Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Marktkulturen und Wirtschaftsstile, Wissenssysteme und Visionen

Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Marktkulturen und Wirtschaftsstile, Wissenssysteme und Visionen

Organisatoren
Hartmut Berghoff und Jakob Vogel
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.02.2003 - 26.02.2003
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Von
Maren Janetzko und Anne Sudrow, Göttingen

Die Gräben zwischen den Fächern Geschichte und Ökonomie, so die Veranstalter der Tagung, Hartmut Berghoff (Berlin/Göttingen) und Jakob Vogel (Berlin), in ihren einleitenden Worten, sind tief, aber nicht unüberwindbar: Die Entökonomisierung der Geschichtsbetrachtung und die Enthistorisierung der Ökonomie seien jedoch nicht zu übersehen. Die Ökonomie bevorzuge modelltheoretische Scheinwelten, während die Wirtschaftsgeschichtsschreibung sich oft lediglich der Überprüfung dieser Modelle verschreibe. "Kultur" fungiere dabei als Residualkategorie für alles, was das Modell nicht mehr erklärt. Auf der anderen Seite habe sich die Kulturgeschichtsschreibung thematisch stark verengt. Grundphänomene des Ökonomischen wie Güteraustausch- und Kommodifizierungsprozesse, die seit Mauss oder Malinowski zu den klassischen Themen der Anthropologie zählten, wurden immer mehr an den Rand gedrängt. Ziel der Göttinger Tagung war es, den Weg zu einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Wirtschaftsgeschichte zu bahnen und anhand von konkreten neueren Forschungsarbeiten den interdisziplinären Dialog wieder anzustoßen. Teilnehmer waren Historikerinnen und Historiker, Ökonomen, Ethnologen, Orientalisten, Religions- und Kulturwissenschaftler aus der Bundesrepublik, Großbritannien, Österreich und der Schweiz.

1. Zum Verhältnis von Kultur- und Wirtschaftwissenschaften

"How much, Schatzi?" Wieviel also, fragte Christoph Conrad (Genf), sollten sich Geschichtswissenschaft (verstanden als retrospektive Kulturwissenschaft) und Ökonomie (mit ihrem eher prognostischen Erkenntnisinteresse) gegenseitig noch zu sagen haben, zumal nach dem "cultural turn" in der Geschichtswissenschaft? How much, Schatzi? Diese Frage zielte nicht nur auf den Preismechanismus als Focus ökonomischen Denkens, sondern brachte auch das Programm der Tagung auf den Punkt. Denn um die "Denkstile" der historischen Akteure in der Wirtschaft zu entschlüsseln, so Conrad, erfordere es auf Seiten der HistorikerInnen ein tiefes Eindringen in das "fremde Wissensfeld" Ökonomie. Vermittler seien nötig, um einen Brückenschlag zwischen den Disziplinen zu leisten. Soziologen spielten hier anfangs eine wichtige Rolle (Weber, Simmel), nach dem Zweiten Weltkrieg eher Wirtschaftshistoriker und anthropologisch orientierte Historiker (Gerschenkron, Braudel u.a.). In vieler Hinsicht könne die Wirtschaftsgeschichte von der Wissenschaftsgeschichte lernen, in der die Auseinandersetzung zwischen einem historisierenden und kulturalistischen Ansatz einerseits und einem "harten" Wissenschaftsverständnis andererseits paradigmatisch ausgetragen wurde.

Die folgenden Beiträge fragten danach, welchen Erklärungswert die klassisch-liberale Vorstellung eines autonom agierenden und eigennützig motivierten "Homo Oeconomicus" noch besitzt. Als Alternativmodell stellte der Experimentalökonom Armin Falk (Zürich) den "Homo Reciprocans" vor, einen auf Kooperation und fairen Austausch bedachten Akteur. In fünf spieltheoretischen Experimenten verglich er die Annahmen des Homo Oeconomicus-Modells unter Laborbedingungen mit dem tatsächlichen Handeln von Individuen. Dabei stellte sich heraus, daß die Mehrheit der Versuchspersonen 1. faires Verhalten belohnte und unfaires bestrafte, selbst wenn dies mit Kosten für sie verbunden war, 2. in sozialen Dilemma-Situationen kein unmittelbar eigennütziges, sondern bedingt kooperatives Verhalten an den Tag legte, und 3. es in Gruppen, in denen eigennützige und reziproke Individuen miteinander interagierten, vom institutionellen Umfeld abhängt, welches Verhalten sich durchsetzt: Das Modell eines Homo Oeconomicus sei also weit weniger universell als bisher angenommen.

Birger P. Priddat (Witten/Herdecke) stellte zwei Stränge der Ökonomie vor, die auf historische und kulturelle Kontexte rekurrieren. Die deutsche Historische Schule war eine Reaktion auf die Dichotomisierung der Volkswirtschaftslehre in Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik. Anstatt letztere der Theorie anzupassen, richtete sie umgekehrt die Theorie an der historisch kontingenten Arbeitsweise der Wirtschaftspolitik aus. Nach der Niederlage der Historischen Schule im Methodenstreit trat eine historische Perspektive erst wieder durch die Neue Institutionenökonomie seit den 1970er Jahren in den Vordergrund. Douglas C. Norths Hauptthema ist die Erklärung divergierender Pfade des wirtschaftlichen Wandels. Ökonomische Vorgänge, so North, finden im Rahmen historisch gewachsener Institutionen statt, deren Möglichkeitsräume und einmal etablierte Grenzen wegen der hohen Kosten eines Wechsels relativ stabil sind. Eine Erklärung des Wandels der Institutionenmatrix leistet dieser Ansatz allerdings nicht.

Jakob Tanner (Zürich) fragte nach den begrifflichen Äquivalenten für "Kultur" in der modernen Ökonomie. Dabei griff er den "Rational choice"-Ansatz heraus, der die Ökonomie als Handlungswissenschaft begreift. Am Beispiel der Diskussionen um "shared mental models" und eine "bounded rationality" zeigte er, daß die Wirtschaftswissenschaft inzwischen Modelle besitzt, die "hochgradig anschlußfähig" an eine handlungsorientierte Geschichtsschreibung sind. Sie gehen gerade nicht von einer "Gottvater-Rationalität" der Akteure aus, die es ihnen erlaubt, alle Handlungsalternativen zu überblicken, gegeneinander abzuwägen und auf deren Basis streng rationale Entscheidung zu treffen. Stattdessen favorisierten sie ein Modell limitierter Rationalität und eines Handelns, das sich auch in Routinen vollzieht und durch emotionale Wertladungen gefiltert wird.

Warum, wurde in der Diskussion gefragt, hat sich das Modell des Homo Oeconomicus so lange gehalten, wenn es der Wirklichkeit so wenig gerecht wird? Auch wenn Reziprozität nicht mit Altruismus gleichgesetzt werden könne, so ist der Altruismus ein Phänomen, das bereits bei Adam Smith und Alfred Marshall in die Wirtschaftstheorie Eingang gefunden hat. Der Homo Reciprocans sei eine Weiterführung und Präzisierung dieser alten Diskussion. Die Frage, die HistorikerInnen interessiere, laute aber nicht, ob es reziprok agierende Menschen gebe, sondern ob sich die Anzahl der so handelnden Menschen in bestimmten Gesellschaftsformationen signifikant verändere.

2. Marktgesellschaft und die Kultur von Märkten

In der zweiten Sektion erinnerte Georg Elwert (Delmenhorst/Berlin) daran, daß es Gebrauchswerte sind, die eine wirtschaftliche Dynamik und schließlich Austausch und Märkte schaffen. Statt "Konsummuster" fasse der Begriff der "Gebrauchswertmuster" besser die anthropologische Grundfrage nach der kulturellen Einbettung von Ökonomie: Was dürfen die Menschen haben, und wie dürfen sie es haben? Das Prekäre an wirtschaftlichem Handeln und gleichzeitig das Problem, das Wirtschaft strukturell bewältigen muß, sei die Sicherung langfristig verschobener Tauschvorgänge, bei der einer der Tauschpartner in Vorleistung treten muß. Die hierfür erforderlichen "Vorhersehbarkeitsräume" würden geschaffen 1. durch eine zentralisierte Macht, die über Informationen, Normen und Sanktionen verfügt (monitoring), 2. eine horizontale Macht, ein alltägliches normatives System mit "schwachen" Sanktionen wie Ehre und Schande, 3. eine vollständige Einbindung der Adressaten in ein für alle verbindliches Regelsystem und 4. die Zuordnung aller möglichen Güter zu bestimmten Sphären (etwa der Reziprozitätssphäre).

Hartmut Berghoff (Berlin/Göttingen) beschäftigte sich mit der Generierung von Vertrauen als Grundlage und Begleiterscheinung der Marktbildung im 19. Jahrhundert. Er definierte Vertrauen als soziales Kapital, das Gesellschaften die Überwindung von Interaktionsbarrieren erlaubt. Als zentrale Voraussetzung einer globaler agierenden Wirtschaft, in der die Gefahren von Betrug, Vertragsbrüchen und Forderungsausfällen zum gravierenden Problem wurden, entstanden institutionelle Mechanismen der Vertrauensgenese, die die vom Markt produzierten Unsicherheiten eindämmten. Ein weiteres Element war die Sammlung, Institutionalisierung und Kommerzialisierung von "vertrauensrelvanten Daten", die ihrerseits über einen Markt gehandelt wurden. Dabei kam es keineswegs zu einer linearen Zunahme des Vertrauens, sondern eher zu einem Nebeneinander von Vertrauensgenese und Risikoeskalation. In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass im 19. Jahrhundert auch ein Prozess des Abbaus von vertrauensstiftenden Organisationen (z.B. Zünften) stattfand und die Institutionalisierung neuer Formen der Vertrauensgenese als Reaktion auf diesen Zerfallsprozess zu werten ist.

Uwe Spiekermann (Göttingen) rückte am Beispiel des deutschen Lebensmittelmarktes im 20. Jahrhundert die Frage nach der spezifischen Rationalität wirtschaftlichen Handelns in den Mittelpunkt. Der Lebensmittelkonsum sei an anthropologische, ja "biologische" Rationalitäten gebunden, die nur unter hohen persönlichen und gesellschaftlichen Kosten zu mißachten seien. Trotzdem stieß die Erziehung der Verbraucher zu "richtiger" Ernährung, wie wissenschaftliche und lebensreformerische Konzepte sie definierten, immer wieder an die Grenzen tradierter Verzehrsmuster. Kurzfristige Nutzenerwartungen, Genuss und Geschmack begrenzten das rationale Handeln der Konsumenten, das vor allem vom Staat aus gesundheitspolitischen Erwägungen immer wieder eingefordert wurde. In der Diskussion ergaben sich Rückfragen nach den Motiven und Mentalitäten der Esser, die über statistischen Daten zu den einzelnen Konsummustern hinausgehen.

3. Wirtschaftsstile und -kulturen

Die dritte Tagungssektion widmete sich der Frage nach der Existenz und den möglichen Wirkungen spezifischer nationaler bzw. religiös geprägter Wirtschaftkulturen. Ob religiöse Weltbilder den ökonomischen Habitus beeinflussen, beantwortete Friedrich Wilhelm Graf (München) mit der Formel: "Vermutlich schon, aber niemand weiß genau, wie!" Die Verknüpfung von Religion und Ökonomie stehe in engem Zusammenhang mit der Erfahrung konfessionsbedingter Blockaden, interkonfessioneller Feindschaft, aber auch wirtschaftlicher Krisen. Graf vertrat die Ansicht, es werde immer dann auf Religion - und damit auf Kultur - als Erklärungspotential zurückgegriffen, wenn andere Rationalitäten scheinbar nicht mehr griffen - so etwa in der Debatte um die Rolle der "protestantischen Ethik" für die Wirtschaftsentwicklung des Kapitalismus. Man könne die eingangs gestellte Frage jedoch umkehren und fragen, ob nicht der ökonomische Habitus einer Gesellschaft auch religiöse Weltbilder präge. Festzuhalten sei, dass sich nur eine sehr reiche Gesellschaft ökonomisch dysfunktionale Weltbilder leisten könne.

In der Diskussion wurde die Funktion religiöser Ethik für wirtschaftliches Handeln hinterfragt. Es wurde darauf verwiesen, dass sich das wirtschaftliche Wachstum calvinistischer Regionen auch soziostrukturell erklären lasse und möglicherweise die religiösen Ethiken nicht als solche von Bedeutung sind. Die Unbestimmtheit religiöser Begriffe lasse einen weiten Deutungs- und Anwendungsspielraum, so dass die Art ihrer Aneignung durch eine Gesellschaft letztlich entscheidend sei.

Die beiden folgenden Beiträge widmeten sich der Frage nach der vermeintlichen oder tatsächlichen Existenz eines islamischen, asiatischen bzw. konfuzianischen Wirtschaftsstils. Rüdiger Klein (Tübingen), stellte in seinem Vortrag "Zur Geschichtsschreibung über die Märkte der islamischen und südostasiatischen Welt" heraus, dass die europäische Betrachtung des islamischen Wirtschaftsraums seit Max Weber in erster Linie der Konstruktion eines negativen Spiegelbilds eines vermeintlichen europäischen "Sonderwegs" diente. Innerhalb der islamischen Welt wurde die Wirtschaftsgeschichte ebenso instrumentalisiert, hier allerdings zur Konstruktion einer positiven Identität. Dagegen fehlten bislang sowohl aus dem europäischen als auch aus dem islamischen Raum empirische Untersuchungen zur Existenz eines islamischen oder asiatischen Wirtschaftsstils.

Sebastian Conrad (FU Berlin) widmete sich der "Konfuzianismusthese", d.h. der Behauptung, das rasante Wachstums der japanischen Wirtschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beruhe auf einer spezifischen, durch den Konfuzianismus geprägten Arbeitsethik. Conrad konnte jedoch aufzeigen, dass es sich bei dieser angeblichen japanischen Besonderheit um die Erfindung einer Tradition handelte, die erst im Zuge der Industrialisierung Japans Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, einer Zeit der intensiven Auseinandersetzung mit dem Westen. Sie hing auch mit einer intensiven Max-Weber-Rezeption in Japan zusammen und sollte dem Zweck dienen, die japanische Industrialisierung nicht als bloße "Verwestlichung" erscheinen zu lassen. Die Konfuziansimusthese beruhe zudem auf der Fiktion einer kulturellen Autonomie Japans, während sich de facto die japanischen Arbeitsbeziehungen in engem Austausch mit der westlichen Welt veränderten. Conrad plädierte daher für eine genauere Untersuchung der Verflechtung nationaler Volkswirtschaften, da das Konzept des "nationalen Wirtschaftsstils" im Falle Japans unzutreffend sei.

Die Debatte um den Begriff der "Wirtschaftskultur" erweiterte anschließend Thomas Welskopp (Berlin/Göttingen) um eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der "Unternehmenskulturen" und ihrer internationalen Vergleichbarkeit. Welskopp verwies auf die Unschärfe des Begriffs der "Unternehmenskultur" und seine häufige Instrumentalisierung als Managementkonzept, dem zufolge Unternehmenskultur von oben herstellbar sei. Unternehmenskultur, so Welskopp, sei vielmehr ein von vielen Betriebsangehörigen geprägtes und umkämpftes Feld. Ein internationaler Vergleich von Unternehmenskulturen sei vor diesem Hintergrund zwar möglich. Jedoch dürfe nicht von vornherein angenommen werden, dass nationale Unterschiede auch unterschiedliche Unternehmenskulturen ("Produktionsregimes" oder "Wirtschaftsstile") hervorbringen. So sei mitunter Branchenzugehörigkeit ein wichtiger "Gleichmacher". In der Diskussion fand Welskopps These Unterstützung, dass es angesichts von "Subkulturen" problematisch sei, von einer einheitlichen Unternehmenskultur zu sprechen. Zudem konnten Ethnologen feststellen, dass die Selbstwahrnehmung der Beschäftigten im allgemeinen nicht mit der Darstellung äußerer Beobachter übereinstimmt.

4. Expertenkulturen und der Kult des Experten

Adam Tooze (Cambridge) ging der Entstehung der Wirtschaftsstatistik (1900-1950) und ihrer Funktion als ökonomisches Herrschaftswissen nach. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ist eine Konstruktionsleistung des frühen 20. Jahrhunderts, die auf der Erhebung und Verarbeitung umfangreicher Datenmengen basiert. Die Entstehung der Wirtschaftsstatistik sei vor allem ein verzweifelter Versuch, mit der Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Dynamik Schritt zu halten: durch neue Methoden der Abbildung (Pläne, Grafiken und Organigramme) und Verdinglichung von Informationen durch Datenverarbeitungssysteme und periodische, in immer kürzeren Abständen erfolgende Veröffentlichungen. Die wirtschaftliche Statistik ermöglicht überhaupt erst die Vorstellung der Wirtschaft als planbares, makroökonomisches System. Nicht von ungefähr erreichte sie in der Kriegswirtschaftsplanung einen ersten Höhepunkt.

Ulrich Marsch (München) beleuchtete den Begriff der "Innovationskultur" als möglichen Beitrag der Technikgeschichte zu einer kulturgeschichtlichen Betrachtung wirtschaftlicher Vorgänge. Dabei stellte er die Ansätze des sogenannten "social constructivism of technology" und der "national systems of innovation" und Technikstile von Habakkuk bis Hughes vor. In der Diskussion wurde vor nationalen Stereotypen gewarnt und die Forderung nach einer Wissensgeschichte in der Wirtschaft laut: Welche verschiedenen Wissenschaften stellten ihre Formen von Expertise zur Verfügung? Mit welchen Selbstdeutungen traten Experten auf? Was galt als "neu" und errang schließlich den Status einer "Innovation"?

5. Die realitätsschaffenden Kraft ökonomischer Zukunftsentwürfe

Frank Trentmann (London) beschäftigte sich mit den britischen Schutzzoll- und Freihandelskampagnen um 1900. Anhand des dort verwendeten Bildmaterials zeigte er die Strategien der Vermittlung komplexer ökonomischer Sachverhalte auf. Ohne Rekurs auf wissenschaftliche Argumente sollten griffige Symbole und nationale Stereotype die Volksmeinung gewinnen helfen. Die in den Kampagnen heraufbeschworene Gefährdung der britischen Wirtschaft - sei es durch fortgesetzten Freihandel oder durch drohende Schutzzölle - erklärt sich durch das langsame Abbröckeln der uneingeschränkten weltwirtschaftsgeschichtlicher Führungsrolle Großbritanniens in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Thomas Großbölting (Münster) widmete sich der Visualisierung ökonomischer und sozialer Ordnungsvorstellungen in Industrie- und Gewerbeausstellungen des 19. Jahrhunderts, die als neues Massenmedium der Diffusion technischer Innovationen und der Einübung ihres Gebrauchs dienten. Sie konstituierten eine eigene Öffentlichkeit und wurden zum Ort einer neuen sozialen Praxis. Hier wurde der Besucher als Konsument zum Zielobjekt der Präsentation. Die Wirtschaftsgeschichte muss sich nach Großbölting auch der Wahrnehmungs- und Selbstdarstellungsgeschichte der Industrie als Teil der Durchsetzung des technisch-ökonomischen Wandels des 19. Jahrhunderts widmen.

Martina Hessler (Aachen) beleuchtete Merkmale und Funktionen von Konsumvisionen. Sie stellten in der Regel Phänomene dar, die bereits sichtbar, aber noch nicht massenhaft verfügbar waren. Sie erschöpften sich aber nicht im individuellen Konsum, sondern verwiesen darüber hinaus auf ideelle gesamtgesellschaftliche Ziele wie etwa den Weltfrieden. Die Technik spiele eine zentrale Rolle als Medium auf dem Weg ins "Schlaraffenland" ohne Arbeit. Eine wichtige Funktion von Konsumvisionen sei ihr Einfluss auf Investitionsentscheidungen von Unternehmen ebenso wie auf das Verhalten der Konsumenten.

Im Anschluss daran fragte Dirk van Laak (Jena/Tübingen) nach der Planung und Gestaltung der Infrastruktur als einem der Wirtschaft vorgelagerten und zugrundeliegenden Bereich durch eine technokratische Elite. Diese habe eine der Wirtschaft häufig entgegengesetzte Zielsetzung, wenn aus ihrer Sicht die Gewinnorientierung der Unternehmer einer innertechnischen "Sachlogik" entgegengesetzt sei. Die aus technischer Sicht effizienteste Lösung könne demnach zur Lösung aller Probleme führen. So wohne vielen utopischen Entwürfen ein technokratischer Zug inne. Der Erfolg solcher Entwürfe manifestierte sich nach Ansicht van Laaks jedoch vor allem in zahllosen kleinen Impulsen für Politik und Wirtschaft, insbesondere bei der Entstehung der modernen Infrastrukturnetze wie Autobahnen und Stromversorgung.

Die Diskussion zielte auf die Vermittlung der dargestellten Zukunftsentwürfe ab. Während einige Wirtschaftshistoriker die Frage nach dem Niederschlag der Gewerbeausstellungen bzw. der Freihandelskampagne in politische und ökonomische "Realitäten" stellten, wünschten sich Kulturhistoriker eine klarere Definition dessen, was jeweils als "Kultur" verstanden wird.

6. Abschlußdiskussion

In seinem Schlusskommentar wies Christian Kleinschmidt (Bochum) darauf hin, dass die Wirtschaftsgeschichte keinen allgemein definierten Kanon von Untersuchungsgegenständen habe, so dass "Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte" durchaus eine von vielen Möglichkeiten sei, Wirtschaftsgeschichte zu betreiben. Er warf allerdings die Frage auf, ob es nicht gewinnbringender sei, beide Disziplinen weiterhin dahingehend zu trennen, dass man sich gleichen Gegenständen mit unterschiedlichen Methoden nähere, um dann einen kritischen Austausch zu pflegen.

Alf Lüdtke (Erfurt) vertrat dagegen die Ansicht, die kulturalistische Wende könne durchaus den Blick auf das "Wie" des menschlichen Wirtschaftens schärfen. So sei die konkrete körperliche Tätigkeit des Arbeitens bisher ebenso ein Forschungsdefizit der Wirtschaftsgeschichte wie auch der Blick für die im Umfeld von Marktbeziehungen häufig existierenden Machtbeziehungen. Jede Disziplin solle jedoch auch den Blick für die eigenen Stärken bewahren.

Auch in der anschließenden Abschlussdiskussion wurde wiederholt betont, die Wirtschaftsgeschichte solle als Disziplin erkennbar bleiben, zumal sie sich bei einer völligen "Kulturalisierung" selbst überflüssig machen würde. Sie könne jedoch Methoden und Perspektiven der Kulturgeschichte für sich fruchtbar machen und habe dies bereits ansatzweise getan. In Auseinandersetzung mit Fragestellungen der Globalisierung könne die Wirtschaftsgeschichte auch umgekehrt die Kulturgeschichte beeinflussen. Angesichts der aktuellen weltwirtschaftlichen Entwicklung sei die Wirtschaftsgeschichte in zunehmendem Maße gefragt. Ein großes Desiderat seien wissenschaftshistorische Studien zur Wirtschaftsgeschichte. Unter kulturhistorischen Gesichtspunkten wurde auch eine Männlichkeitsgeschichte des Fachs gefordert.

Die Publikation eines Sammelbandes im Campus-Verlag ist geplant.