Struktureller Wandel der Unternehmensorganisation 1960 bis 1980

Struktureller Wandel der Unternehmensorganisation 1960 bis 1980

Organisatoren
Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V.; Roland Berger, Strategy Consultants GmbH
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2007 - 09.10.2007
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Von
Jörg Lesczenski, Johann Wolfgang Goethe-Universität Franfurt am Main

Die zeithistorische Forschung wird seit geraumer Zeit aus guten Gründen nicht müde, gerade in den 1970er und 1980er-Jahre tiefgreifende Zäsuren in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu diagnostizieren, die nicht nur Westdeutschland, sondern auch seine europäischen Nachbarn in West und Ost nachhaltig veränderten. Die ökonomischen Sonderbedingungen der Nachkriegszeit neigten sich ihrem Ende entgegen, der Ölpreisschock, die Erschütterung des Weltwährungssystems, der Niedergang traditioneller Industriezweige wie der Textil- und Montanindustrie, die wachsende Konkurrenz der Schwellenländer in Ostasien, zunehmende Arbeitslosigkeit, steigende Inflationsraten in Westdeutschland sowie ein „sozialkulturell tiefgreifender Bedürfnis- und Wertewandel“1 verweisen auf eine Epochenzäsur, die bisweilen als „Erdrutsch“ charakterisiert wird.2
Über die genauen Rückwirkungen und Folgen der Strukturveränderungen auf Branchen und Unternehmen ist hingegen noch wenig bekannt. Aus unternehmenshistorischer Perspektive näherte sich das 30. Wissenschaftliche Symposium der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte e.V., das in Zusammenarbeit mit der Roland Berger Strategy Consultants GmbH in München durchgeführt wurde, den 1960er- bis 1980er-Jahren und beleuchtete an ausgewählten Fallbeispielen die Zusammenhänge zwischen den ökonomischen und sozialen Umbrüchen in der Bundesrepublik und dem Wandel von Unternehmensstrukturen.

Die Reorganisation US-amerikanischer und deutscher Großunternehmen in der Nachkriegszeit nahm ERICH FRESE (Köln) in den Blick und richtete den Fokus dabei auf die Unternehmensgeschichten von DuPont, General Motors, der I.G. Farben sowie der Siemens AG. Die vergleichende Analyse Freses hob insbesondere auf zwei Unterschiede ab: In westdeutschen Unternehmen sei die „Identität der Gewinnausschüttung“ schwächer und die „Defizite im Komponentenwissen“ auffällig größer als in US-Konzernen gewesen. Entsprechend sei die „Etablierung unternehmensweiter Planungssysteme“ die eigentliche Innovation der Reorganisation gewesen, die um 1970 der „Emanzipation des Betriebswirts in deutschen Großunternehmen“ den Weg geebnet und gleichzeitig das „Abonnement der Techniker auf den Vorstandsvorsitz“ beendet habe. Auf die Wechselbeziehungen zwischen neuen Informationstechnologien, neuen Formen der Managementberatung und Veränderungen von Unternehmensstrukturen in den 1970er-Jahren wies TIMO LEIMBACH (München) in seinem Beitrag hin. Nachdem sich zu Beginn der 1960er-Jahre in den USA der verstärkte Einsatz von Computersystemen (unter anderem dank des massiven Einflusses von Beraterfirmen) durchgesetzt habe, sei das Zusammenspiel von DV(Datenverarbeitungs)-Spezialisten und der Etablierung von Großcomputersystemen auch in der Bundesrepublik zu einem wirkungsmächtigen „Motor organisatorischer Veränderungen“ geworden. Wie Leimbach ausführte, sorgte das wachsende Bedürfnis der Unternehmen, Massendaten (z.B. in der Bilanzbuchhaltung) zu verarbeiten, für einen steigenden Bedarf an DV-Spezialisten. Sie gründeten erste eigene Firmen, um Unternehmen bei der Einführung neuer DV-Systeme (die womöglich auch mit der Emanzipation der Betriebswirte sowie dem Einfluss von Wirtschaftsverbänden wie dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e.V. in Zusammenhang standen) zu beraten.

Aus neoinstitutionalistischer Perspektive, die Organisationsstrukturen in erster Linie als „Ausdruck von Erwartungen und Regeln“ begreift, die auf Organisation einwirken, arbeitete ANDRÉ BLEICHER (Leipzig) die Antworten der Elektrizitätswirtschaft auf die Strukturbrüche der 1960er- und 1970er-Jahre heraus, die sich zwischen „Isormorphie“ und „Heteromorphie“ bewegten. Dabei sei es unter anderem der normative Druck „von außen“ gewesen (wie das neoliberale Paradigma seit den ausgehenden 1970er-Jahren), der die Elektrizitätswirtschaft bewegt habe, herkömmliche Organisationsstrukturen zumindest zu hinterfragen. Zu einem „institutionalisierten Muster“ habe sich die Diversifizierung indes nicht entwickelt. Während Bleicher bei der Energieversorgung Schwaben AG, der Badenwerk AG oder der Hamburgische Electrizitäts-Werke AG keine Diversifizierungsstrategien diagnostizierte, gingen etwa das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk, Preußenelektra, die Bayernwerk AG und die Vereinigte Energiewerke AG erst Ende der 1980er-Jahre und partiell (so etwa der RWE-Konzern) nur langsam zur Diversifizierung über. Das „organisationale Lernen“, gewissermaßen die Lernprozesse einer Organisation, zeichnete MARIUS HERZOG (Rostock) am Beispiel der Linde AG in den Jahren 1954 bis 1984 nach. In der Furcht vor der Konkurrenz aus den Vereinigten Staaten, insbesondere der Sorge vor einem wachsenden technologischen Abstand zu den USA schritt der Strukturwandel des Unternehmens unter dem Einfluss des damaligen Vorstandsassistenten Hans Meinhardt vor allem seit Mitte der 1960er-Jahren stetig voran. Die Strukturreformen liefen darauf hinaus, den Vorstellungen eines zentral geleiteten Großunternehmens in der Praxis zum Durchbruch zu verhelfen und die Abteilungen für Planung und Organisation in der Zentralverwaltung zu stärken. Mit der Ablösung von Hermann Linde durch Hans Meinhardt an der Spitze des Vorstands fand der organisationsstrukturelle Paradigmenwechsel auch auf personeller Ebene einen signifikanten Ausdruck.

Die 1960er-Jahre markierten nach Auffassung von CHRISTOPHER KOPPER (Paderborn) auch für das Organisationsgefüge der Deutschen Bundesbahn eine Zäsur. Die Bahn zeichnete sich lange durch starre Strukturen, eine starke Stellung funktionaler Fachabteilungen, personelle Kontinuitäten zur Reichsbahn und eine Dominanz hoher Beamter, namentlich der Juristen, aus. Eine Defizit von 800 Millionen DM (1965) und die zunehmende Konkurrenz des LKW-Verkehrs waren Gründe, die zu einer – letztlich „unvollendeten“ – Reorganisation geführt hätten. Gegen zahlreiche Widerstände (z.B. von Seiten der bayerischen Landesregierung) wurden die Organisationsstrukturen gestrafft und vor allem unterhalb des Vorstands zentrale Funktionsbereiche konstituiert. Den „Weg zum größten Unternehmen Deutschlands“, die Geschichte und den organisatorischen Wandel der Diakonie seit 1960, beleuchtete RAJAH ISABELLE SCHEEPERS (Hannover). Den Mangel an Diakonissen und den fortwährenden hohen finanziellen Druck auf die evangelischen Krankenhäuser beantwortete die Diakonie in den 1960er-Jahren mit organisatorischen Reformen, die das Wohl der Organisation zunehmend in die Hände von Betriebswirten legte und die Verwaltungsarbeit mit Hilfe von EDV-Systemen bewältigte. Der drohende „Profilverlust“, die Furcht, nur noch als „normales Unternehmen“ wahrgenommen zu werden, habe in den 1970er-Jahren dazu geführt, das Leitbild einer „humanen Medizin“ in der Diakonie deutlich zu akzentuieren. „Brüderlichkeit“ und „Barmherzigkeit“ sollten nunmehr die Organisationsstrukturen prägen, die in den 1980er-Jahren schließlich auch unter dem Einfluss der Ideen britischer Unternehmensberater standen und nunmehr darauf ausgerichtete werden sollten, Theologie und Ökonomie miteinander zu versöhnen.

Auf die viel beachteten Arbeiten von Luc Boltanski und Ève Chiapello zum „neuen Geist des Kapitalismus“, der in seiner modernsten Variante im Gewand des „Netzwerkkapitalismus“ daherkomme, griff RUTH ROSENBERGER (Trier) zurück, um am Beispiel der Siemens AG die „Personalführungskonzepte und Managementtechniken als Katalysatoren des Übergangs zum schlanken Unternehmen“ zu erfassen. Seit den frühen 1970er-Jahren gewannen „Experten für das Humankapital“ und die Suche nach „neuen Handlungsmaximen für die Führungsetage“, bei der auch auf die Hilfe von Unternehmensberatern zurückgegriffen wurde, erkennbar an Bedeutung. In den Mittelpunkt der Managementphilosophie rückte nun der eigenständige, eigenverantwortliche, emanzipierte und kreative Mitarbeiter. Der Wandel der Personalführungskonzepte muss nach Meinung Rosenbergs schlussendlich als eine Voraussetzung für die Durchsetzung des „Netzwerkkapitalismus“ begriffen werden.
REBECCA BELVEDERESI (Aachen) untersuchte die Marketingstrategien und die Organisation der Sparkassen im historischen Verlauf, die sich von einer „moralischen Anstalt zu einem vertriebsorientierten Finanzdienstleister mit Universalbankcharakter“ gewandelt hätten. Wie Belevederesi betonte, setzte der „beschleunigte Transformationsprozess“ in den 1960er-Jahre ein. Der „basale Wandel der Unternehmensphilosophie“ sei maßgeblich auf den Generationswechsel auf Verbandsebene und im Sparkassenverlag zurückzuführen, der die traditionelle, die Modernisierung blockierende, Sozialisation der Akteure aufbrach. Anschließend setzten die Sparkassen auf „kollektive Kreativität“, auf Marketing- und Anlagestrategien, auf die Individualisierung und Diversifizierung des Dienstleistungsangebots, auf jugendspezifische Kampagnen sowie auf den „Kundenkontakt auf Augenhöhe“.

Mit veränderten „Marketing-Management-Konzepten“ als „Wegmarke des organisatorischen Wandels in der deutschen Automobilindustrie befasste sich INGO KÖHLER (Göttingen), der die frühen 1970er-Jahre mit guten Gründen als Krisenzeit für die Automobilhersteller umschrieb: Anzeichen einer Marktsättigung, der Schock der Ölkrise, wachsendes Umwelt- und Energiebewusstsein, die Imagekrise der Branche durch hohe Unfallzahlen im Straßenverkehr sowie veränderte Konsumentenpräferenzen setzten die Branche unter erheblichen Handlungsdruck, die Marketing nunmehr als „ganzheitliches Steuerungsinstrument mit Blick auf Kundenorientierung“ und als Schlüssel für die Krisenbewältigung begriff. So ging etwa die Volkswagen AG, die bis dahin das Marketing der Verkaufsabteilung untergeordnet hatte, dazu über, die Kompetenzen der Marketingabteilung zu erweitern, die nun jeden Schritt der Produktentwicklung begleitete, und diese fest im Organigramm des Unternehmens zu implementieren. Auch wenn sich keine Automobilfirma längerfristig dem Trend zu einer „verbraucherorientierten Marketing-Management-Strategie“ entzog – einen „Königsweg“ für die organisatorische Einbindung des Marketing in die Organisationsstrukturen, die sich z.B. im zeitlichen Ablauf von Unternehmen zu Unternehmen durchaus unterschied, gab es in der Automobilindustrie nicht. Die Frage „Soll man durch Diversifikation wachsen?“ stand, wie STEFANIE VAN DE KERKHOF (Hagen) in ihrem abschließenden Referat ausführte, bei der Rheinmetall Berlin AG seit Mitte der 1970er-Jahre auf der Tagesordnung. Nachdem es bereits in den 1950er-Jahren erste Strategien der Diversifizierung gab (Zukauf kleiner mittelständischer Unternehmen), setzte sich die Unternehmensführung nunmehr das Ziel, über eine konsequente Internationalisierung Risiken zu minimieren. Die Hoffnung, sich mit der Wehrtechnik, der Verpackungstechnik, der Mess- und Regeltechnik sowie mit der Sparte Handel und Dienstleistungen mit Erfolg breit aufzustellen, erfüllte sich indes nicht. Die erwirtschafteten Ergebnisse der Firmen blieben hinter den Erwartungen zurück, das Produktionsprogramm wirkte eher unübersichtlich, sorgte für überproportional hohe Fixkosten und wurde überdies auch nicht in wirksame Planungs- und Kontrollsysteme eingebettet. Nachfolgend wurden unter anderem unrentable Gesellschaften veräußert, ein Planungs- und Berichtssystem implementiert und die bisherige Diversifizierungsstrategie modifiziert, die nun darauf hinauslief, Marktführer (wie die Jagenberg AG oder die Pierburg GmbH) in das Unternehmen zu integrieren.

Wie lassen sich die zahlreichen Einzelergebnisse abschließend thesenartig zusammenfassen? Eine organisatorische Revolution fand zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren gewiss nicht statt - und dennoch ist aus unternehmenshistorischer Perspektive der Wandel der Organisationsstrukturen evident. Ältere, partiell noch vor dem Ersten Weltkrieg implementierte Organisationsmodelle standen am Ende der Nachkriegszeit zunehmend unter Druck. Die Komplexität der Unternehmen erhöhte sich, die nunmehr seit den 1970er-Jahren implementierte „Planung“ wurde immer deutlicher als eine vielversprechende innerbetriebliche Ressource begriffen. Überhaupt scheint sich, so die These von Werner Plumpe, die Beziehung der Unternehmen zu ihrer Umwelt seit den ausgehenden 1960er-Jahren durch ein „neues Zeitverhältnis“ auszuzeichnen. Nicht mehr der hauseigene Erfahrungsschatz, sondern die nach vorne gerichtete Suche nach verlässlichen Prognosen und Planungsprozessen bestimmten fortan in den Unternehmensführungen die Problemlösungen. Deutlich wird überdies: Einen für alle Branchen gültigen, den erfolgreichen Wandel von Organisationsstrukturen garantierenden „Masterplan“ gab es nicht. Die Einzelbeiträge lassen schließlich auch vermuten, dass neben den großen gesamtgesellschaftlichen Strukturbrüchen der Generationenwandel zu den Motoren des organisatorischen Wandels gehörte. Die Frage nach dem Stellenwert der „68er“ in den Unternehmensführungen nach dem Rückzug von „Hitlers Managern“ und nach der Bedeutung neuer Erfahrungswelten sowie neuer Strategien im Sozial- und Alltagsverhalten für das Organisationsdesign etc. dürfte die Analyse des Strukturwandels von Unternehmen seit den 1960er-Jahren in Zukunft weiter bereichern.

Konferenzübersicht:

Werner Plumpe/Jörg Sydow: Einführung

Sektion I:
Erich Frese: Die Reorganisation deutscher Großunternehmen in der Nachkriegszeit und das U.S.-amerikanische Organisationsmodell. Ein Beitrag zur organisationstheoretischen Fundierung der Dornseifer-Thesen
Timo Leimbach: „Unlocking the Computer’s Profit Potential“ – Informationstechnologie und Managementberatung als gemeinsamer Motor organisatorischer Veränderungen in Unternehmen der 70er Jahre
Kommentar: Werner Plumpe

Sektion II:
André Bleicher: Diversifizierung als institutionalisiertes Muster? Isomorphie und Heteromorphie in der Elektrizitätswirtschaft
Marius Herzog: Die Visionen und die Divisionen: Der Strukturwandel der Linde AG als organisationaler Lernprozess der 60er und 70er Jahre
Kommentar: Jörg Sydow

Sektion III:
Christopher Kopper: Auf dem Weg von der Verwaltungs- zur Unternehmensstruktur? Die unvollendete Reorganisation der Deutschen Bundesbahn in den 60er und 70er Jahren
Rajah Isabelle Scheepers: Auf dem Weg zum größten Unternehmen Deutschlands – die Diakonie seit 1960
Kommentar: Thomas Welskopp

Sektion IV:
Ruth Rosenberger: Wissen für vernetztes Führen. Personalführungskonzepte und Managementtechniken als Katalysatoren des Übergangs zum „schlanken Unternehmen“.
Kommentar: Hartmut Wächter

Sektion V:
Rebecca Belvederesi: Von der „moralischen Anstalt“ zum vertriebsorientierten Finanzdienstleister – Wandlungsmomente der Sparkassenorganisation im Spiegel ihrer Marketingstrategie
Ingo Köhler: „Marketing-Management-Revolution“ – eine Wegmarke des organisatorischen Wandels in der deutschen Automobilindustrie zwischen 1960 und 1980?
Stefanie van de Kerkhof: „Revolving Buying“? – Die Diskussion um Diversifizierung und Organisationsstruktur der Rheinmetall Berlin AG in der 70er und 80er Jahren
Kommentar: Stephanie Tilly

Anmerkungen:
1 Hockerts, Hans Günther, Einführung, in: Ders. (Hrsg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts, München 2004, S. XI.
2 Neuester Problemaufriss: Doering-Manteuffel, Anselm, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 559-581.


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