Neue Subjektivität. Subjektkulturen und Selbstverhältnisse

Neue Subjektivität. Subjektkulturen und Selbstverhältnisse

Organisatoren
Zeitgeschichtlicher Arbeitskreis Niedersachsen
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.11.2007 - 01.12.2007
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Von
Uffa Jensen, Georg-August-Universitaet Goettingen

Der „Zeitgeschichtliche Arbeitskreis Niedersachsen (ZAKN)“ unter der Leitung von Bernd Weisbrod veranstaltete am 30. November und 1. Dezember 2007 in Göttingen seinen jährlichen Workshop zum Thema „Neue Subjektivität. Subjektkulturen und Selbstverhältnisse in der Bundesrepublik in den 60er und 70er Jahren“. Organisiert hatten die Tagung, die inhaltlich an den Workshop des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises „Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren” (2005) anknüpfte, – neben Bernd Weisbrod – Georg Wamhof und Maik Tändler (beide Göttingen).1 Ihr lag die Annahme zugrunde, dass sich in der Bundesrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre eine neuartige Subjektkultur herauskristallisierte. In begrifflicher und konzeptioneller Anlehnung an, aber auch kritischer Auseinandersetzung mit neueren Studien zur Geschichte des Selbst, wurde dabei nicht etwa die Rückkehr eines essentialistisch verstandenen, universellen Subjektes in die historische Analyse gefordert.2 Vielmehr ging es um die Aushandlungsprozesse, Praktiken und Diskurse, an deren Schnittstellen sich Subjektivität jeweils spezifisch bildet.

Für die „neue Subjektivität“ der zweiten Jahrhunderthälfte lassen sich vielfältige Hinweise finden: die zeitgenössischen Ideale von Selbsterfahrung und -entfaltung, der Anspruch und die Forderung nach subjektiver Authentizität, der populärwissenschaftliche und alltagskulturelle „Psychoboom“ oder die teilsäkularisierte Sinnsuche durch Esoterik. In der Forschungsliteratur werden derartige Aspekte zumeist in politikhistorischer, soziologischer oder konsumhistorischer Perspektive thematisiert: Ihr Aufkommen erklärt sich somit entweder durch grundlegendere Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse, welche die individualistische Selbstentfaltung erst ermögliche, durch die Erosion von klassischen gesellschaftlichen Milieus, bei denen der Einzelne in Familien-, Konfessions- oder Klassenstrukturen eingebettet gewesen sei, oder durch die Durchsetzung einer konsumzentrierten Wirtschaftsordnung, die neuartige Subjektstile entstehen lasse. Demgegenüber forderte der Workshop die „Rückkehr des Subjektes in die Kulturwissenschaften“ ernst zu nehmen, diese Dimension der Subjektivität auch als solche zu thematisieren und nicht als bloßes Produkt vermeintlich grundlegenderer Prozesse zu beschreiben.

MAIK TÄNDLER (Göttingen) berichtete in seinem Vortrag „Psychologisierung“ aus seinem Dissertationsprojekt zum „Psycho-Boom“ in den 1960er- und 1970er-Jahren. In theoretischer Anlehnung an Michel Foucault, der in dem Projekt allerdings zugleich historisiert werden soll, spannte er einen weiten Bogen von der zeitgenössischen Vermengung marxistischer und psychoanalytischer Theorie, der revoltierenden Praktiken gegen das bürgerliche Individuum im Rahmen der „Kommune 2“ bis zu Debatten über Reformpädagogik und der populärer werdenden humanistischen Psychologie. Dabei stellte Tändler zugleich fest, dass Ideale wie Authentizität und Selbstverwirklichung sehr früh auch außerhalb linksalternativer Milieus beachtlichen Einfluss entwickelten. In ihrem Vortrag „Individualisierung“ präsentierte SVENJA GOLTERMANN (Freiburg) Ergebnisse ihrer gerade fertig gestellten Habilitationsschrift zu Kriegsheimkehrern und Psychiatrie in der frühen Bundesrepublik. Den Wandel des psychiatrischen Diskurses, mit dem im Übergang von den 1950er-Jahren in die 1960er-Jahre individuelle Erfahrung zu einer Zentralkategorie wurde, sah sie dabei durch die Frage nach dem individuellen Umgang mit Kriegs- und Gewalterfahrungen bedingt. Abnormale Verhaltensmuster erschienen nun nicht mehr als Folge von Veranlagung, sondern als Reaktionen auf Erlebtes und Erlittenes. Dieser Wandel in der psychiatrischen Praxis wertete somit die Erfahrungsebene des Einzelnen und damit des Subjektiven auf.

Im Beitrag „Pädagogisierung“ blickte DIRK SCHUMANN (Bremen) auf die entsprechenden Debatten der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit und konstatierte einen Wandel im Übergang zwischen den 1960er- und 1970er-Jahren. Einem Pädagogisierungsschub, der sich mit einer Erziehung zur Mündigkeit beschreiben ließe, die weniger auf ein emphatisches Individualitätskonzept, als auf die Beherrschung der industriellen Welt orientiert war, folgte in den 1970er-Jahren eine Art Entpädagogisierung, insbesondere im linken Milieu. Insofern seien Debatten über neue Subjektivität eigentlich weniger durch pädagogische Konzepte bestimmt. CONSTANTIN GOSCHLER (Bochum) diskutierte unter dem Titel „Behaviourisierung“ den Einfluss und die Verbreitung behaviouristischer Konzepte in der Bundesrepublik, wie sie selbst in populären Medien wie dem Film („Clockwork Orange“) verhandelt wurden. Gerade in den 1970er-Jahren sei es zu einem konfliktträchtigen Gegensatz von behaviouristischen Konzepten einer tendenziell konformistischer Normalisierung, etwa im Schulwesen, einerseits und neuartigen Subjektivierungsstrategien, in denen individuelle Authentizität, Konsumorientierung und Kreativität als Leitwerte propagiert wurden, andererseits gekommen.

HABBO KNOCH (Göttingen) konzentrierte sich in seinem Vortrag „Emotionalisierung“ auf das kulturkritische Potential der Rede vom Subjektiven, das er durchaus in konträren politischen Lagern wieder fand. Während in einem liberal-konservativen Lager mit kulturkritischer Geste die Abkehr von einem technokratischen Politikverständnis und eine Emotionalisierung gefordert werden konnte, richtete sich Knochs Interesse in einem weiteren Teil auf den Umgang mit dem Subjektiven in der RAF. Revolutionäre Strategien sollten in diesem Umfeld gerade am eigenen, vermeintlich vom Warenkapitalismus infizierten Selbst ansetzen und in letzter Konsequenz in eine Art aktive Selbstauslöschung münden. In seinen Überlegungen zur „Intimidierung“ rekurierte FRANK BIESS (San Diego/Göttingen) auf sein gegenwärtiges Forschungsprojekt zu Angst in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Dabei ging er auf verschiedene Dimensionen ein, die seine These von der Bundesrepublik als Angstgesellschaft insbesondere für die 1970er-Jahre untermauern sollten. Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch ein besonderer Akzent auf Rationalität und Nüchternheit – durchaus in Abgrenzung zum als emotionalisiert wahrgenommenen NS-Regime – gelegt wurde, diente in der Folgezeit etwa die zeitgenössische Erinnerungskultur als Projektionsfläche für gegenwärtige Ängste, die sich gerade mit der Annahme einer banalen und allgemeinen Schuld („Eichmann in uns allen.“) verbreiteten. Die Einflüsse der Umweltbewegung, aber auch der Gesundheitsbewegung unterstützten zudem solche Trends.

In ihrem Vortrag zur „Politisierung“ berichtete BELINDA DAVIS (New Brunswick) aus ihrer biographischen Forschung zu Aktivisten der Studentenbewegung. Insbesondere interessierte sie sich dafür, wie diese ihre individuellen Erfahrungen von Politisierung in ihrer Sozialisation schilderten. Eine eher unspezifische Auflehnung gegen Autoritäten (z.B. Eltern, Lehrer) stand dabei oft am Anfang, die zugleich in spontanen Gruppen kanalisiert und zudem oft als durchaus euphorische Selbstermächtigung erlebt wurde. Selbstformation und Politisierung waren insofern bei diesen Gruppen seit der Jugend untrennbar verbunden. In seinem abschließenden Referat „Generationalisierung“ kombinierte BERND WEISBROD (Göttingen) den Generationsbegriff mit der Frage nach Subjektivierungsstrategien. Insbesondere die Herausbildung politischer Generationen wie die der „68er“ beschrieb er dabei als Strategien der politischen Selbstermächtigung, die man als besondere Kategorie der Selbstsuche durch Gemeinschaftsfindung verstehen muss. Politische Generationalität erschien somit als Versuch, den komplexen Ansprüchen an Individualität und Subjektivität durch die Eindeutigkeit einer Pathos-Generation auszuweichen. Andere Formen von Generationsprägungen seien hingegen durch die politische Ausrichtung des Generationsbegriffs oft übersehen worden: Als Beispiel nannte Weisbrod die Einführung der Pille, die als gesellschaftlicher Trend durch die Aneignung neuer Subjektivitätsvorstellung generationsprägend wirken konnte. Mit dem Problem der Selbstsuche durch Gemeinschaftsstiftung wurde somit eine grundlegende Frage der Generationsforschung aufgeworfen.3

Die bewusst als Workshop organisierte Veranstaltung versuchte sich an einem neuen Blick auf die Geschichte von Subjektivität im 20. Jahrhundert, die jenseits der ansonsten gängigen politik-, sozial- oder konsumhistorischen Narrative angesiedelt sein sollte. Auch wenn derartige Zugänge durchaus vorkamen, wie etwa im Falle von Davis, die die politikhistorische Liberalisierungsthese als biographische Selbsterzählung beschrieb, so standen sie doch nicht im Zentrum des Interesses. Interessanterweise wurde die Dimension der neuen Religiosität, die doch einige Relevanz für die „neue Subjektivität“ insbesondere der 1970er-Jahre beanspruchen darf, kaum angesprochen. Angesichts des Booms an neuen Religionsformen („New Age“, Esoterik, Einfluss fernöstlicher Religionen) liegt hier nicht nur ein bedeutsames Gebiet, auf dem sich vielfältige Subjektvorstellungen und -praktiken herausbildeten. Zugleich hätten sich eine ganze Reihe von Verbindungslinien zu den auf dem Workshop durchaus diskutierten Bereichen aufgedrängt, etwa zum „Psycho-Boom“, zur Emotionalisierung und Intimidierung. Demgegenüber stach der von mehreren Referenten vorgeschlagene Versuch hervor, die seit längerem beschriebene „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) auf den Bereich des Subjektiven auszudehnen. Insbesondere in den Vorträgen von Tändler, Goltermann, Schumann und Goschler trat die Bedeutung von Wissenschaftsdiskursen und -praktiken für den Wandel in den Subjektvorstellungen deutlich hervor.[4] Zentral waren hierfür in der Regel weniger die spezialisierten Auseinandersetzungen innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen, als deren popularisierte Formen. Entgegen der Annahme einer Kultur des „konsumtorischen Kreativsubjektes“, das Reckwitz aus den Gegenkulturen der 1960er- und 1970er-Jahre entstehen sieht, eröffnete sich damit eine neue Perspektive der Verwissenschaftlichung des Subjektiven, die es weiterzuverfolgen gilt.

Anmerkungen:
1 Knoch, Habbo (Hrsg.), Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007.
2 Hierbei ist zuallererst eine aktuelle Studie zu nennen, die auf der Tagung zu einigen Diskussionen Anlass gab: Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. Vgl. ebenfalls Taylor, Charles, Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1996; Porter, Roy (Herausgeber), Rewriting the Self: Histories From the Renaissance to the Present, London, New York 1997; Seigel, Jerrold E., The Idea of the Self: Thought and Experience in Western Europe Since the Seventeenth Century, New York 2005.
2 Aus ganz unterschiedlichen interdisziplinären Perspektiven wird diese Dimension im Graduiertenkolleg „Generationengeschichte. Generationelle Dynamik und historischer Wandel im 19. und 20. Jahrhundert“ behandelt, das Bernd Weisbrod als Sprecher an der Georg-August-Universität Göttingen leitet. Vgl. dazu <www.generationengeschichte.uni-goettingen.de>
3 Eine ähnliche Perspektive wird sich in Kürze finden in: Eghigian, Greg; Killen, Andreas; und Leuenberger, Christine (Herausgeber), The Self as Project: Politics and Human Sciences in the Twentieth Century, Chicago (im Druck).

Tagungsübersicht:

Maik Tändler (Göttingen): Psychologisierung
Svenja Goltermann (Freiburg): Individualisierung
Dirk Schumann (Bremen): Pädagogisierung
Constantin Goschler (Bochum): Behaviourisierung
Habbo Knoch (Göttingen): Emotionalisierung
Frank Biess (San Diego/Göttingen): Intimidierung
Belinda Davis (New Brunswick, NJ): Politisierung
Bernd Weisbrod (Göttingen): Generationalisierung


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