Christliche Kirchen und Zivilgesellschaft: Unabhängig oder verbunden?

Christliche Kirchen und Zivilgesellschaft: Unabhängig oder verbunden?

Organisatoren
Arnd Bauerkämper, Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas (BKVGE); Jürgen Nautz, Institut für Volkswirtschaftslehre, Universität Wien
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.09.2007 - 22.09.2007
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Von
Arnd Bauerkämper; Jürgen Nautz; Hedwig Richter, Universität Köln

Vom 20. - 22. September 2007 fand in Berlin eine von den Historikern ARND BAUERKÄMPER und JÜRGEN NAUTZ vorbereitete Tagung über „Christliche Kirchen und Zivilgesellschaft“ statt. Sie stand im Kontext der Konferenz „Wie viel Kirche braucht die Gesellschaft?“ der Evangelischen Akademie zu Berlin (EAB, Februar 2007). Die EAB hat neben der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), Hannover, maßgeblich zur Finanzierung der Tagung beigetragen, die auch vom Österreichischen Kulturforum Berlin unterstützt wurde.

Die Tagung wurde vom Leiter des Amtes der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und Vizepräsidenten des Kirchenamtes der EKD, FRIEDRICH HAUSCHILDT, dem Direktor der Evangelischen Akademie zu Berlin, RÜDIGER SACHAU und HARTMUT KAELBLE, einem der Direktoren des BKVGE, eröffnet. Alle drei Redner betonten die Wichtigkeit der Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven. Hauschildt strich das vielfältige soziale Engagement der evangelischen Kirchen heraus, während Sachau die Debatte über das Verhältnis von Kirchen und Zivilgesellschaft in den Kontext der Reformdebatte in der evangelischen Kirche stellte. Kaelble stellte einen Bezug her zu Forschungsrichtungen und Diskussionen in der Geschichtswissenschaft, vor allem zur Säkularisierungsthese und der neuerdings diskutierten Rückkehr des Religiösen.

Nach den Eröffnungsreden rekapitulierten BAUERKÄMPER und NAUTZ die Fragestellung der Konferenz und das ihr zugrunde liegende Zivilgesellschaftskonzept: Gegenstand der Tagung waren die Beziehungen von Kirche als konkrete Organisationsform und Zivilgesellschaft in historischer Perspektive, im Unterschied zu dem mittlerweile sehr intensiven Diskurs über das Verhältnis von Religion und Zivilgesellschaft. Demnach sollten theologische Fragen explizit nicht im Fokus der Erörterungen stehen, ohne sie andererseits aus dem Auge zu verlieren, da christliche Kirchen nicht von den Glaubensgrundlagen und ihrer Gottgebundenheit gelöst werden könnten. Dabei wurde a priori weder davon ausgegangen, dass die Kirchen Teil der Zivilgesellschaft sind, noch dass sie es nicht sind. Vielmehr sollten die Beiträge der Konferenz wichtige Dimensionen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über das Verhältnis von Kirche und Zivilgesellschaft behandeln.

Während sich die Forschung zur Beziehung zwischen Religion und Zivilgesellschaft deutlich verstärkt hat, ist das Verhältnis zwischen Kirchen und Zivilgesellschaft weniger intensiv behandelt worden. In Europa spielen die Kirchen als organisatorische Repräsentanz des Glaubens an Gott in der Welt aber historisch wie gegenwärtig eine wichtige Rolle. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist zu fragen, inwiefern und in welcher Form sich die Rolle der Kirchen, das Agieren ihrer Repräsentanten, deren Verbindung zu den Mitgliedern wie zu Staat und Gesellschaft auf die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen ausgewirkt haben. Umgekehrt ist zu fragen, wie und in welchem Ausmaß soziale und politische Wandlungsprozesse die Struktur und das Erscheinungsbild der Kirchen beeinflusst haben.

Die Debatte über Zivilgesellschaft ist eine der zentralen Diskussionen im Kontext jener Prozesse in Europa, die unter den Begriffen „Säkularisierung“ und „Pluralisierung“ rubrizieren, jenen Prozessen also, die nicht selten als Bedrohung für die Kohärenz der Kirchen, aber auch der modernen europäischen Gesellschaften erscheinen. Sie bilden aber umgekehrt auch eine Herausforderung an den Auftrag und die Lebensformen der Kirchen.

Die erste Sektion umfasste Vorträge von DAVID FERGUSSON von der University of Edinburgh („Kirchen in der Welt. Die theologische Debatte über Kirchen, Zivilgesellschaft und Staat“) und FRITZ ERICH ANHELM von der Evange-lischen Akademie Loccum („Zwischen der ‚Gemeinschaft der Heiligen’ und PPP – Kirchliche Akteure in der Zivilgesellschaft“). Beide Referenten betonten, dass die Kirchen im Staat nicht mehr ihren alleinigen Partner sehen dürften. Anhelm hob hervor, dass in Deutschland eine Berufung auf die Konstruktion der Kirchen als öffentlichrechtliche Einrichtungen (Staatskirchenrecht) als Argument gegen eine Verortung der Kirchen in der Zivilgesellschaft Qualität und Möglichkeiten der Kirche unnötig beschränkt und die Realität nicht trifft. Mit Rückzügen auf ihr institutionelles Verfasst-Sein würde die evangelische Kirche eher dazu beitragen, dass neue Religiosität sich an ihr vorbei entwickelt. Sie könne den Dualismus von religiösem Fundamentalismus und säkularistischer Ideologie nur überwinden, wenn sie sich an der Zivilgesellschaft beteilige. Synergien könnten besonders aus der Kooperation mit anderen religiösen und säkularen Akteuren entwickelt werden, mit der zugleich die Pluralität der Lebenswirklichkeiten und Lebensentwürfe in einer sich global begreifenden Welt anerkannt würden. Gerade diesen Weg der Kirchen in die Zivilgesellschaft sah auch FERGUSSON als Innovation für demokratische und soziale Innovationsfähigkeit, wie er ausführte: „As opposed to seeking access to political power…, faith-baised groups can mobilise political criticism, welfare effort, and education in ways that are publicly significant. In doing so, churches are situated within civil society.”

In der zweiten Sektion „Christliche Doktrin und kirchliche Praxis gegenüber der Zivilgesellschaft“ kontrastierte JEAN-PIERRE BASTIAN (Universität Straßburg) in seinem Vortrag die Entwicklungen in Europa gegenüber den zeithistorischen und aktuellen Prozessen auf dem lateinamerikanischen Subkontinent. Die dort prosperierenden evangelikalen Kirchengründungen werden in Europa kritisch beobachtet, da man ihnen eine wahrnehmbare Innovationskraft auch in Europa zutraut, was die christlichen Volkskirchen in weitere Bedrängnis bringen könnte.

FRANK ADLOFF (Humboldt-Universität Berlin) knüpfte mit seinen konzeptionellen Überlegungen an die Ausführungen von Anhelm und Fergusson an. Adloff machte zunächst auf die Mehrschichtigkeit des zivilgesellschaftlichen Konzepts aufmerksam, dessen normative Qualität nicht selten als problematisch für die Forschung gesehen wird. Wenn man den normativ qualifizierten Begriff von Zivilgesellschaft aber ernst nehme, sei gegenüber Religionsgemeinschaften die Forderung zu erheben, dass sie keine Monopolstellung für ihre Verkündigung beanspruchen und dass sie die Gewissens- und Religionsfreiheit anerkennen - was für Christen längst keine Selbstverständlichkeit war und ist. Adloff regte im Anschluss an, die Beziehungen zwischen Kirche, Religion und Zivilgesellschaft auf unterschiedlichen Ebenen zu untersuchen: Es sei nach strukturellen Makrobedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln von Kirchen ebenso zu fragen (Organisation, Verhältnis zum Staat etc.) wie nach dem Agieren von Kirchenmitgliedern im Mikrobereich. Schließlich sei „kulturhermeneutisch“ zu untersuchen, welche spezifisch religiösen Ideen die Praxis zivilgesellschaftlichen Handelns geprägt haben. So könnten Differenzen im bürgerschaftlichen Engagement von Amerikanern und Deutschen weitestgehend auf religiöse Unterschiede zurückgeführt werden.

WOLFGANG PALAVER (Universität Innsbruck) stellte in seinem Vortrag katholisches Denken über Zivilgesellschaft vor. Seine zentrale These griff die Debatte über die Entmachtung der Institution Kirche auf. Die gegenwärtige Position der katholischen Soziallehre zur Zivilgesellschaft sei, so Palaver, einerseits geprägt von einer post-konstantischen Antipolitik; andererseits betone sie, dass alles Bemühen um Gerechtigkeit auf einer tieferen Ebene von einer „Zivilisation der Liebe“ getragen werden müsse. Ein Vergleich zwischen der Enzyklika „Rerum novarum“ und den Enzykliken Johannes Paul II. zeige, wie sehr dieser eine neue Entwicklung der Soziallehre eingeleitet habe. Dieser habe gerade durch Verzicht auf politische Machtansprüche politischen Einfluss in der Welt gewonnen.

Die Sektion „Die katholische Kirche und gesellschaftliches Engagement: Deutschland, Italien und Frankreich“ wandte sich historischen Befunden zur Entwicklung des Verhältnisses von Katholizismus und Zivilgesellschaft zu. Der Vortrag von ÁRPÁD VON KLIMO und KLAUS GROSSE KRACHT (beide Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam) gingen in ihrem Beitrag zu Italien und Frank-reich von der von José Casanova für die katholische Kirche im 20. Jahrhundert aufgestellten These einer Schwerpunktverlagerung vom Staat zur Gesellschaft aus. Dabei ermögliche die „politische Gesellschaft“ der Parteien, Verbände und körperschaftlichen Institutionen den Übergang vom Staat zur Zivilgesellschaft. In der „politischen Gesellschaft“ habe – argumentierten von Klimó und Große Kracht – die „Katholische Aktion“ einen wichtigen Stellenwert für die Lösung der katholischen Kirche vom Staat und ihre Öffnung zur Gesellschaft im 20. Jahrhundert eingenommen. Die Actio Catholica (AC), die sich weltweit durch ihre Vorreiterrolle abhebe, könne deshalb als kommunikative und performative Zuspitzung der für religiöse Institutionen konstitutiven „Kommunikation der Differenz“ (Luhmann) verstanden werden. Die Betonung kirchliche Autonomie und die Ablehnung eines politischen Engagements durch die Laienverbände sei aber nicht gleichbedeutend mit der Zivilgesellschaft, wie sie Kocka definiert habe. Die AC war zunächst eine „integralistische, antimoderne, an einer imaginären ‚mittelalterlichen’ Tradition festhaltende Bewegung“, die mit zur gleichen Zeit entstehenden politischen oder sozialen Bewegungen die Vorstellung einer autoritären gesellschaftlichen Neuordnung im Sinne einer ständisch gegliederten Gesellschaft vertrat (wie der österreichische Ständestaat).

MARIE-EMMANUELLE REYTIER (Universität Mainz) arbeitete in ihrem Vortrag den Stellenwert der seit 1848 veranstalteten deutschen Katholikentage für die Herausbildung und die Erhaltung einer katholischen Zivilgesellschaft heraus. Die Katholikentage konnten dies leisten, so Reytier, indem sie eine soziale Struktur angeboten und versucht hätten, die Denkmuster und das Verhalten der deutschen Katholiken zu beeinflussen. Die Katholikentage offerierten ein Wertesystem, eine Weltsicht und ein Lebensmodell für das katholische Milieu, das auf der päpstlichen Lehre basierte.

Die Sektion „Protestantische Kirchen und gesellschaftliche Integration: Die Niederlande und Österreich im Vergleich“ wandte sich den evangelischen Kirchen in den Niederlanden und Österreich zu. Letztere ist eine kleine religiöse Minderheit, erstere war lange die überwiegende Mehrheit, die aber auch plural aufgefächert war. Der Entwicklung des niederländischen Protestantismus und seines Verhältnisses zur Zivilgesellschaft seit dem 2. Weltkrieg widmete sich JAMES KENNEDY (Frije Uni-versiteit Amsterdam). Er stellte klar, dass die Frage nach den Beziehungen innerhalb der Trias von Kirche, Staat und Zivilgesellschaft in der niederländischen Forschung bislang keine große Rolle gespielt habe. Auch sei das Konzept der Zivilgesellschaft kaum rezipiert worden. Dies sei darauf zurückzuführen, dass der Staat in den Niederlanden immer eine nachgeordnete Bedeutung gehabt hat. Kennedy unterschied zwischen der „institutionellen Kirche“ und der „(christlichen) Zivilgesellschaft“ und fragte nach deren Einflüssen auf die Kirche. Seit 1945 gab es drei Phasen: Die Phase 1945-1965 war durch eine anhaltende Vormachtstellung der organischen Kirche (organic church) gekennzeichnet. Zwischen 1965 und 1990 kam es zu einem Wiedererstarken der institutionellen Kirche. Zugleich wurde die Position der evangelischen Kirchen von einer zunehmenden Entchristianisierung bedroht. Seit 1990 versuchen die evangelischen Kirchen in den Niederlanden deshalb, die Gemeinde als Basis christlicher Aktivitäten neu zu beleben. Kritiker verweisen jedoch darauf, dass die Gemeindearbeit nicht die Vielfalt, Tiefe und Reichweite einer ausdifferenzierten christlichen Zivilgesellschaft in den Niederlanden ersetzen könne. Zudem müssten die Kirchen Acht geben, nicht ihre zentrale Glaubensbotschaft zu verlieren.

THOMAS KROBATH (Universität Wien) thematisierte in seinem Beitrag „das bis in die jüngere Vergangenheit schwierige Verhältnis zwischen der kleinen Minderheit evangelischer Christen und der ganz überwiegend römisch-katholischen Mehrheit in Österreich. Während die Distanz zwischen christlich-sozialem und sozialistischem Lager noch in den 1930ern viele Protestanten in die Arme der Nationalsozialisten getrieben hatte, konnten sich die evangelischen Christen nach 1945 in die österreichische Gesellschaft integrieren bzw. ließ die Mehrheitsgesellschaft dieses Zusammenwachsen zu. Dass sich die evangelischen Kirchen dabei an der Sozialdemokratie orientierten, kann angesichts des historischen Hintergrundes wenig verwundern.

Auf die komparative Zeitgeschichte bezogen sich zwei Referenten der Sektion „Die christlichen Kirchen angesichts religiöser Tradition, sozialem Wandel und politischer Brüche nach 1945“. ARND BAUERKÄMPER verglich die Rolle christde-mokratischer Parteien in Italien, Österreich und Westdeutschland von 1945 bis zur Mitte der 1960er-Jahre und ging der Frage nach, ob der Mythos vom europäischen Okzident in der Christdemokratie ein zivilgesellschaftliches Engagement behindert hat. Durch den Ausbruch des Kalten Krieges verstärkte sich die Ablehnung eines „barbarisch“ konnotierten Ostens im Gegensatz zum „christlichen Abendland“. Als katholischer Diskurs zeigte dieser Mythos anti-zivilgesellschaftliche Elemente: Er postulierte ein elitäres Gesellschaftsmodell für Europa, geprägt durch eine kirchliche Ordnung und eine ausgeprägte Hierarchie. Gleichwohl vollzogen sich in einem katholischen Binnenraum im Kontext des Kalten Krieges eine nicht intendierte Öffnung, eine politische Vergesellschaftung und damit eine Annäherung an zivilgesellschaftliche Vorstellungen. Daher plädierte der Referent für einen gradualistischen Begriff von Zivilgesellschaft, ohne deren normative Grundlage aufzugeben.

RALF WÜSTENBERG (FU Berlin) fragte nach „Kirchen als Institutionen in Transformationsprozessen“ und verglich die Rolle der Kirchen in Südafrika bei der Aufarbeitung der Apartheid mit jener während der Revolution 1989 in der DDR. Für die Zeit der Transformation sah er die Funktion der Kirchen als Vermittlerinnen, die sich stark um Versöhnung bemüht hätten. Mit dieser ethischen Funktion habe Kirche einen zivilgesellschaftlichen Auftrag erfüllt.

Mit „Caritas und Sozialpolitik: Die neue Rolle der Kirchen“ wurde die Aufmerksamkeit auf ein zentrales Betätigungsfeld christlicher Kirchen gelenkt. HENRIK STENIUS (Renvall Institute, Helsinki) sagte, für die nordischen Länder sei die konfessionell geprägte Haltung zur Obrigkeit entscheidend für gesellschaftliches Engagement gewesen. Wenn – wie in Dänemark – das Vertrauen in die staatliche Ordnung ausgesprochen groß war, lehnten die Menschen zivilgesellschaftliche Wohlfahrt ab, da sie diese dem Staat zuordneten. Solch tradierte Positionen prägen bis heute die Einstellung zur Zivilgesellschaft in Skandinavien.

BERNHARD SCHNEIDER (Universität Trier) und HERMANN-JOSEF GROSSE KRACHT (Universität Münster) analysierten die Rolle der katholischen Kirche in der Armenfürsorge. Die bis vor wenigen Jahren in der Forschung proklamierte Dichotomie zwischen Zivilgesellschaft und Kirche, so ein Ergebnis, sei ein Konstrukt. Beide Referenten zeigten, wie die katholische Kirche an der Herausbildung einer Zivilgesellschaft beteiligt war – ohne dies zu intendieren. Schneider zeigte in seinem Vortrag, wie heterogen die katholischen Diskurse im 19. Jahrhundert waren. Die Argumente der Katholiken gegen eine staatliche Fürsorge waren daher vielfältig. So betonten sie die Bedeutung freiwilliger Wohltätigkeitsspenden im Gegensatz zur staatlich verordneten Hilfe. Dabei lehnten Katholiken keineswegs eine staatliche Mitwirkung ab, sondern kooperierten mit öffentlichen Wohlfahrtseinrichtungen. Die katholische Kirche praktizierte in vielerlei Hinsicht Zivilgesellschaft, auch wenn sie das Konzept ablehnte. Insgesamt schloss sich Schneider der Kritik eines säkularen Konzepts von Zivilgesellschaft an.

HERMANN-JOSEF GROSSE KRACHT konturierte die besondere Situation in Deutschland. Aufgrund der Konkurrenzsituation zur protestantischen Obrigkeit, zur liberalen Wirtschaftsordnung und zur bürgerlichen Aufklärung versuchte die katholische Kirche hier über die Armenfürsorge an Profil zu gewinnen. Ihre Stellung sah sie nicht mehr wie früher oberhalb, sondern innerhalb der Gesellschaft. So fügte sich die Kirche in die Zivilgesellschaft ein, obwohl sie diese nicht gutheißen konnte. Dezidiert lehnte sie eine allein vom Staat organisierte Wohlfahrt ab. Der heutige deutsche Sozialstaat, so die These, sei auch auf die Ablehnung eines umfassenden Versorgungsstaates durch die Katholiken und deren Eintreten für die „Sozialversichungsstaatlichkeit“ zurückzuführen. Mit ihrer Stellung gegen Obrigkeitsstaatlichkeit und rein marktwirtschaftlich orientierten Interessen vertritt die katholische Kirche bis heute das kooperative Subsidaritätsprinzip.

BETTINA HITZER (Universität Bielefeld) analysierte das vieldeutige Verhältnis von protestantischer Philanthropie und Zivilgesellschaft. Sie unterstrich die Bedeutung der Kirchen für die Genese der Zivilgesellschaft im 19. Jahrhundert. Die 1848 gegründete „Innere Mission“, die zum größten Wohlfahrtsverband wurde, zeigte viele zivilgesellschaftliche Merkmale: Sie war „von unten“ gegründet, freiwillig, öffentlich und in beschränktem Maß durch demokratische Strukturen gekennzeichnet. Sogar die missionarische Ambition der „Inneren Mission“, die durch ihren anti-pluralistischen Charakter der überkommenen Definition von Zivilgesellschaft widerspricht, wies zivilgesellschaftliche Elemente auf, denn Mission bedeutete auch Offenheit, indem sie sich zusammen mit der Fürsorge an alle richtete, nicht nur an Evangelische. Durch ihre Entwicklung zu einem „sozialen Konzern“ verlor die Diakonie jedoch ihre Funktion als „Schule der Zivilgesellschaft.“

In ihren abschließenden Bemerkungen unterstrichen RUPERT GRAF STRACHWITZ (Maecenata Institut, Berlin) und die beiden Veranstalter die Rolle der Kirchen für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft. Als wesentliche Aspkete der Tagung erkannten sie transnationale Aspekte, die Inklusions- und Exklusionsproblematik, Sozialpolitik und das Verhältnis zum Staat. Während Graf Strachwitz vor einer normativen Aufladung des Begriffes von Zivilgesellschaft warnte, forderten Bauerkämper und Nautz, an einer normativen Definition festzuhalten, jedoch ein vermeintlich eindeutiges Konzept von Zivilgesellschaft aufzugeben und stattdessen verschiedene Formen des Handelns und ihre Träger hinsichtlich ihrer Zivilgesellschaftlichkeit zu analysieren.

Die Tagung zeigte, dass nicht nur die monopolistische bzw. pluralistische Ausrichtung des Verkündigungs- und Wahrheitsanspruchs der christlichen Kirchen deren Verhältnis zur Zivilgesellschaft bestimmt. Auch die sozialen Aktivitäten und ihre Träger sind hinsichtlich ihrer Handlungsorientierung am Wert der Zivilität in die Analyse einzubeziehen. Insgesamt muss das Verhältnis zwischen christlichen Kirchen und zivilgesellschaftlicher Praxis historisiert und in den jeweiligen Kontexten und Konstellationen untersucht werden. Künftig sollten deshalb mehr mikrohistorische Studien durchgeführt und der Vergleich durch Einbeziehung orthodoxer Kirchen sowie anderer Religionen erweitert werden. Ferner sind für Studien zum Verhältnis von Zivilgesellschaft und Kirche Genderforschung und Pietismusforschung einzubinden – allesamt Beziehungen, die während der Tagung erwähnt wurden, jedoch der historischen Vertiefung bedürfen.

Konferenzübersicht:

Christliche Kirchen und Zivilgesellschaft: Unabhängig oder verbunden?

Sektion I: Die Debatte über die Rolle der christlichen Kirchen in der Gegenwartsgesellschaft:
David Fergusson: Churches in the World. The Theological Debate about Churches, Civil Society and the State.
Fritz Erich Anhelm: Zwischen der „Gemeinschaft der Heiligen“ und Public Private Partnership - Kirchliche Akteure in der Zivilgesellschaft.

Sektion II: Christliche Doktrin und kirchliche Praxis gegenüber der Zivilgesellschaft:
Jean-Pierre Bastian: Churches, State and Civil Society in Latin America: a Paradigmatic Relationship in an Historical Perspective.
Wolfgang Palaver: Zwischen post-konstantinischer Anti-Politik und einer Zivilisation der Liebe: Katholisches Denken über Zivilgesellschaft.
Frank Adloff: Kirchen, Religion und Zivilgesellschaft. Soziologisch-komparative Perspektiven.

Sektion III: Die katholische Kirche und gesellschaftliches Engagement: Deutschland, Italien und Frankreich:
Marie-Emmanuelle Reytier: Die deutschen Katholikentage und die Zivilgesellschaft, 1921-1932 und 1948-1969.
Árpad von Klimó, Klaus Große Kracht: Die Katholische Aktion in Italien und Frankreich.

Sektion IV: Protestantische Kirchen und gesellschaftliche Integration: Die Niederlande und Österreich im Vergleich.
James Kennedy: Post-War Transformations: Dutch Protestantism and Civil Society since the Second World War.
Thomas Krobath: Die Evangelischen Kirchen in Österreich zwischen Ausgrenzung und Integration.

Sektion V: Christliche Kirchen angesichts religiöser Tradition, sozialem Wandel und politischer Brüche nach 1945:
Arnd Bauerkämper: Der Mythos vom europäischen Okzident als Barriere zivilgesellschaftlichen Engagements im Katholizismus. Die Debatte in den christlich-demokratischen Parteien in Europa 1945-1965.
Ralf Wüstenberg: Kirchen als Institutionen in Transformationsprozessen? Das sich einigende Deutschland in vergleichender Perspektive.

Sektion VI: Caritas und Sozialpolitik: Die neue Rolle der Kirchen:
Henrik Stenius: Religion and Associational Life in the Nordic Countries in a Comparative Perspective.
Bernhard Schneider: Katholische Armutsdiskurse und Praktiken der Armenfürsorge im gesellschaftlichen Wandel des 19. Jahrhunderts.
Hermann Große Kracht: Zwischen Staat und Caritas. Katholizismus und die deutsche Art der Wohlfahrt.
Bettina Hitzer: Zivilgesellschaft und religiöse Proteste. Protestantische Philanthropie in Deutschland, 19. und 20. Jahrhundert

Schlussdiskussion:
Etienne François, Arnd Bauerkämper, Jürgen Nautz, Rupert Graf Strachwitz: Christliche Kirchen und Zivilgesellschaft in vergleichender Perspektive.


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