Reinheit und Gewalt. Politische Bewegungen als Gefahr und Gefährdung der Zivilgesellschaft

Reinheit und Gewalt. Politische Bewegungen als Gefahr und Gefährdung der Zivilgesellschaft

Organisatoren
Sebastian Conrad; Julia Eckert; Sven Reichardt; Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE), FU Berlin; Forschungsprojekt "Konflikttreiber - Konfliktschlichter" des Instituts für Ethnologie, FU Berlin; FU Berlin; Volkswagen-Stiftung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.10.1999 - 16.10.1999
Url der Konferenzwebsite
Von
Sven Reichardt

Im Rahmen der Tagung wurde von Historikern und Ethnologen gemeinsam analysiert, wie die Konstruktion von ethnischer, kultureller oder sozialer Reinheit und der Kult der Gewalt als Formen der politischen Praxis und als Mittel zur Überwindung einer 'Krise der Repräsentation' in modernen demokratischen Gesellschaften eingesetzt worden sind.

Mit dem Postulat der 'Reinheit' und dem Kult der Gewalt wurden zwei Strategien untersucht, mit denen sich vor allem politische Bewegungen des 20. Jahrhunderts gegen demokratische Gemeinwesen gerichtet haben. Die Grundlage dieser Bewegungen ist häufig die Diagnose einer fundamentalen 'Krise der Repräsentation'. Damit beziehen sie sich auf ein Legitimationsdefizit demokratischer Entscheidungsprozesse und auf ihre Unzufriedenheit mit der Repräsentation des Volkes im öffentlichen Raum. Die Herausforderung radikaler politischer Bewegungen an eine moderne Zivilgesellschaft besteht darin, die Defizite die mit dieser umfassenden Kritik an bestehenden Formen der Repräsentation angesprochen sind, zu reflektieren und als Grenze oder Korrekturanreiz zu begreifen. Reinheit als Leitidee der sozialen und kulturellen Ordnung ist Teil des ideologischen und programmatischen Instrumentariums verschiedener politischer Bewegungen, die darüber die Einheit und Einheitlichkeit der Nation oder des 'Volkes' herzustellen bestrebt sind. Reinheitskonzeptionen, d.h. Kriterien der Inklusion und Exklusion, haben sich dabei an essentialistischen und naturgesetzhaften Vorstellungen von Rasse, von Kultur, aber auch von Klasse ausgerichtet. Gewalt ist vielfach zum Mittel geworden, diese Einheitlichkeit abzugrenzen und durchzusetzen. Darüberhinaus ist Gewalt selbst zum Medium der Repräsentation stilisiert worden; Gewalt gilt dann als unmittelbarer Ausdruck eines Volkswillens, der sonst nicht repräsentiert werde. Die mit der gewalttätigen Aktion verbundenen Vorstellungen von Spontanität und Erneuerung, von charismatischer Führung, von Selbst- und Männlichkeitsbildern gehen auf in Konzepten von fundamental oppositionellen Formen der Politik und unmittelbarer Repräsentation. Das Verhältnis zur Demokratie bleibt dabei durchaus ambivalent. So ist der demokratische Staat einerseits der politische Gegner - andererseits aber sind demokratische Partizipationsrechte möglicherweise geradezu eine Bedingung für den Aufstieg gewaltsamer Massenbewegungen; der Anspruch auf Massenrepräsentation knüpft dann an Legitimationsmuster an, die auch der Demokratie zugrundeliegen. Auch innerhalb dieser Bewegungen stehen Führerprinzip und der 'Wille der Massen' in einer spannungsreichen und nicht ausschließlich autoritären Beziehung. Die radikalen Bewegungen treten somit nicht nur als Gegner demokratisch verfasster Gesellschaften auf, sondern operieren gleichzeitig innerhalb des von modernen Zivilgesellschaften erweiterten Spektrums von Partizipationschancen.

Von diesen Überlegungen ausgehend wurden für die Tagung vier Panels gebildet. Im ersten Panel "Reinheit und Gewalt als vorgestelltes Konzept und politische Praxis" analysierte zunaechst Daniel Schönpflug (Berlin) in einer Mikrostudie über Strassburg die Urspünge der Zivilgesellschaft während der Französischen Revolution. Dabei ging er von Francois Furets These einer partiellen Verwandtschaft zwischen den demokratischen Anfängen der Revolution und der Diktatur des radikalen Jakobinismus aus. Schönpflug betonte hingegen eher die Brüche, die sich aus einer dramatischen Radikalisierung der Reinheitsvorstellungen ergab, durch die die ursprüngliche Idee der Vereinbarkeit politischer Einheit mit gleichzeitiger kultureller Vielfalt ad absurdum gefuehrt wurde. Thomas Scheffler (Beirut) untersuchte die Ursprünge der neuzeitlichen Körper-, Hygiene- und Reinheitsvorstellungen bis in die vormodernen Gesellschaften hinein. Dabei hob er besonders für das 20. Jahrhundert in seiner tour d'horizon quer durch die ideologische Landkarte vom Nationalsozialismus, italienischen Faschismus bis hin zu Franz Fanons "Die Verdammten dieser Erde" darauf ab, dass "soziale Krisen" als "Krankheiten" des sozialen Körpers imaginiert wurden. Während die alte, vormoderne Körpermetapher zunächst noch keine Einheit der einzelnen Körperteile zueinander kannte, konstruierte man durch die Erkenntnisse der modernen Wissenschaften (und hierunter besonders die Medizin) eine neue reine, chirurgische und einheitlich-organische Körpermetapher, die als virtuelle Realität auf den politischen Raum übertragen wurde und verheerende Wirkungen zeitigte. Thomas Rohkrämer (Lancaster) widmete sich mit Ernst Jünger einem prominenten Vertreter der modernen Gewalt- und Reinheitskonzeptionen, der das Schicksal Deutschlands mit kaltem Blick "von der Blutseite" her betrachtete. Dabei kamen die elitären Aspekte in Jüngers Denken ebenso zur Sprache, wie die Kälte der maschinenhaften Moderne, die in merkwürdiger Spannung zu Jüngers Idealen von einer organisch gedachten kameradschaftlichen Vergemeinschaftung standen. Die über Gewalt vermittelte Harmonisierung der beiden Prinzipien stand dabei im Zentrum von Rohkrämers Überlegungen. In dem Schlußkommentar hob Peter Fritzsche (Illinois) den Machbarkeitswahn der Moderne heraus und verwies damit auf die Ambivalenz der demokratischen Projektes der Moderne.

Im zweiten Panel "Gewalt und Reinheit als Praxis politischer Bewegungen" wurde das Feld der Sprach- und Ideologiekritik verlassen. Sven Reichardt (Berlin) widmete sich einem typologischen Vergleich der Gewaltpraxis der italienischen Squadristen und der deutschen SA während der Aufstiegsphase der faschistischen Bewegungen. Mit dem Instrumentarium der dichten Beschreibung schilderte er die Palette, die von militärisch inszenierten Umzügen und Märschen, gezielten Strafexpeditionen ins Terrain des politischen Gegners über Mordanschläge bis hin zur Besetzung ganzer Städte reichte. Dabei wurde einerseits herausgestellt, dass die faschistische Propaganda kein Ersatz für Gewalt, sondern eine ihrer Seiten war und andererseits, dass der Faschismus seinen alltäglichen Ausdruck mehr im gewalttätigen Aktionismus als in der diffusen und ekklektizistischen Ideologie fand. Julia Eckert (Berlin) analysierte anschliessend die indische Shiv Sena, die im indischen Wissenschaftsdiskurs oftmals als faschistisch eingestuft wird. Sie untersuchte den Kult der Tat und die Legitimierungsstrategien der Gewalt innerhalb dieser mit einem dichten Organisationsnetz ausgestatteten politischen Bewegung. Die Shiv Sena erreichte oft eine örtliche Vorherrschaft, wobei sie Gewalt als Politikmittel einsetzte. Gerade in der hohen Wandlungsfähigkeit der Shiv Sena erkannte sie die Stärke der Bewegung. Tanyl Bora (Ankara) widmete sich der türkischen MHP (Partei der Nationalstischen Bewegung), schilderte deren Aktionsformen, Rhetorik und ihren hegemonial wirkenden "Pop-Nationalismus". Dabei gelangt er zu der Einschätzung, die MHP sei aufgrund der von ihr betriebenen Zersetzung von Politik durch Aktionslust und lauthalsige Propagandaparolen als "proto-faschistisch" einzuschätzen. Im dem Schlusskommentar betonte Thomas Lindenberger (Potsdam) den unterschiedlichen Zustand der öffentlichen Gewaltverhältnisse und die Verschiedenartigkeit der Erwartungshaltungen gegenüber der Ordnung in den drei vorgestellten Gesellschaften.

Im dritten Panel "Reinheit und Gewalt im staatlichen Handeln" wurde das Feld politischer Bewegungen, die weitgehend außerhalb des Staatsapparates standen, kurzfristig verlassen, um einerseits rechte und linke Diktaturformen und deren Herrschaftsgewalt miteinander zu vergleichen und andererseits die Differenzen zu einem Übergang von der Dikatur in die Demokratie zu untersuchen. Armin Nolzen (Bochum) analysierte aufgrund intensiver Forschungen die Parteigerichtsverfahren in der NSDAP und stellte dabei heraus, wie voluntaristisch und ohne bürokratische Regeln die Ausschlüsse vorgenommen wurden. Carola Tischler (Berlin) untersuchte die Transformation der KPdSU im Spiegel der von ihr extensiv ausgewerteten Säuberungsprotokolle, wobei sie inbesondere auf die Rituale der Parteisäuberungen einging. Herbert Reinke (Wuppertal) schließlich untersuchte die Säuberung als Eingang in die Demokratie anhand des Beispiels der Polizeiapparate in Ost- und Westdeutschland nach 1945. Unter der Frage "wie reinigt man in Demokratien" wurde gerade für Ostdeutschland klar, dass hier das Streben nach "kristallener Klarheit" innerhalb der Polizei wesentlich ausgeprägter war. Christoph Conrads (Berlin) Kommentar betonte, dass in allen Fällen zu beobachtende Oszillieren zwischen Bewegung und institutioneller Ordnung, zwischen charismatischer und bürokratischer Herrschaftsform. Besonders in der Auflösung autopoetischer Subysteme erkannte er das totalisierende und die Zivilgesellschaft gefährdende Potential.

Im vierten Panel "Reinheit und Gewalt in der Praxis politischer Bewegungen, Teil II" schließlich stellte Jan Köhler (Berlin) den Strukturwandel im postsowjetischen Georgien heraus, wo Reinheitsvorstellungen in Blutrache, Sippenhaft und kriminellen Subkulturen münden, die Köhler in eigenen Feldforschungen beobachtet hat. Montgomery Sapone (Yale) analysierte die paramilitärische Kultur der IRA in Nordirland und stellte die weiterhin anhaltende Herausforderung gegenüber einer Hegemonie des Friedens heraus. Anne Brandstätter (Mainz) schließlich widmete sich der Gewalt und den Reinheitsvorstellungen im ruandischen Bürgerkrieg. Im "Genozid der 100 Tage", der vor fünf Jahren Ruanda erschütterte, suchten Hutu-Todesschwadronen gezielt und wohlgeplant Tutsi auf, wobei die Bluttaten eine neue Hutu-Identität erzwangen, die mit starken ethnischen Reinheitsvorstellungen aufgeladen wurde und das Land tief spaltete. Besonders erschütternd war, dass vorgängige Nachbarschaftsbeziehungen für die Durchführung des Genozids extensiv genutzt werden konnten.

Insgesamt erwies sich das interdisziplinäre Zusammenwirken von Historikern und Ethnologen als eine "fruchtbare Wahlverwandtschaft", wie die FAZ in ihrem Tagungsbericht lobte (Bodo Mrozek: Die Feinde des bürgerlichen Miteinander, in: FAZ Nr. 249 vom 26.10.1999, Seite BS 6). Gerade die intensiven Diskussionen hatten tatsächlich deutlich gemacht, dass beide Disziplinen insbesondere in methodischer Hinsicht viel voneinander verstanden und dazugelernt haben. Georg Elwerts (Berlin) Schlusskommentar hob diese fruchtbare Diskussionskultur hervor und betonte die grundsätzliche Vergleichbarkeit der vorgestellten Bewegungen. Dabei stellte er als übergreifende Themen und Ergebnisse den Machbarkeitswahn als organisierbares Potential heraus, betonte aber die Schwäche derjenigen Bewegungen, die versuchen, allein mit Ideologie zu mobilisieren. Statt dessen stellte er ökonomische und psychosoziale Handlungsmotive und Rituale heraus. Zudem wurde auf der Tagung deutlich, dass das Zusammenschliessen vormaliger Subsysteme einer Gesellschaft oft von Reinheitsvorstellungen begleitet wurde/wird und dass ideologische Vorstellungen erst als Produkt vorgängiger politischer Praxis angemessen zu verstehen sind.