StreitKulturen

Organisatoren
forum junge wissenschaft am Kunst- und Kulturverein "riesa efau"
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.11.2007 - 25.11.2007
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Von
Heidrun Mattes, Berlin

Auf dem Programm des III. forums junge wissenschaft, das im November 2007 im Kulturverein riesa efau und in der Motorenhalle – Projektzentrum für zeitgenössische Kunst in Dresden stattfand, standen vielschichtige Positionen zum Thema „StreitKulturen“. Mit dem Thema hatten die vier Organisatoren – Daniel Trepsdorf, Oliver Geisler, Steffen Schröter und Gunther Gebhard – die Linie des letzten Jahres fortgeführt und ein weites Feld zwischen Wissenschaft und Populärkultur aufgespannt, das sich keinem bisher etablierten Diskurs exakt zuordnen lässt. Der mit vermeintlicher Antinomie spielende Kunstbegriff „StreitKulturen“ hat in den Bereichen Politik und Medien schon seit längerer Zeit Hochkonjunktur. Ziel der Tagung war es, das sich jeder eindeutigen Definition entziehende Thema erstmals wissenschaftlich und interdisziplinär zu „erfassen“.

Lässt der Begriff „Streit“ – isoliert betrachtet – an Konfrontation, Aggression oder Krieg denken, erfährt er in Kombination mit dem Begriff „Kultur(en)“ völlig andere, ergänzende oder auch gegensätzliche Konnotationen. Georg Simmel formulierte bereits 1908, dass soziale Gebilde durch einen „positiv“ gedachten Streit neue (Be-)Deutungen erfahren. Streit ziele, so Simmel, auf eine „Auflösung von Spannungen“ und eine „Synthese der Elemente“, die zusammen unter einen „höheren Begriff“ fielen. Die Gesellschaft brauche ein „quantitatives Verhältnis“ von Harmonie und Disharmonie, Assoziation und Konkurrenz, um zu einer bestimmten Gestaltung zu gelangen. Auch Peter Sloterdijk beschreibt in Zorn und Zeit (2006) die menschliche Kultur als wesentlich „thymotisch“, das heißt gekennzeichnet durch „Zorn“ als (zugleich positive und negative) Triebkraft und beruft sich auf die homerische Ilias als ihrer ersten schriftlichen Überlieferung.

Welche weiteren Vorstellungsbilder und Diskurse mit dem Thema „StreitKulturen“ verbunden waren und sind, zeigten die exemplarischen Beiträge der insgesamt elf, zum Teil international tätigen TeilnehmerInnen. Handelt es sich bei einer „StreitKultur“ um die Ästhetisierung von Streit „im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ oder ist sie ein unentbehrlicher Bestandteil demokratischer „Gouvernementalität“? Solche und andere Fragen wurden während der Konferenz nach einer herzlichen Begrüßung und Einführung seitens der Organisatoren, mit Blick auf Theorien von Walter Benjamin bis Slavoj Žižek, erörtert. Die Tagung gliederte sich in zwei Veranstaltungsblöcke: interne, wissenschaftliche Workshops und sich anschließende, öffentliche Vorträge mit einem ergänzenden Rahmenprogramm.

Der Historiker und Altphilologe FLORIAN HARTMANN (Rom) eröffnete mit seinem Vortrag „Der Zerfall eines Weltbildes. Der Investiturstreit und seine Folgen“ den ersten Abend. Er führte mit dem Investiturstreit ein anschauliches Beispiel für eine kulturelle Transformation als Ergebnis eines politischen und religiösen Konflikts vor Augen. Fast fünfzig Jahre stritten sich Päpste und Kaiser um die Amtseinsetzung von Bischöfen und Äbten. Den Höhepunkt markierte der sprichwörtlich gewordene Gang Kaiser Heinrichs IV. nach Canossa. Wesentlich an dem Streit, der Kirche und Staat spaltete, war aber, dass er nur selten – aus geographischen und rechtlichen Gründen – vis-à-vis ausgetragen wurde, sondern überwiegend schriftlich, auf Basis von Briefen. Die antike Rhetorik lag lange Zeit brach. Im Zeitraum zwischen 1080 bis 1140 entstanden jedoch im Kontext des Investiturstreits in Bischofssitzen und Klosterschulen neue Rhetorikhandbücher zur Anleitung des strategischen und kunstgerechten Verfassens von Briefen, genannt Ars Dictandi. Die Gegner sollten sich im schriftlich geführten „Streit der Worte“, von standardisierten Botschaften bis zu verschlüsselten Codes, für den Kampf um das Recht und die öffentliche Meinung rüsten. Aus der Zeit vom Investurstreit bis zum Spätmittelalter seien uns mehrere Hundert Brieflehrwerke überliefert, so Hartmann.

JANINA FUGE (Hamburg/Lüneburg), Historikerin, behandelte im zweiten Abendbeitrag „Schlachtfeld Erinnerung. Streit in der Weimarer Republik“ die Folgen der Unterzeichnung des Versailler Vertrags nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Mit Bezug auf den Historiker Edgar Wolfrum (Geschichte als Waffe) nannte sie die Auseinandersetzung um die Konsequenzen des Versailler Vertrags einen „Bürgerkrieg der Erinnerungen“. In ihrer Forschungsarbeit beschäftigt sie sich unter anderem mit der Deutung des Kriegsausgangs durch unterschiedliche Interessensparteien in der noch unentwickelten politischen Kultur der Weimarer Republik. Sie formulierte die These, dass eine offene Diskussion über die vermeintliche „Opferrolle“ Deutschlands unterbunden wurde. Anstelle einer demokratischen Austragung des Streits sei der deutschen Bevölkerung ein ungewolltes Schweigen und die Interpretation des Versailler Vertrags als „Kriegsschuldlüge“ und „Schanddiktat“ aufoktroyiert worden. Dieser erzwungene „Konsens“ hatte bittere Folgen, denn, so stellte sich im Anschluss an den Vortrag die Frage: hätte womöglich durch eine transparent geführte „Streit-Kultur“ in der Weimarer Republik unter Einbeziehung der Bevölkerung die Erstarkung faschistischer Kräfte und damit die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler verhindert werden können? Es gibt darauf bisher noch keine abschließende Antwort.

Der Vortrag „Leitkulturen – Streitkulturen“ der Literaturwissenschaftlerin ALEXANDRA LUDEWIG (Perth) kreiste um „Hass“ und „Wut“ als Auslöser von Streit. Bevor sie konkret darauf zu sprechen kam, brach sie die Publikumskonstellation auf und teilte die Zuhörerschaft willkürlich in drei kleine Sektionen. In diesen Gruppen wurde angeregt über individuelle und alltägliche Streitmotive diskutiert. Nach dieser vorbereitenden Interaktion mit dem Publikum stellte Ludewig die von Peter Sloterdijk in seinem Buch Zorn und Zeit aufgeworfene Aussage zur Debatte, dass die Unruhen junger, überwiegend männlicher Migranten in den Vorstädten von Paris 2005 neben ihrer Erfahrung politischer Ausgrenzung auf „Dumpfheit“ und „Hormonüberdruck“ zurückzuführen seien. Dieser strittigen Formulierung Sloterdijks stellte Ludewig mit den Filmsequenzen aus Wut (2006) von Züli Adalag und Die fetten Jahre sind vorbei (2004) von Hans Weingartner zwei zusätzliche Beispiele jugendlicher „Wuttransformation“ gegenüber. In der Diskussion drängte sich die Frage auf, welche Ausdrucksformen Jugendliche mit oder ohne Migrationshintergrund suchen und finden können, um ihre Wut zu artikulieren. Ist es möglich, Aggressionen in konstruktive Energie umzuwandeln? Welche „Leit-Kultur(en)“ bietet die gegenwärtige Politik und Gesellschaft den Jugendlichen? Die Frage nach der (Un-)Möglichkeit einer „Leitkultur“, ein Begriff, der ursprünglich positiv besetzt war und auf den Theoretiker Bassam Tibi zurückgeht, blieb umstritten. Tibi bezeichnete damit freiheitlich-demokratische Grundwerte. Schon über die Hierarchie von Kernwerten wie „Freiheit“ oder „Gerechtigkeit“ schieden sich in der Diskussion die Geister. Im Anschluss wurde von den Organisatoren der Film Haß (1995) von Mathieu Kassovitz gezeigt.

Die Soziologen YOUSSEF DENNAOUI und DANIEL WITTE (Bonn) stellten am zweiten Tag in ihrem Gemeinschaftsbeitrag „Wie viel Medialität verträgt der Streit?“ die These auf, dass bisher in den Sozialwissenschaften zwar diverse Theorien zum „Konflikt“ ausgearbeitet wurden, nicht aber zu der (Unter-)Kategorie „Streit“. Sie bezeichnen die Soziologie sogar als „streitblind“. Während die so genannte „Konfliktsoziologie“ von Autoren wie Thomas Hobbes, Karl Marx, Max Weber bis zu René Girard, Niklas Luhmann oder Pierre Bourdieu geprägt worden sei, habe der zweite Aspekt erst durch Georg Simmel und Lewis Coser gebührende Aufmerksamkeit erfahren. Im Zentrum ihres Workshopbeitrags stand für die Referenten aus diesem Grund die längst überfällige Erarbeitung einer möglichen „Definition“ oder „Klassifizierung“ diverser Streitformen. Sie unterschieden zentrale Kategorien wie spielerische und ernste, latente, offene und geschlossene, (a-)symmetrische Prozesse und Dynamiken des Streits, diskursive Streitsphären, Eskalations- und Bewusstheitsgrade, die (Un-) Vorhersehbarkeit von Streit, sowie Streitzeiten und -orte. Zu der Kultivierung von Streit als einem „Movens der Gesellschaft“ habe seine mediale Präsenz und Inszenierung vor „Dritten“ maßgeblich beigetragen (man denke beispielsweise an Fernsehformate wie Hart aber Fair oder Bilderstreit). Trotz seines für die Tagung fruchtbaren Rundumschlags blieb der Vortrag wegen der nicht konkretisierten Weite des Gegenstands sehr abstrakt.

Mit seinem Beitrag „Zwischen Mahnern, Propheten oder Beratungssolisten. Streitkultur in der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung“ charakterisierte der Historiker und Politikwissenschaftler NICO KOPPO (Bielefeld) die betroffenen Akteure nicht ohne Ironie. Er stellte jedoch weniger die Strategien der Berater, als vielmehr diejenigen ihrer Auftraggeber, kritisch zur Debatte. Der „Verkauf von Wissen“ an den politischen Sektor berge ein großes Risiko für Missverständnisse, so Koppo. Die Autonomie der Beratenden gerate häufig in Konflikt mit der von ihnen geforderten Praxisnähe und Neutralität. In den meisten Beratungsanfragen würde das Ergebnis antizipiert und ein „authentischer Streit“ nach Möglichkeit vermieden. Statt dessen würden Widersprüche durch eine pseudowissenschaftliche Eindeutigkeit ersetzt, als deren Metaphern ihre angebliche „Plausibilität“, „Objektivität“, „Rationalität“ und „Evidenz“ gelten. Als Beispiel für die begrenzte Freiheit der Berater erwähnte der Referent einen Experten, der wegen seiner Gewerkschaftszugehörigkeit bei dem Auftraggeber in Misskredit geriet und schließlich aus seiner Beraterfunktion entlassen wurde. Ob sich die ambivalente Wissenschaft und die Unabhängigkeit der Berater den Konsenswünschen der Politik anpassen sollen und dürfen, blieb offen. Koppo unterstrich als positiven Ausblick die einflussreichen Deutungsoptionen beratender Wissenschaftler.

Der Soziologe MAX ORLICH (Freiburg i. Br.) beschäftigt sich mit bisher in der Forschung wenig beachteten (spielerischen und de facto intendierten) Streitformen in künstlerischen Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts. In seinem Abendbeitrag „Avantgardistisch Streiten“ präsentierte er dem Publikum eine Grafik von André Breton mit dem Titel Liquidationsliste aus dem Jahr 1921. Auf dieser Darstellung listete Breton ehemalige und aktuelle Mitglieder der Surrealistenbewegung und ihre historischen Impulsgeber, von Ludwig van Beethoven bis Guillaume Apollinaire, auf. Breton stutzte diesen „Stammbaum“ der Vorbilder und Einflüsse nach Sympathie oder Aversion immer wieder zurecht. Im Zentrum der Überlegungen von Orlich steht aber insbesondere die Situationistische Internationale (SI). Aufgrund der zahlreichen, zum Teil autoritär durchgesetzten Ausschlüsse von Mitgliedern, ist die SI ein Paradebeispiel für einerseits konstruktive und andererseits zermürbende (Konkurrenz-)Kämpfe. Gestritten wurde beispielsweise über die Funktion der Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg, Finanzen oder geplante Ausstellungsprojekte. In Anlehnung an Siegfried Kracauer, der Gruppen als „Ideenträger“ beschrieb, betonte Orlich allgemein die Funktion von Streit als Motor der kreativen Praxis und Theoriebildung in Künstlerkollektiven. Den Streitpunkt des Abends, nämlich die (gern gestellte) Frage danach, ob „Avantgarden“ im Bereich der Kunst als beendet gelten können, ließ der Referent bewusst offen.

Um zu erläutern, welche „Streitlösungsstrategien“ eine demokratische Zivilgesellschaft im Bereich moralischer Unsicherheiten bietet, wählte der Soziologe TORSTEN JUNGE (Hamburg, Berlin) für den letzten Vortragsabend (24.11.2007) den Bereich der Biomedizin. Mit Bezug auf Dresden als Standort des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik und auf die noch bis zum 30. März 2008 laufende Ausstellung Six feet under. Autopsie unseres Umgangs mit Toten im Deutschen Hygiene-Museum, warf er die Frage nach dem Pro und Contra im Streit um die Spende- und Vergabepraxis von Organen auf. Einerseits nehme eine positive Bewertung des Todes als „Neuanfang“ durch die Organspende in der Bevölkerung zu; auf der anderen Seite werde die zum Beispiel in Österreich praktizierte, so genannte „Widerspruchslösung“, von vielen abgelehnt. Sie beinhaltet, dass automatisch jeder zum Spender wird, der nicht schriftlich Widerspruch einlegt. Zur demokratischen Entscheidungsfindung in solchen fundamentalen ethischen Konflikten hat sich das institutionalisierte „Streiten“ innerhalb von Enquête-Kommissionen und Bürgerkonferenzen etabliert. Junge vertritt die These, dass demokratisches Streiten und die damit verbundene Partizipation von Laien größere „Freiheiten“, aber auch neue, „komplexere Konflikte“ hervorruft. Als ihre Synthese – und hier führte er Jürgen Habermas ins Feld – entstehe aber das positive Resultat einer „Diskurs-Ethik der Versöhnung“.

Der Historiker DANIEL SCHLÄPPI (Bern) verzichtete auf das Podium, um eine größere Nähe zum Publikum zu schaffen und veranschaulichte am Beispiel der Entstehung der schweizerischen Eidgenossenschaft in der Neuzeit die (notwendige) Beziehung von Territorium und politischem Kompromiss. Er charakterisierte das eidgenössische Prinzip als „moderate Streitkultur“, „reziproken Altruismus“ und für damalige Verhältnisse neue „Politik der Verteilung“, fähig, heterogene Bevölkerungsschichten und Regionalismen zu verbinden. Die Eidgenossenschaft wurde im Workshop auf Basis der Überlegungen von Marcel Mauss zur Gabe und vor dem Hintergrund der Staatstheorie Charles de Montesquieus mit dem Ergebnis diskutiert, dass diese Struktur in einem Land wie der Schweiz nur als Produkt eines topographisch „kleinen Raums“ entstehen konnte. Daher ist die frühneuzeitliche Eidgenossenschaft vergleichbar mit ähnlichen Organisationsformen in den Niederlanden oder in mittelalterlichen Städtebünden. Die Eidgenossenschaft lässt sich als antifeudale „Kompromisskultur“ verstehen, die trotz ihres lockeren Verbandes aufgrund des geregelten Zugangs zu Kollektivgütern Stabilität bewiesen hat. Bei den unterschiedlichen, sich um den Freiheitskämpfer und Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell rankenden Legenden, handele es sich allerdings um „Streitmythen“, so Schläppi. Tell gelte zwar als Urheber der Befreiung und als Stifter des gegen die habsburgische Macht gerichteten Bundes der Eidgenossen, aber sein Wirken lasse sich nicht sicher belegen.

In seinem ebenso spannenden wie leidenschaftlichen Vortrag „Guck dich doch mal an! Ein Streitargument zwischen mittelalterlicher Märe und Talkshow“ vollzog der Literatur-, Musik- und Religionswissenschaftler SILVAN WAGNER (Bayreuth) einen diachronen Vergleich zwischen zeitgenössischer und mittelalterlicher Semiotik im Sinne des Linguistic turn. Im TV ausgetragene Streitigkeiten – Talkrunden von Arabella Kiesbauer bis Reinhold Beckmann – und mittelalterliche Mären, die Streit thematisieren (wie beispielsweise die Versdichtung Der Gürtel) seien ein Beweis dafür, so Wagner, dass besonders „moralische Streitfälle“ seit dem Mittelalter als Thema ausgesprochen populär sind. Lediglich ihre kulturtechnische, mediale Vermittlung habe sich verändert. In beiden Fällen, Talkshow und Märe, wird eine dramatische „Aufführungssituation“ mit dem Ziel der moralischen Diffamierung des Gegners erzeugt, argumentativ vor einem Publikum gestritten und an seine (moralische) Parteinahme appelliert. Als überraschend stellte sich der Hergang der von Wagner analysierten und vorgeführten mittelalterlichen Erzählung Der Gürtel heraus: der abrupte Stimmungswechsel von Streit zu Versöhnung am Ende der Geschichte scheint entweder auf das Fehlen einer Textpassage oder auf eine surreale Beilegung des Streits zurückzuführen zu sein.

Die Linguistin und Mediävistin SONJA WÜRTEMBERGER (Stuttgart) wählte den Sprechgesang Aleke bat cunzen des so genannten Meissner als Ausgangspunkt für ihren Vortrag: „Im Text-Turnier wurde keiner meiner Gegner alt“. Sie führte syntaktische, phonetische, lexikologische und morphologische Eigenheiten des Textes vor Augen und veranschaulichte, dass dieses „Abecedarium“, das in der Forschung lange als sprachliche Verweigerung von Sinn galt, in Wirklichkeit ein metaphorisches Verweisspiel darstellt. Ähnlich wie Silvan Wagner wählte sie als Methode den diachronen Vergleich auf Basis der Strukturanalyse. Die Untersuchung des mittelalterlichen Sängerwettstreits führte sie bis zu den Stuttgarter Rappern Franky Kubrick und Danny Fresh. Danny Fresh nennt sich „Warrior of christ“ und knüpft nach eigener Aussage an mittelalterliche Vorbilder an. Beide Gattungen, den agonalen Sängerwettstreit des Mittelalters (als zusätzliches Beispiel nannte die Referentin den fiktiven Wartburgstreit) und den „Battle-Rap“, verbindet ein konservativer Wertekodex und ähnliche (Spiel-) Regeln. Bei den Polylogen der Sängerkollegen handelt es sich um „fiktive Streitsituationen, die eine mediatisierte und (friedlich) inszenierte Konfliktaustragung symbolisieren. Ziel dieses „Wettstreits der Worte“ sei die immer ausgefeiltere poetologische Raffinesse und künstlerische Anerkennung im Sinne eines ´autopoietischen Systems´.

Die Vielfältigkeit der Beiträge hat gezeigt, dass sich das Thema „StreitKulturen“ wie ein roter Faden durch viele Bereiche der Vergangenheit und Gegenwart zieht. Im Verlauf der Tagung kristallisierten sich Schlüsselbegriffe wie „(Ir-)Rationalität“, „(A-)Symmetrie“, „Transparenz“ „Interaktion“, „Performativität“ oder „Kompromiss“ heraus – das Thema wurde aber keineswegs „abschließend“ diskutiert. Die Konferenz bot statt dessen zahlreiche Ausblicke und Impulse für aktuelle Forschungszweige (es fielen Hinweise auf anschlussfähige Themen wie Scientific communities, Studies of the Commons oder Streitsoziologie); weitere interessante Untersuchungen und Fragestellungen, beispielsweise aus den Bereichen Film-, Sport- oder Theaterwissenschaft, könnten ergänzt werden. Ein demokratisches Verständnis von Wissenschaft trat in dem forums-Konzept der abendlichen, öffentlichen Vorträge mit anschließender Diskussion, das auch das außeruniversitäre Publikum mit einbezog, zutage. So entstand ein angenehmes Gegengewicht zu der sonst häufig anzutreffenden Selbstreferentialität der Wissenschaft. Die rotierende Moderation ermöglichte darüber hinaus sinnvolle Perspektivwechsel. Während der gesamten Tagung herrschte eine konstruktive Atmosphäre, die bei den meisten TeilnehmerInnen einen durchweg positiven Eindruck hinterließ. Einige von ihnen regten an, den begonnenen Ideenaustausch auch in Zukunft fortzusetzen. Das III. forum junge wissenschaft wurde von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen, der Bundeszentrale für Politische Bildung und der Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Die Ergebnisse werden in einer Publikation zusammengeführt, die beim Transcript-Verlag erscheinen soll.

Konferenzübersicht:

Florian Hartmann (Rom): Der Zerfall eines Weltbildes. Der Investiturstreit und seine Folgen
Janina Fuge (Hamburg; Lüneburg): Schlachtfeld Erinnerung. Streit in der Weimarer Republik
Alexandra Ludewig (Perth): Leitkulturen – Streitkulturen
Youssef Denaoui, Daniel Witte (Bonn): Wie viel Medialität verträgt der Streit?
Nico Koppo (Bielefeld): Zwischen Mahnern, Propheten und Beratungssolisten. Streitkultur in der wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung
Max Orlich (Freiburg i. Br.): Avantgardistisch streiten. Von Dada bis zur Situationistischen Internationale
Daniel Schläppi (Bern): Der Kompromiss. Politische Kultur in der Schweiz vor 1800
Torsten Junge (Hamburg, Berlin): Streit um Organe. Konflikte zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit
Silvan Wagner (Bayreuth): „Guck Dich doch mal an!“ Ein Streitargument zwischen mittelalterlichen Märe und Talkshow
Sonja Würtemberger (Stuttgart): „Im Text-Turnier wurde keiner meiner Gegner alt“ Sängerstreit in Sangspruch und Sprechgesang


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