Martin Stiewe (Bielefeld) behandelte die Feiertagsgesetzgebung in Nordrhein-Westfalen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Feiertagsgarantien dienen auch in einer offenen Gesellschaft dem Konsens. Der gesetzliche Schutz kirchlicher Feiertage setzt deshalb eine moeglichst einvernehmliche Regelung zwischen Staat und Kirche voraus. Obwohl die Kirchen nach 1945 als durch den Nationalsozialismus unbelastete, moralische Institutionen anerkannt waren, war eine Uebereinkunft damals nur schwer zu erreichen, zumal sich die Kirchen ueber die zu schuetzenden Feiertage nicht einigen konnten.

Reinhard van Spankeren (Muenster) sprach zum Thema “Reform von Kirche und Gesellschaft” – Die Diakonie im Umbruch 1968.” Die unvollendete Revolution von ’68 erreichte als ungewollte Rebellion auch die Diakonie. Aus der Diakonie im (Wieder-)Aufbau wurde die Diakonie im sozialstaatlichen Ausbau. Die komparatistische Blickrichtung zeigt, dass dies grosso modo auch fuer die katholische soziale Arbeit gilt. Erst im Gefolge der Umbrueche von ’68 erlebte die Diakonie endgueltig so etwas wie ihre innere Sozialstaatsgruendung. Hiermit wurde die Verbindung von Diakonie und sozialem Rechtsstaat vom proklamierten Programm zur Praxis - mit positiven Auswirkungen fuer die Hilfsbeduerftigen. Die diakonischen 60er Jahre, die mit der Reform der Sozialgesetzgebung 1961/62 beginnen und bis weit in die 1970er Jahre reichen, bringen diese Entwicklung zum Abschluss und markieren einen fundamentalen diakoniehistorischen Wandel, der sich in dem Jubilaeums-Buchtitel “Reform von Kirche und Gesellschaft” (1973) treffend und anschaulich widerspiegelt. Zu fragen ist allerdings, ob - gegen die Intention der damaligen Akteure - in diesem Zeitalter der Reform nicht auch Prozesse gebuendelt und beschleunigt wurden, die die Entwicklung vom Sozialstaat zum Sozialmarkt kraeftig gefoerdert haben.

Praelat Joseph Becker, Vorsitzender des Caritasverbandes fuer das Erzbistum Paderborn e.V., verdeutlichte den Einfluss der Sozialgesetzgebung auf die Entwicklung des kirchlich-caritativen Dienstes. Kirchliches Engagement im sozialen Bereich lebt zwar aus spezifischen Traditionen und Motivationen, ist jedoch spaetestens seit der Weimarer Reichsverfassung als Teil der freien Wohlfahrtspflege in einen staatlichen Handlungsrahmen eingebunden, der vor allem mit dem Regulativ der Finanzierung arbeitet. Mit dem Bundessozialhilfegesetz (1961), das einen gewissen Vorrang freier Traeger vor oeffentlicher Fuersorge festschreibt, begann auch im Caritas-Bereich ein systematischer Ausbau von Diensten und Einrichtungen. Am Beispiel des Caritas- Verbandes fuer das Erzbistum Paderborn, dem als Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege heute ueber 2.000 caritative Dienste und Einrichtungen mit ca. 35.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angeschlossen sind, machte Becker auf die Chancen, aber auch auf die Risiken dieser Entwicklung der letzten vierzig Jahre aufmerksam. Angesichts der heutigen Oekonomisierung des Gesundheits- und Sozialsystems bei gleichzeitigem Abbau sozialstaatlicher Leistungen fuer die freien Traeger wird auch der kirchlich-soziale Dienst in den kommenden Jahren wesentliche Veraenderungen erfahren. Hierzu gehoeren u.a. neue Traegerstrukturen bei gleichzeitiger Konzentration auf (finanzierbare) Kernaufgaben, die Staerkung des christlichen Propriums von Diensten und Einrichtungen sowie die Unterstuetzung von Ehrenamts- und Selbsthilfepotentialen.

Kerstin Winkler (Bielefeld) untersuchte am Beispiel der Westfaelischen Diakonissenanstalt Sarepta in Bielefeld-Bethel, welche Auswirkungen die gesellschaftliche Etablierung der Frauenerwerbstaetigkeit auf Situation der Frauen in der Mutterhausdiakonie hatte. Lange Zeit galt es in der Mutterhausdiakonie als “undiakonisch”, fuer eine Taetigkeit im Bereich der Naechstenliebe ein Gehalt zu verlangen. Doch zwang die Zunahme an konkurrierenden Berufen und der daraus resultierende Schwesternmangel das Mutterhaus Sarepta – wie auch andere Mutterhaeuser des Kaiserswerther Verbandes – zu einer Kompromissloesung: Die Bildung einer Freien Hilfsschwesternschaft, einer im Vergleich zur Diakonissenschaft offeneren Schwesternschaftsform.

Eine Tagungsdokumentation wird im Winter 2000/2001 in der Reihe “Beitraege zur Westfaelischen Kirchengeschichte” (Luther-Verlag, Bielefeld erscheinen.)

Kontakt

Dr. Norbert Friedrich
Ruhr-Universitaet Bochum
Evangelisch-theologische Fakultaet
Lehrstuhl fuer Christliche Gesellschaftslehre
44780 Bochum
Telefon: 0234/3226875
Fax: 0234/32214106


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