Musikwissenschaft im Nationalsozialismus und in faschistischen Regimen. Kulturpolitik - Methoden - Wirkungen

Musikwissenschaft im Nationalsozialismus und in faschistischen Regimen. Kulturpolitik - Methoden - Wirkungen

Organisatoren
Musikwissenschaftliches Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Gesellschaft für Musikforschung; Landesmusikakademie Rheinland-Pfalz
Ort
Engers
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.03.2000 - 11.03.2000
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Von
Christoph Hust, Boppard; Thorsten Hindrichs, Mainz

Nachdem die Veroeffentlichung der deutschen Uebersetzung des Buches "Sonderstab Musik. Organisierte Pluenderungen in Westeuropa 1940-45" (Koeln: Dittrich 1998) von Willem de Vries im Herbst 1998 fuer einiges Aufsehen in der Musikwissenschaft gesorgt hatte, veranstaltete das Musikwissenschaftliche Institut der Johannes Gutenberg-Universitaet Mainz in Verbindung mit der Gesellschaft fuer Musikforschung und der Landesmusikakademie Rheinland-Pfalz vom 8. bis 11. Maerz 2000 in Schloss Engers bei Neuwied eine Internationale Tagung zum Thema "Musikwissenschaft im Nationalsozialismus und in faschistischen Regimen. Kulturpolitik – Methoden – Wirkungen". Christoph-Hellmut Mahling begruesste die zahlreich erschienenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer in sehr persoenlich gehaltenen Worten und mahnte "Fingerspitzengefuehl" fuer einen behutsamen Umgang mit der Thematik an. Zunaechst brachte der Mainzer Historiker Winfried Baumgart Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Nationalsozialismus und Faschismus in seinem kontrovers diskutierten Eroeffnungsvortrag zur Sprache. Matthias Pape zog eine Linie "Versailles – Weimar – Potsdam", anhand derer er seine Sicht der "nationalpolitischen Voraussetzungen der Musikforschung im Dritten Reich" vorstellte. Auch Birgitta Maria Schmid konzentrierte sich in ihrem Beitrag ueber "Die Idee des Nationalstaates und die Instrumentalisierung der Musikwissenschaft und des Schreibens ueber Musik vor 1933" auf historische Wurzeln nationaler Tendenzen im Schrifttum ueber Musik, die sie bis hin zu Daniel Schubart zurueckverfolgte. In seinem Referat ueber "Schweigsame Musikwissenschaft. Noetige und unnoetige Schwierigkeiten im Umgang mit der Vergangenheit" bedauerte Peter Guelke die "versaeumte Aufrichtigkeit" des Faches bei der zu spaet in Gang gekommenen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. So sei beispielsweise der zeitgenoessische Kontext eines ehedem gaengigen Sprachklimas inzwischen nicht mehr vollends rekonstruierbar.

Manfred Schuler ("Zum voelkisch-nationalen Denken in der deutschen Musikwissenschaft") wies an den Beispielen Josef Maria Mueller-Blattau und Ernst Buecken nach, wie der Nationalsozialismus sich eines weithin bereits vorgeformten Arsenals an Begriffen und Denkmodellen bedienen konnte, die ernst zu nehmen heutigentags nicht immer leicht faellt. "Zum national- sozialistischen Diskurs ueber das 'Deutsche' in der Musik" demonstrierte Bernd Sponheuer, dass jener einen nationalen Diskurs des 19. Jahrhunderts transformierte und, obgleich weder historisch-empirisch noch rassenideologisch verifizierbar, bis 1945 kontinuierlich fortgefuehrt wurde. Thomas Phleps ("Was bedeutet: Aufarbeitung der Musikwissenschaft in NS-Deutschland?") rekurrierte auf die Reichsmusiktage des Jahres 1938 in Duesseldorf, um die "Selbstgleichschaltung" der etablierten Musikwissenschaft an das nationalsozialistische System darzulegen. "'Das germanische Tonsystem'. Musikwissenschaftliches Mittelalter in der ersten Haelfte des 20. Jahrhunderts" war Gegenstand der Ausfuehrungen von Franz Koerndle, der die Schwierigkeiten bei der Einordnung des Mittelalters als integralem Baustein einer deutschen Musikgeschichte formulierte. Eckhard John verwies in seinem Referat ueber "Legendenbildung und kritische Rekonstruktion. 10 Thesen zur Musikforschung im NS-Staat" auf den Tagungsbericht Bern 1996 ("Musikwissenschaft – eine verspaetete Disziplin? Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglauben und Modernitaetsverweigerung", hrsg. von Anselm Gerhard, Stuttgart, Weimar: Metzler 2000) und die bereits an dieser Stelle von ihm aufgestellten Forderungen nach intensiver Aufklaerung (S. 257-279), die nach wie vor nichts an Aktualitaet eingebuesst haetten. Michael Walter entwickelte "Thesen zur Auswirkung der dreissiger Jahre auf die bundesdeutsche Nachkriegs-Musikwissenschaft" und sah eine methodische Konsequenz der Musikwissenschaft nach 1945 in einer verbreiteten Flucht in den Positivismus, die zur Bevorzugung von Quellen- und Editionsarbeit an Stelle von Sozialgeschichte gefuehrt habe.

An der anschliessenden round table-Diskussion wirkten unter der Gespraechsleitung von Ludwig Finscher Marius Flothuis, Peter Guelke, Klaus Wolfgang Niemoeller, Alexander Ringer und Juerg Stenzl mit. Als Diskussionsgrundlage gab Ludwig Finscher "Bemerkungen zum Stand der Diskussion" um "Musikwissenschaft und Nationalsozialismus" heraus. Im Mittelpunkt des Gespraechs stand die Frage nach den Entstehungsumstaenden der ersten Auflage der Enzyklopaedie "Die Musik in Geschichte und Gegenwart". Finscher plaedierte fuer eine differenzierte Betrachtungsweise sowohl von erster und zweiter Auflage als auch, innerhalb beider Auflagen, der einzelnen Artikel. Zusammenhaenge zwischen einem enzyklopaedischen Projekt Herbert Gerigks aus dem Jahre 1939 und der 1943 annoncierten "MGG" im Baerenreiter-Verlag, herausgegeben von Friedrich Blume ("Deutsche Musikkultur", 8. Jg. [1943], Heft 3/4, August/November 1943, A3), wie Eva Weissweiler sie in ihrem Buch "Ausgemerzt! Das Lexikon der Juden in der Musik und seine moerderischen Folgen" (Koeln: Dittrich 1999, S. 48-60) sieht, seien bisher unbewiesen. Diese Einschaetzung bestaetigte Ruth Blume- Baum, die ueber ihre juengsten Nachforschungen zur heutigen Quellenlage bezueglich der Fruehgeschichte von Friedrich Blumes "MGG" Auskunft gab. Verbindungen mit Gerigks Projekt seien weder im Kasseler Verlagsarchiv noch in den Kieler Bestaenden (darunter die namentlich gezeichneten Karteikarten der Stichwortsammlung) dokumentiert. Eva Weissweiler wandte ein, im Briefwechsel Gerigks sei dessen Projekt als "Die Musik in Geschichte und Gegenwart" bezeichnet. Thomas Schipperges wies auf die Enzyklopaedie "Die Religion in Geschichte und Gegenwart" ("RGG") hin, deren Titel als Vorbild fuer zwei ansonsten voneinander unabhaengige Nachschlagewerke gedient und eine moegliche Namensduplizitaet bewirkt haben koennte. Pamela M. Potter sprach ueber "Deutsche Musikwissenschaft im Nationalsozialismus aus amerikanischer Sicht". Diese Sicht sei, wenigstens bis in die 1980er Jahre, wesentlich vom Einfluss emigrierter Musikwissenschaftler und deren Schwerpunkte auf die US-Forschung gepraegt, was eine Kontinuitaet zentraler Themenstellungen zwischen deutscher Musikwissenschaft vor 1933 und US-amerikanischer musicology bewirkte. "Der Deutsche Saengerbund und die Rolle der Musikwissenschaft in den 30er Jahren" war das Thema des Referates von Friedhelm Brusniak, in dem er mit reichhaltigem Quellenmaterial die Organisationsform des Deutschen Saengerbundes als ein Netz von Querverbindungen beschrieb, dessen intellektueller Kopf die "Deutsche Saengerschaft" unter Mitwirkung Mosers und Mueller-Blattaus war. Willem de Vries berichtete ueber "Weitere Recherchen nach dem Schicksal von Beutemusik in Polen und Russland". Obwohl die Anwesenheit des ERR in Schlesien zur Zeit noch nicht exakt zu dokumentieren sei, faenden sich Hinweise auf eine Beteiligung Gerigks und Boettichers an der Beschlagnahmung von "zwei Koffern Chopiniana" bereits 1940. "Fascismo – kein Thema?" fragte Juerg Stenzl, um auf Gefahren einer "Entlastungsforschung" hinzuweisen, wie sie ein Vergleich zwischen nationalsozialistischer Musikwissenschaft und der des fascismo berge; beispielsweise habe keiner der vor 1922 etablierten italienischen Musikforscher zu Mussolinis "Fahnentraegern" gezaehlt. Die Politikwissenschaftlerin Andrea Hoffend referierte ueber "Die Beziehungen zwischen nationalsozialistischem Deutschland und faschistischem Italien im Bereich der Musik" als Bestandteil einer "Bruecke der Freundschaft" zwischen den unterschiedlichen kulturpolitischen Programmen beider Laender. "Musikwissenschaft unter neutralem Regime. Die Schweizer Situation in den 20er bis 40er Jahren" sei, so Heidy Zimmermann, auch beispielsweise durch Kooperationsprojekte der SMG mit dem EdM bei Senfl- Ausgaben charakterisiert: Nicht radikale Abgrenzung, sondern diplomatisches Abwaegen eigener Interessen – auch im Sinne einer "geistigen Landesverteidigung" – habe das Bild bestimmt. Bemerkungen zum dritten Kongress der IGMW in Barcelona 1936, besonders ueber die Vorverhandlungen zur Wahl eines neuen Praesidenten dieser Gesellschaft, machte Bernat Cabero. In diesem Zusammenhang dokumentierte er Heinrich Besselers briefliche Einflussnahme auf Higini Anglès. Bernhard Bleibinger setzte sich mit dem "Mythos Marius Schneider" auseinander und differenzierte dessen Bilder zwischen dem eines "Agenten im Dienste der Musikwissenschaft", eines "Handlangers der Nationalsozialisten" und eines "verfolgten Emigranten". "Zum Musikleben in Holland waehrend der deutschen Besatzung (1940-1945)" berichtete Pauline Micheels vor allem ueber die Geschicke des juedischen Sinfonieorchesters in Amsterdam, das sich aus im Zuge der "Arisierung" des Musiklebens entlassenen Instrumentalisten zusammensetzte. In den Mittelpunkt seines Vortrags "Musikpublizisten und der Nationalsozialismus" stellte Fabian R. Lovisa den Kritiker Heinrich Strobel, an dessen Beispiel er Auswirkungen des Kritikverbotes darlegte, das Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Maerz 1934 erstmals formuliert hatte. Mit Strobel beschaeftigte sich auch Manuela Schwartz ("'Eine versunkene Welt' – Heinrich Strobel als Musikkritiker, Essayist und Redner in Frankreich (1939-1945)"); dessen publizistisches Wirken erstreckte sich im deutsch besetzten Paris von systemkonformer Einflussnahme auf das dortige Musikleben bis hin zu freier journalistischer Taetigkeit. Rudolf Flotzinger dokumentierte anhand von "Drei Fallbeispielen zum Tagungsthema aus Oesterreich" den Einfluss nationalsozialistischer Kulturpolitik auf die oesterreichische Musikwissenschaft. So versuchte Robert Lach "die grossdeutsche Kultureinheit in der Musik" zu konstruieren, in der Frage der Besetzung eines neu eingerichteten Ordinariats fuer Musikwissenschaft an der Universitaet Graz entschied 1940 letztendlich der Ministerialrat im Reicherziehungsministerium Frey fuer Herbert Birtner, und Frey war auch in die Vorgaenge um die Kommission fuer Musikforschung an der Wiener Akademie der Wissenschaften verwickelt. Eva Weissweiler ("Die geraubte Identitaet: Deutsche Volksmusikforschung und ihr Zugriff auf Volksmusikarchive in Osteuropa") berichtete ueber ihr gegenwaertiges Forschungsprojekt zum Musikraub in Volksmusikarchiven Polens und Weissrusslands, den sie anhand mehrerer Briefe dokumentierte. "Edwin von der Nuell – Ein Bartók-Forscher im NS-Staat" war das Thema Friedrich Geigers, an dessen Beispiel er der Frage nach Funktionalisierung der musikalischen Moderne im Nationalsozialismus nachging. Christian Martin Schmidt thematisierte "Felix Mendelssohn Bartholdy in der Sicht der Musikwissenschaft des Dritten Reiches", jenen preussischen Komponisten, der, voellig ungeachtet seiner kirchenmusikalischen Kompositionen, als Repraesentant des 'Weltjudentums' als dem 'Erbfeind aller Deutschen' geaechtet wurde. In seinem Beitrag "Guido Adler und andere... Ueber den schwierigen Umgang der Fachdisziplin mit einem ihrer Gruendungsvaeter" stellte Volker Kalisch Adlers mehrfache Totsagung durch die deutsche Musikwissenschaft des ‚Dritten Reichs‘ vor: 1935 durch den von Werner Korte formulierten faktischen Ausschluss Adlers aus dem Kreis der Wissenschaft, 1940 durch die Nennung eines falschen Todesdatums (14. Dezember 1933) in Theophil Stengels und Herbert Gerigks "Lexikon der Juden in der Musik" (Berlin: Hahnefeld 1940, Sp. 16), und schliesslich, im 'Reich' eher unbeachtet, durch seinen tatsaechlichen Tod im Jahre 1941. Thorsten Hindrichs legte in seinem Beitrag ueber "Nationalistische Tendenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts" am Beispiel des Musikwissenschaftlers Fritz Volbach den Einfluss deutschnationalen Gedankenguts auf musikhistorische Konzepte schon weit vor 1933 dar. Die "Vorgaenge um die Nachfolge Arnold Scherings 1941-1946" kennzeichnete Burkhard Meischein als "Akademische Rochaden" und leistete einen Beitrag zur Entwirrung des komplizierten Geflechts an Namen, die im Zusammenhang der Neubesetzung dieser Vakanz in den Quellen genannt sind. Thomas Schipperges' "Bemerkungen zu den Akten 'Heinrich Besseler'" folgten der Vorgabe, dass Musikgeschichte immer auch Geistesgeschichte sei. Gruende fuer Besselers Kooperationsbereitschaft mit dem Nationalsozialismus machte Schipperges gerade auch in dessen privaten Lebensumstaenden aus. Als Beispiel fuer "Universitaere Musikwissenschaft in nationalsozialistischer Zeit" ging Dieter Gutknecht der Verwobenheit von Mitarbeitern des Faches Musikwissenschaft an der Universitaet Koeln mit dem Nationalsozialismus nach. Er belegte dabei zum Beispiel Walter Gerstenbergs wissenschaftsideologische Linientreue und dokumentierte Urlaubsantraege Karl Gustav Fellerers fuer eine nicht naeher bestimmte "Arbeit in Frankreich". Gutknecht betonte, diese Nachforschungen seien bislang noch nicht abge-schlossen. Robert Schmitt Scheubel ("Abert, Blume, Gerber et alii und das plagiierte Lexikon") dokumentierte die Vorgaenge um ein Konkurrenzunternehmen zu Einsteins Riemann-Lexikon Ende der 1920er Jahre, fuer das Hermann Abert federfuehrend zeichnete, das letztendlich aber Plagiatsvorwuerfen ausgesetzt wurde. Zuletzt berichtete Christoph Hust ueber "Das Riemann-Musiklexikon in seiner zwoelften Auflage von 1939", einen schlussendlich gescheiterten und durch die wiederum zwoelfte Auflage der Jahre 1959-75 verschwiegenen Versuch Josef Mueller-Blattaus, Alfred Einsteins elfte Auflage des Lexikons weltanschaulich "auf den Stand der heutigen Zeit" zu bringen. Trotz der Fuelle der gehaltenen Referate zeichnete sich die Tagung durch eine bemerkenswert hohe und konstante Teilnahme aus, was sich auch in einer erfreulichen Offenheit der Diskussionen niederschlug. Der Text der vorgetragenen Referate wird in naechster Zeit publiziert – angesichts der Unmoeglichkeit, die Fuelle der Ergebnisse an dieser Stelle auf knappem Raum befriedigend zusammenzufassen, sei nachdruecklich hierauf verwiesen. Durchweg wurde von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Notwendigkeit einer Weiterarbeit an diesem Thema betont, wie auch Marius Flothuis es in seinem Schlusswort formulierte. Entgegen Friedrich Blumes apodiktischer Aussage ("Bilanz der Musikforschung", in: "Die Musikforschung", 1. Jg. [1948], Heft 1, S. 3) scheint fuer die deutsche Musikwissenschaft "das alte Hauptbuch" also doch noch lange nicht "abgeschlossen".


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