Erfahrungen und Perspektiven der bibliographischen Arbeit für Ostmitteleuropa

Erfahrungen und Perspektiven der bibliographischen Arbeit für Ostmitteleuropa

Organisatoren
Internationale Fachtagung des Herder-Instituts Marburg
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.03.2003 - 15.03.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Jan C. Behrends, Herder-Institut Marburg

Der Trend geht zum Verbund

Im Rahmen einer zweitägigen Konferenz diskutierten Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus verschiedenen Ostmittel- und Nordosteuropäischen Staaten und Deutschland die Erfahrungen und Perspektiven bibliographischer Arbeit im Zeitalter internationaler Vernetzung. Das Marburger Treffen verdeutlichte, dass insbesondere auch dieser Bereich der historischen Wissenschaften im vergangenen Jahrzehnt durch die parallelen Umbrüche in der Politik und in der Informationstechnik erfasst wurde. Einerseits eröffnete das Ende der Teilung Europas neue Kooperationsmöglichkeiten mit Ostmittel- und Osteuropa und führte zur sukzessiven Überwindung der durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts und den Kalten Krieg errichteten Barrieren auch im Austausch unter Bibliographen. Andererseits hat sich im vergangenen Jahrzehnt die bibliographische Landschaft durch die Kommunikationsrevolution des Internet radikal verändert. Die fortschreitende Präsentation geschichtlicher Stoffe und historiographischer Daten im Internet ermöglichen eine neue Dimension des Austausches in der Wissenschaft. In Marburg diskutierte ein fachkundiges Publikum engagiert beide Prozesse.

In der ersten Sektion zur deutschen Landesgeschichte, die Norbert Kersken (Marburg) moderierte, stellte Ludger Syré (Karlsruhe) die Virtuelle Deutsche Landesbibliographie vor (die URLs aller erwähnten Dienste bzw. Institutionen finden sie am Ende dieses Beitrags). Auf der Oberfläche des bekannten Karlsruher Virtuellen Kataloges (KVK) sind hier bereits zehn Bibliographien deutscher Bundesländer online zugänglich. Syré führte weiter aus, dass bei den Landesbibliographien ein deutlicher Trend zum Verzicht auf die Druckausgabe zu konstatieren sei und betonte den hohen Mehrwert dieses Verbundprojektes, das eine wichtige Ergänzung zur Nationalbibliographie darstelle. Anschließend berichtete Grete Grewolls (Schwerin) über ihre Erfahrungen bei der Modernisierung der Mecklenburgischen Landesbibliographie nach der Wende. Die Titel dieser landeskundlichen Bibliographie, die auf eine 200-jährige Tradition zurückblicken kann, sind ab 1995 im Internet nachweisbar; der Druck wurde mit dem Berichtsjahr 1996 eingestellt. Neben bibliographischen Nachweisen ist man in Schwerin dazu übergegangen, auch ältere Publikationen als Volltext ins Netz zu stellen. Schließlich berichtete Franz Schön (Bautzen) von der wechselvollen Geschichte der sorbischen Bibliographie, die als Kompendium zur Literatur einer nationalen und sprachlichen Minderheit in vieler Hinsicht eine Sonderstellung in Deutschland einnimmt.

Die anschließende von Andreas Lawaty (Lüneburg) geleitete Sektion widmete sich verschiedenen nationalen historischen Bibliographien. Johannes Thomassen (Berlin) vertrat die von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erstellten Jahresberichte für Deutsche Geschichte. Diese Bibliographie steht den Nutzern in drei unterschiedlichen Versionen zur Verfügung: gedruckt, als CD-ROM und online. Angestrebt wird ferner eine Digitalisierung der Vorkriegsjahrgänge 1925-1938, um auch diese Forschungsberichte im Internet zugänglich zu machen. Martha Jauernig (Klagenfurth) sprach anschließend über die Österreichische Historische Bibliographie im ostmitteleuropäischen Kontext. Dieser Bibliographie liegt ein geographisch breites Verständnis österreichischer Geschichte zu Grunde, so dass auch zahlreiche Titel über die historischen Landschaften Ostmittel- und Südosteuropas aufgenommen werden. Über die schwierigen finanziellen Rahmenbedingungen der Schwedischen Historischen Bibliographie, die an der Königlichen Bibliothek der schwedischen Hauptstadt angebunden ist, berichtete Johannes Rudberg (Stockholm). Frau Anna Gruca (Krakau) präsentierte die seit 1953 von der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN) herausgegebene Bibliografia Historii Polskiej. Besonders nach der Wende sei es, so berichtete Frau Gruca, zu einem "stürmischen Aufschwung" der Publikationen zur polnischen Geschichte gekommen. Die polnische historische Nationalbibliographie wird momentan nur gedruckt vorgelegt; im Rahmen eines Datenaustausches mit dem Herder-Institut werden Titel ab dem Berichtsjahr 2001 in Zukunft auch online zugänglich sein. Über die bibliographische Arbeit zur baltischen Geschichte sprachen Paul Kaegbein (Bergisch Gladbach) - Herausgeber der Baltischen Bibliographie -und Irene Tumelyte (Wilna) - die Bearbeiterin der seit dem Berichtsjahr 1996 erscheinenden Litauischen Historischen Bibliographie. Die vielschichtige Geschichte des Baltikums mit seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt stellt die Bearbeiter vor besondere Herausforderungen. Neben die gedruckten Publikationen sollen die aktuellen Titel zur baltischen Geschichte zukünftig auch über die Ostmitteleuropadatenbank des Herder-Instituts zugänglich gemacht werden.

Am anschließenden Nachmittag wurden verschiedene Dokumentationsverbünde vorgestellt. Unter der Leitung von Jürgen Warmbrunn (Marburg) präsentierte Alan V. Murray (Leeds) die International Medieval Bibliography (IMB). Durch ein einzigartiges Netzwerk in zahlreichen Ländern hat das seit 1967 selbstfinanziert arbeitende Projekt - die IMB ist in allen Versionen ist kostenpflichtig - bis heute über 300.000 Artikel zur Zeit von 400-1500 n. Chr. recherchiert. Sie erscheint gedruckt, als CD-ROM und online. Das neue DFG-Projekt Virtuelle Fachbibliothek Osteuropa (ViFaOst) stellten Hermann Beyer-Thoma (München) und Ulla Pape (Marburg) vor. Dieses Portal befindet sich noch im Aufbau und bildet ein Teilmodul des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft inspirierten Verbundes wissenschaftlicher virtueller Fachbibliotheken. In der ViFaOst kooperieren verschiedene Institutionen der Osteuropaforschung unter Leitung der Sondersammelstelle Osteuropa an der Bayerischen Staatsbibliothek München beim Aufbau eines umfassenden Literaturdienstes und einer systematischen Erschließung von Internetressourcen für die Forschung. Den Abschluss eines gehaltvollen Tages bildete die Präsentation der Marburger Literaturdatenbank zur Geschichte Ostmitteleuropas durch Norbert Kersken. Ziel dieses Projektes ist die zeitnahe Erfassung und umfassende Dokumentation der Veröffentlichungen zur Geschichte des östlichen Mitteleuropa (Germania Slavica, Polen, Böhmische Länder, Slowakei, Baltikum) in einer Internet Datenbank am Herder-Institut. Die Erfassung der Titel geschieht dezentral unter Mitwirkung von Kooperationspartnern in Thorn, Breslau, Prag, Bratislava, Posen und Krakau. Die Datenbank ist konsequent mehrsprachig in Englisch, Polnisch, Slowakisch, Tschechisch und Deutsch angelegt. Es stehen z.Zt. etwa 64.000 Titelsätze zur Verfügung. Ein Teil der Daten wird in fünf regionalen Bibliographien in einer Printversion veröffentlicht.

Am Sonnabendmorgen folgte die Vorstellung der Projektverbünde European Bibliography of Slavic and East European Studies (EBSEES), historicum.net und Clio-online. Barbara Martin (Berlin) stellte das internationale Bibliographieprojekt EBSEES vor, das am Pariser Maison des Sciences de l'Homme (MSH) angebunden ist. In ihrem Referat berichtete Frau Martin über die Entwicklung von EBSEES und über Perspektiven einer zukünftigen Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Partnerprojekt American Bibliography of Slavic and East European Studies (ABSEES). Dabei kam auch die Frage der Finanzierung bibliographischer Großprojekte zur Sprache - während EBSEES frei im Netz zugänglich ist, erheben die Bearbeiter von ABSEES eine moderate Gebühr, die das Fortbestehen des Projektes sichert. In diesem unterschiedlichen Vorgehen manifestieren sich sicherlich auch die Differenzen zwischen europäischer und amerikanischer Wissenschaftskultur. Peter Helmberger (München) referierte über das kunst- und geschichtswissenschaftliche Portal historicum.net, das aus dem ehemaligen Server Frühe Neuzeit hervorgegangen ist und sich mittlerweile mit einem eigenen elektronischen Rezensionsdienst ("Sehepunkte") und einer historischen Online-Zeitschrift ("Zeitenblicke") profiliert. Robert Zepf (Berlin) von der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz sprach abschließend über das neue Verbundprojekt Clio-online, das ebenfalls von der DFG gefördert wird und an dem u.a. so prominente Institutionen wie die Berliner Staatsbibliothek, H-Soz-u-Kult, die Humboldt-Universität zu Berlin und das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam mit seiner Datenbank "Ostkreuz" beteiligt sind. Aus dieser Kooperation soll mittelfristig das zentrale digitale Einstiegsportal für die Geschichtswissenschaften erwachsen; ferner ist ein eigenständiges Themenportal "Zeitgeschichte-online" geplant, das mit einem Subject-Gateway, Rezensionsdiensten, Mailing-Liste und der elektronischen Fachzeitschrift "Zeithistorische Forschungen" ausgebaut werden soll. In der Diskussionen wurde angesprochen, dass zahlreiche Fragen des Urheberrechts bzw. der Erstattung durch VG-Wort noch ebenso ungeklärt sind wie die dringenden Probleme der Verstetigung bestehender Portale und der sicheren Archivierung wesentlicher Beiträge im World Wide Web. Unklar blieb auch, inwieweit die unterschiedlichen Angebote und Konzepte geschichtswissenschaftlicher Präsentationen im Internet sich als Konkurrenten oder als Ergänzungen zueinander begreifen. Für die nahe Zukunft bleibt zu hoffen, dass sich der Geist der Kooperation, wie er während dieser Tagung in Marburg herrschte, erhalten möge.

Die politische und technische Doppelrevolution des vergangenen Jahrzehnts hat die bibliographische Landschaft in Europa und darüber hinaus zweifelsohne in Bewegung gebracht. Die Marburger Tagung konnte hier zunächst nur eine punktuelle Bestandsaufnahme in einem sich rapide wandelnden Feld leisten. Neben der Reflexion über die bibliographische Arbeit im elektronischen Zeitalter standen die internationale Zusammenarbeit und der Erfahrungsaustausch im Mittelpunkt der Tagung. Doch auch unsere Epoche der digitalen Vernetzung kommt ohne persönliche Kontakte nicht aus: Hier bot die Konferenz des Herder-Instituts der internationalen Fachöffentlichkeit die Möglichkeit, sich kennen zulernen und produktiv auszutauschen - es besteht die Hoffnung, dass die Nutzer schon bald von diesem Austausch profitieren werden.

American Bibliography of Slavic and East European Studies (ABSEES)
http://gateway.library.uiuc.edu/absees/
Clio-online Verbund
http://www.clio-online.de
Die Virtuelle Fachbibliothek
http://www.virtuellefachbibliothek.de
European Bibliography of Slavic and East European Studies (EBSEES)
http://www.msh-paris.fr/betuee/
historicum.net - Geschichts- und Kunstwissenschaften im Internet
http://www.historicum.net
International Medieval Bibliography (IMB)
http://www.leeds.ac.uk/imi/imb/imb.htm
Jahresberichte für Deutsche Geschichte online
http://www.bbaw.de/forschung/jdg/
Karlsruher Virtueller Katalog
http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html
Literaturdatenbank Geschichte Ostmitteleuropas
http://www.uni-marburg.de/herder-institut/grundlagen/bibliographien/lit_db.html
Mecklenburgische Landesbibliographie
http://www.lbmv.de/3/regionalbibliographie.html
Österreichische Historische Bibliographie
http://www.uni-klu.ac.at/oehb/
"Ostkreuz" des Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
http://db.zzf-pdm.de/
Schwedische Historische Bibliographie
http://www.kb.se/bus/shbE.htm
Virtuelle Deutsche Landesbibliothek
http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/landesbibliographie/
Virtuelle Fachbibliothek Osteuropa
http://www.vifaost.de


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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
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