Sprache und Sprachen in Berlin um 1800

Sprache und Sprachen in Berlin um 1800

Organisatoren
AG "Berliner Klassik" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.02.2003 - 01.03.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Sarah Bösch

Kann die deutsche Sprache die Rolle einer Wissenschaftssprache einnehmen? Wie ist sie diesbezüglich zu fördern? Wie konstituiert sich sprachliche Identität in einer mehrsprachigen Gesellschaft? Mit welchen Zielsetzungen und Methoden sind die Vielfalt der Sprachen und das Phänomen Sprache an sich wissenschaftlich zu untersuchen?

Diese heute nach wie vor aktuellen Fragen waren am 28. Februar und 1. März 2003 Gegenstand einer federführend von Ute Tintemann und Jürgen Trabant von der AG "Berliner Klassik" an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften organisierten und von der Volkswagen Stiftung geförderten interdisziplinären Tagung zum Thema "Sprache und Sprachen in Berlin um 1800". Die Vorträge unterteilten sich in zwei Sektionen, wobei erstere ("Deutsch und die anderen Sprachen") der Stellung des Deutschen und anderer in Berlin um 1800 präsenter Sprachen (Jiddisch, Französisch) gewidmet war. Der zweite Tag stand unter dem Motto "Sprachen im Vergleich" und versammelte Beiträge zu den verschiedenen "Berliner Traditionen" der Sprachforschung im Übergang zum 19. Jahrhundert: den großen Sprachenenzyklopädien (Peter Simon Pallas, Julius Heinrich Klaproth, Johann Christoph Adelung / Johann Severin Vater), der philosophischen Sprachtheorie von August Ferdinand Bernhardi und dem Programm des "vergleichenden Sprachstudiums" Wilhelm von Humboldts.

Die Vorträge von Claudia Sedlarz (Berlin) und Joachim Gessinger (Potsdam) beschäftigten sich mit den um 1790 in der Berliner Akademie der Wissenschaften aufkommenden Debatten zum Ausbau des Deutschen bzw. seiner Verwendung als wissenschaftlichem Kommunikationsmittel. Laut Sedlarz liegt ein wesentlicher Grund für die allmähliche Ablösung der international etablierten Wissenschaftssprache Französisch durch das Deutsche als Akademiesprache in einer inhaltlichen "Wende zum Pragmatischen", wie sie sich beispielsweise in der zunehmenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit Fragestellungen rein nationalen Interesses (z.B. landwirtschaftliche Themen, Fragen der Energieversorgung) manifestierte. Im Mittelpunkt der Überlegungen Gessingers standen die Gründung der "Deputation zur Kultur der vaterländischen Sprache" an der Berliner Akademie (1792) sowie die Entstehungsgeschichte der im selben Jahr von diesem Gelehrtenkreis formulierten Preisfrage zur Reinheit und Bereicherung der deutschen Sprache, die von Johann Heinrich Campe gewonnen wurde.

Mit den Beiträgen von Annett Volmer (Berlin), Manuela Böhm (Potsdam) und Conrad Wiedemann (Berlin) wurden Fragen des Sprachbewusstseins bzw. sprachlicher Identität angesprochen. Anhand einer Analyse metasprachlicher Äußerungen aus Briefen, Übersetzungen und Aufsätzen des Zeitschriftenredakteurs und Übersetzers Samuel-Henri Catel (1758-1838) lieferte Volmer ein signifikantes Beispiel für die fortschreitende - im Falle Catels bewusst vollzogene - sprachliche Assimilation der Hugenotten in Brandenburg-Preußen an ihr deutsches kulturelles Umfeld. Böhm untersuchte den sich über mehrere Generationen erstreckenden Sprachwechselprozess von französischer zu deutscher Einsprachigkeit über ein Stadium asymmetrischer Zweisprachigkeit in der Französischen Kolonie Berlins sowie den sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Elementarschulunterricht in einer Einrichtung der französisch-reformierten Gemeinde, der Maison des Orphélins. Conrad Wiedemann demonstrierte anhand der brieflichen Kommunikationsgemeinschaft des preußischen Prinzen Louis Ferdinand, der Hugenottin Pauline Wiesel und der Jüdin Rahel Levin die Abhängigkeit der Sprachenwahl von sozialen und emotionalen Nähe- und Distanzverhältnissen.

Fokussierten die drei zuvor genannten Beiträge das deutsch-französische Sprachverhältnis, widmeten sich die beiden schließenden Vorträge der ersten Sektion der Situation der jiddischen und hebräischen Sprache und Kultur in der Berliner Gesellschaft. Mit der Komödie "Reb Henoch" (1792) des jüdischen Aufklärers Isaak Euchel führte Roland Gruschka (Düsseldorf) ein Beispiel literarischer Verarbeitung der vielschichtigen sprachlichen Sozialisationen der Berliner Juden vor. Der von Hartmut Schmidt (Mannheim) vorgestellte Versuch einer Bibelübersetzung für jüdische und christliche Leser des Berliner Aufklärers Moses Mendelssohn lieferte ein Beispiel hebräisch-deutscher Sprach- und Kulturvermittlung, wobei Schmidt in seinen Ausführungen besonderen Wert auf die übersetzerische Leistung Mendelssohns (Präzisierung und Modernisierung der zeitgenössischen deutschen Bibelsprache) legte.

Der zweite Tag stand im Zeichen des Sprachvergleichs und einiger seiner maßgeblichen Protagonisten um 1800. Jürgen Trabant (Berlin) thematisierte in seinem Vortrag wesentliche Unterschiede zwischen den sprachvergleichenden Sammlungen früherer Jahrhunderte und dem theoretischen Entwurf eines vergleichenden Sprachstudiums bei Humboldt, die beide in unterschiedlicher Weise an Leibniz anknüpfen. Sahen Sprachensammler wie Johann Christoph Adelung in der enzyklopädischen Erfassung der Sprachen der Welt primär ein Mittel zum Zweck der Erforschung der "Herkunft und Verwandschaft alter und neuer Völker" 1 im Sinne der Leibnizschen "Brevis designatio" (1710) 2, ging Humboldt dem Leibniz der "Nouveaux essais" (1765) folgend einen anderen Weg. Das Sprachstudium verstanden als Erforschung des menschlichen Geistes und der "merveilleuse variété de ses opérations" 3, die in der strukturellen Vielfalt der existierenden Sprachen greifbar wird, emanzipiert sich bei Humboldt von der Funktionen einer Hilfswissenschaft der Geschichtsforschung und wird zur autonomen Disziplin.

Barbara Kaltz (Aix-en-Provence) zeichnete in ihrem Beitrag zunächst die Genese des von dem Berliner Naturforscher Peter Simon Pallas (1740-1811) im Auftrag Katharinas der Großen erarbeiteten vergleichenden Wörterbuchs 4 nach, um in einem zweiten Schritt auf die unterschiedlich kritischen Beurteilungen des Werks in dessen Rezeptionsgeschichte einzugehen. Der Schwerpunkt der Darstellung lag auf der schon zeitgenössisch vielgerühmten Rezension des ersten Bandes zu den europäischen und asiatischen Sprachen durch Christian Jacob Kraus (1753-1807) für die Allgemeine Literatur-Zeitung (1787). In ihrem Vortrag "Typologie und Anthropologie bei Lorenzo Hervás y Panduro (1735-1809)" befasste sich Gerda Haßler (Potsdam) mit einem weiteren wichtigen Sprachenkompilator des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In Abgrenzung zur historiographischen Tradition präsentierte sie den spanischen Jesuiten jedoch nicht in erster Linie als Wegbereiter der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, sondern unterstrich den engen Zusammenhang seiner empirischen Sprachforschungen mit einem vorrangig anthropologischen Erkenntnisinteresse, das ihn in die Nähe einer historisch-anthropologischen Tradition der Sprachforschung rückt, wie sie in unterschiedlichen Ausprägungen von Leibniz, Humboldt oder der "Société des observateurs de l'homme" verkörpert wird. Ute Tintemann (Berlin) stellte die schon zeitgenössisch hinsichtlich ihrer Methode umstrittenen Sprachstudien des Orientalisten und Sinologen Julius Heinrich Klaproth (1783-1835) vor, der den Sprachvergleich noch ganz den Zielsetzungen Leibnizens und Adelungs verpflichtet in den Dienst der Erforschung fremder Völker stellt bzw. als Hilfswissenschaft von Ethnographie und Anthropologie konzipiert: "Um die verschiedenen Völkerstämme, welche den Erdkreis bewohnen, richtig von einander zu unterscheiden, ist die Sprachvergleichung, da wo Geschichte mangelt, das beste und einzige Mittel" 5.

Denis Thouard (Lille/Paris) und Isabel Zollna (Marburg) stellten beide die philosophische Grammatik von August Ferdinand Bernhardi in das Zentrum ihrer Ausführungen. Thouard arbeitete anhand eines Textvergleichs von Humboldt und Bernhardi Kontinuitäten (dialogischer Charakter der Sprache, Präsenz der Kategorienlehre Kants) und Differenzen (Individualität der Einzelsprachen für Humboldt vs. "idealische Form" der Sprache bei Bernhardi) in den Sprachauffassungen der beiden Autoren heraus, wobei er besonders die Bedeutung der philosophischen Sprachlehre bzw. der transzendentalen Formen der Anschauung als Fundament des vergleichenden Sprachstudiums bei Humboldt unterstrich. Zollna wählte das etwa zeitgleich zu Bernhardis sprachtheoretischen Schriften (1801-1803) entstandene Konzept der "Idéologie" (1801-1815) des Pariser Philosophen Destutt de Tracy als Vergleichsfolie, um ähnlich wie Thouard anhand einer Textgegenüberstellung die Übereinstimmungen und - sozial- bzw. kulturgeschichtlich bedingten (deutscher Idealismus vs. französischer Sensualismus) - Gegensätze zwischen den beiden Entwürfen einer allgemeinen Grammatik aufzuzeigen. Der die Tagung beschließende Vortrag von Jean Rousseau (Paris) behandelte ein in der Folgezeit und bis heute - vermutlich aufgrund seines anachronistischen Charakters - wenig beachtetes Werk Wilhelm von Humboldts, die "Prüfung der Untersuchungen über die Urbewohner Hispaniens vermittelst der vaskischen Sprache" (1821). Anhand der Analyse expliziter Verweise Humboldts auf die Forschungen August Ludwig von Schlözers (1735-1809) sowie Konvergenzen inhaltlicher und methodischer Art zwischen den beiden Wissenschaftlern explizierte Rousseau die Nähe der "Prüfung" zu einem älteren, von Leibniz inspirierten Modell des diachronen Sprachvergleichs.

Als wichtige, im Rahmen der Tagung nicht näher behandelte Aspekte des Themas wurden abschließend zum einen die Stellung des Berlinischen und Polnischen im städtischen Sprachengefüge genannt, zum anderen die im Umkreis der Akademie entstandenen Arbeiten von Carlo Denina ("La clef des langues", 1804) und Daniel Jenisch 6.

Die Abstracts einzelner Referenten sowie nähere Informationen zur AG "Berliner Klassik" sind unter http://www.berliner-klassik.de einzusehen. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist für Ende 2003 geplant.

Anmerkungen
1 Johann Christoph Adelung: Mithridates oder allgemeine Sprachkunde mit dem Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünfhundert Sprachen und Mundarten. Bd. 1. Berliner: Vossische Buchhandlung 1806 (Nachdruck: Hildesheim/New York: Olms 1970): III.
2 Gottfried Wilhelm Leibniz: Brevis designatio meditationum de Originibus Gentium, ductis potissimum ex indicio linguarum. In: Miscellanea Berolinensia ad incrementum scientiarium. Berlin: Johan. Christ. Papenii: 1-16.
3 Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux essais sur l'entendement humain (Hrsg. Jacques Brunschwig). Paris: Garnier Flammarion 1966: 293
4 Peter Simon Pallas: Linguarum totuis orbis vocabolaria comparativa. 2 Bde. St. Petersburg: Schnoor 1786/89.
5 Julius Heinrich Klaproth: Asia polyglotta. Paris: J. M. Eberhardt 1823: 35.
6 Der Berliner Philologe und Theologe Daniel Jenisch gewann die 1792/94 von der Berliner Akademie ausgeschriebene Preisfrage zu den Kriterien einer vergleichenden Sprachbetrachtung und -bewertung der Hauptsprachen Europas mit seiner Abhandlung "Philosophisch-kritische Vergleichung und Würdigung von vierzehn ältern und neuern Sprachen Europas [...]" (1796).

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Kontaktadresse:
Ute Tintemann
tintemann@bbaw.de

http://www.berliner-klassik.de
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