Strategien der Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich

Strategien der Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich

Organisatoren
Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO), Freie Universität Berlin (Frankreich-Zentrum und Osteuropa-Institut) in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum, der Botschaft der Republik Polen in Berlin und der Botschaft der Französischen Republik in Deutschland
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.11.2007 - 10.11.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Agnieszka W.Wierzcholska, Berlin; Camille Mazé, Ecole normale supérieure, Paris

Dass mit Geschichte Politik und umgekehrt mit Politik Geschichte gemacht werden kann, wissen wir leider nicht erst seitdem der polnische Präsident Kaczyński die Europäische Union damit brüskierte, dass er bei der Debatte um die Stimmverteilung innerhalb der EU-Länder zu bedenken gab, die polnische Bevölkerung sei im Zweiten Weltkriegs erheblich dezimiert worden und daraus Forderungen ableitete. Was bedeutet diese Instrumentalisierung der Geschichte, die Hervorhebung eigenen Leids und fremder Schuld bei politischen Verhandlungen? Wie wird dabei mit nationalen Befindlichkeiten gespielt? Angesichts dieser in den letzten Jahren akut gewordenen Fragen ist es umso bemerkenswerter, dass sich Anfang November 2007 Historiker aus Deutschland, Polen und Frankreich den Strategien der Geschichtspolitik seit 1989 widmeten und damit ein ‚Weimarer Dreieck der Wissenschaften‘ ins Leben riefen. Bereichert wurde die Konferenz auch von Wissenschaftlern aus weiteren Ländern wie Belgien und Israel und aus anderen Disziplinen wie Soziologie und Ethnologie. Konzipiert wurde die Veranstaltung von ROBERT TRABA, ÉTIENNE FRANÇOIS und STEFAN TROEBST. Ausgerichtet wurde sie vom Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, dem Frankreichzentrum und dem Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin sowie vom Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig.

Zielsetzungen und Fragestellungen der Konferenz stellte Robert Traba zu Beginn vor. Er erinnerte an die Entwicklung der Erinnerungskulturen als „Subdisziplin“ in den Geschichtswissenschaften, die in Frankreich begann und anschließend Eingang in die Wissenschaften anderer Länder fand. In diesem Kontext stellte sich Europa 1989 der Frage nach der Erinnerung an den Kommunismus. Obwohl die Zäsur in Polen, Deutschland und Frankreich unterschiedlich verlief und verarbeitet wurde, solle in diesem Forum nach den erinnerungspolitischen Veränderungen in allen drei Ländern gefragt werden, im Besonderen nach der Wechselwirkung zwischen Politik und Geschichte. Wie interferieren diese beiden Felder und ihre Akteure miteinander, welcher Mechanismen bedienen sie sich und wie können geschichtswissenschaftliche Standards vor Manipulierungen der Disziplin schützen? Kann es überhaupt, spitzte Traba die Frage an die teilnehmenden Wissenschaftler zu, eine affirmative Geschichte im Sinne des „nation building“ geben?

In den Problemdiskussionen kristallisierten sich folgende Schwerpunkte heraus. Zum einen wurde die Debatte immer wieder auf die Frage zurückgeworfen, wie viel Staat und wie viel zivilgesellschaftliche Initiativen es in der Ausgestaltung von Geschichtsbildern geben darf und soll. Wie viel Pluralismus kann Geschichtsschreibung verkraften oder ist ein Basisnarrativ als Orientierungspunkt notwendig? Welche Akteure aber sollen diese bestimmen, wenn Historiker in der massenmedialen Gesellschaft an Bedeutung verlieren und nicht in einem „herrschaftsfreien“ Raum agierten, so EDGAR WOLFRUM, denn auch sie sind auf die Finanzierung von Interessengemeinschaften angewiesen. Zum anderen kreiste die Diskussion um die veränderten Geschichtsdeutungen nach 1989. Im Besonderen wurde hier danach gefragt, ob die Erinnerungen an den Kommunismus jene an den Nationalsozialismus verdrängen und somit den bundesdeutschen Konsens des „Nie wieder“ aufbrechen könnten. Eine Aufwertung verschiedenster Opfergruppen wurde für die 1990er-Jahre in ganz Europa konstatiert. Ihre gegenseitige Konkurrenz führe zur Relativierung des jeweilig fremden Leids. Letztlich wurde danach gefragt, welche wegweisende Rolle der Historiker hierbei spielen kann, wenn er weder Therapeut noch Richter sein will.

Die Diskussionen waren immer dann ergiebig, wenn es den Wissenschaftlern gelang, in einen veritablen Trialog einzutreten und erinnerungspolitische Phänomene, ihre Zäsuren und Wendungen in einem allgemeinen europäischen Kontext einzubetten. Leider zeigte die Konferenz zuweilen auch, wie schwer ein transnationaler Austausch in den Geschichtswissenschaften ist. Blieben einige Historiker ihren nationalen Diskursen doch allzu sehr verhaftet und vermochten nicht, einen Austausch aller drei Länder herzustellen. Hier soll nun ein Einblick in die einzelnen Diskussionsstränge folgen.

Zum Auftakt der Konferenz diskutierten Politiker aus Polen, Deutschland und Frankreich, was Geschichte leisten sollte. Obwohl jeder von ihnen die Unabhängigkeit der Geschichtswissenschaften betonte, setzten sie jeweils zur Rolle der Geschichtspolitik andere Schwerpunkte. Dabei spiegelten sie die gängigen Diskurse ihrer Heimat wieder. Während der damalige polnische Kultusminister KAZIMIERZ UJAZDOWSKI eine national affirmative Rolle vertrat, indem er das Erinnern als nationale Verantwortung sah, betonte der Vizepräsident des Bundestages WOLFGANG THIERSE den bundesdeutschen „antitotalitären Konsens“ der Geschichtspolitik, der sich vornehmlich aus dem Konsens, so etwas wie „nationalsozialistische Verbrechen dürfen nie wieder passieren“, ableitete. Dagegen vertrat der Botschafter Frankreichs in Deutschland BERNARD DE MONTEFERRAND ein eher Rousseausches Konzept. Politik könne durch die Aufarbeitung der Geschichte den „contrat social“ verbessern, indem sie die Versöhnung verschiedener Gruppen ermögliche. Hier erwähnte er die Rede von Jacques Chirac 1995, der die Schuld Frankreichs an der Deportation von Juden während des Zweiten Weltkrieges anerkannt hatte, die cité de l‘immigration als Zeichen der Beschäftigung mit den gemeinsamen Wurzeln der Franzosen mit Migrationshintergrund, aber auch die Aussöhnung, die dadurch zwischen Nachbarländern möglich geworden sei.

Schnell jedoch richtete sich das Gespräch auf ein immer wieder bemühtes, erinnerungspolitisch umkämpftes Feld zwischen Polen und Deutschland – das Zentrum gegen Vertreibungen. Hier blieben die Fronten zwischen Ujazdowski und Thierse verhärtet. Ujazdowski sah die Schuld am deutsch-polnischen Zerwürfnis bei der neuen Bundesregierung, die statt des geplanten europäischen Netzwerkes eine andere Lösung präferiere, die das Konzept von Erika Steinbach, der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, integriere. Ihre Sicht der Dinge sei jedoch eine Umlenkung historischer Verantwortlichkeiten. Thierse relativierte dagegen die Bedeutung Steinbachs. Er hielt an dem „sichtbaren Zeichen“ fest, wie es im Koalitionsvertrag formuliert wurde, welches ein Ende der Verdrängung von Vertreibungen einleiten solle. Die neue Stätte gegen Vertreibungen sei eine Einladung für Nachbarn daran mitzuwirken. Sich über Geschichte streiten können, das eben sei Demokratie, betonte Thierse. Mit dieser Einladung aber, so Ujazdowski, würden die Deutschen von den Polen verlangen, dem deutschen Nationalprojekt, einen europäischen Stempel aufzudrücken. Dem könne sich Polen nur verweigern.

Wie sich die Zäsur von 1989 in allen drei Ländern auf das Geschichtsverständnis auswirkte, wurde in einer zweiten Diskussion verhandelt. Diesmal stellten sich Geschichtswissenschaftler der Frage, wie pluralistisch Geschichte sein kann oder ob es nationale Basiserzählungen geben solle. Der polnische Historiker KAROL MODZELEWSKI betonte, dass in Polen vor 1989 eine uniformierte Erinnerungskultur vorgeschrieben war, die eine „Herrschaft über die Seelen“ („rząd dusz“) anstrebte. Nach 1989 müsse sich die Zivilgesellschaft einer solchen Einheitlichkeit verweigern, denn die Vorstellung, dass es einen Staat, eine Nation und eine Geschichte gäbe, sei verkehrt. Wojciech ROSZKOWSKI hielt dagegen, dass es jedoch eine historische Wahrheit geben müsse, die vom Staat kontrolliert wird, um beispielsweise das Aufsteigen absurder Thesen im Geschichtsunterricht zu verhindern. Kann sich jedoch Europa für ein Basisnarrativ entscheiden, fragte Edgar Wolfrum. Er betonte, dass die Gesellschaft nicht „homogen“ sei, so dass auch eine Nation „multiple Identitäten“ habe. Im europäischen Kontext, so Wolfrum weiter, brach die Zäsur 1989 den westeuropäischen Konsens auf, der besagte, dass der Nationalsozialismus „das Schlimmste“ gewesen sei. Nun gäbe es mit den ehemaligen Ostblockstaaten auch andere Narrative, die sich vorrangig auf die Verbrechen des Kommunismus beziehen. So entstehe innerhalb der EU eine erinnerungspolitische Konkurrenz. Die Forderung den einen Totalitarismus dem anderen gleich zu setzen, begegnet man in Deutschland klassischerweise mit der Angst vor Relativierung des Nationalsozialismus.

Für Frankreich stellte CATHERINE GOUSSEFF fest, dass in den 1990er-Jahren eine politische Auseinandersetzung mit den ‚dunklen‘ Kapiteln der Geschichte Frankreichs möglich gewesen sei. Gousseff erwähnte hier die bereits zitierte Rede Chiracs und die verabschiedeten „lois mémorielles“, unter anderem gegen die Leugnung des Holocaust 1990. Heute verschiebe sich die Auseinandersetzung in Frankreich allmählich auf den Algerienkrieg und die Geschichte der Kolonisation. Allein, zur Geschichtspolitik gehören nicht nur die Gesetzgebung und die Rhetorik öffentlich wirksamer Politiker, sondern auch die Rechtssprechung, was zum Thema des nächsten Pannels wurde.

Sektion 1: Rechtssprechung und Geschichtspolitik
Nach 1989 stellte sich die Frage, wie man mit kommunistischen Verbrechen umgehen solle. Andrzej FRISZKE erinnerte in diesem Kontext an die Debatten um die Lustrationsgesetze in Polen, die in politische Krisen mündeten. Dieser Kampf um die Deutungshoheit der jüngsten Geschichte Polens verstärkte sich unter der letzten Regierung. Dabei wurden intellektuelle Debatten über die Vergangenheit zu politischen Instrumenten degradiert und im politischen Machtkampf genutzt, um Gegner auszuschalten. Sein Fazit lautete: Was in den letzten zwei Jahren in Polen passiert ist, sei gefährlich, denn die Politik habe sich der Geschichte bemächtigt. Auch NORBERT FREI plädierte für ein staatsbürgerliches Geschichtsverständnis, das die Geschichte vom Staat in die Gesellschaft zurückverlagern würde. Zur Frage der Rechtssprechung kam PIETER LAGROU und stellte die vier „lois mémorielles“ in Frankreich vor. Anhand des Gesetzes gegen die Leugnung des Genozids an den Armeniern im Ersten Weltkrieg machte Lagrou deutlich, dass es sich hierbei um den Einzug transnationaler Geschichtsbilder in nationale Politik handele. Die Frage bleibe, welche Rolle transnationalen Opfergruppen, zum Beispiel durch Wiedergutmachungsforderungen, dabei zukomme und wie mit diesen umgegangen wird. Er forderte die Hinterfragung einer statischen Opferkategorie, die generationell vererbbar sei. Mit diesem Beitrag leitete Lagrou zum Thema Opferkonkurrenz des nächsten Panels über.

Sektion 2: Geschichtspolitik und „Konkurrenz der Opfer“
Der Historiker WŁODZIMIERZ BORODZIEJ konstatierte in seinem Impulsreferat zu Beginn der Sitzung eine „paneuropäische Privilegierung der Opfer“, die die Heldennarrative verdränge. Dies führt Borodziej auf verschiedene Faktoren zurück. Zum einen gehe es nicht mehr wie im Kalten Krieg um den Kampf für eine bessere Zukunft, vielmehr sei der Blick nun auf die Vergangenheit gerichtet. Die Gewalt sei nicht mehr als Mittel zum Zweck zu rechtfertigen, wie noch im Kalten Krieg, so dass nun die Opfertherapie als ein postmodernes Element attraktiv sei. Zum anderen sind Bilder der Vergangenheit für Bevölkerungsgruppen, mögen sie sich politisch, religiös, ethnisch oder national definieren, immer identitätsstiftend und daher anziehend. Der Anspruch auf den Opferstatus gehe jedoch immer auf Kosten der vorangegangenen Opfer. Daraus resultiere die linksliberale westeuropäische Befürchtung, Kolyma könnte Auschwitz verdrängen, wie Borodzej es zuspitzte. Dabei sei die Rolle der Historiker marginal, da Opfergruppen sich selbst zu solchen ernennen.

Die Historiker FRANÇOIS HARTOG und MOSHE ZUCKERMANN richteten ihren Blick nach Südafrika und Israel. Besonders Zuckermann betonte, dass Israel eine sehr heterogene Gesellschaft sei. Die verschiedensten Gruppen hätten jeweils ihr „Erinnerungskapital“ und verschiedene Narrative, die je nach Bedarf instrumentalisiert werden. Da Auschwitz in diesem Panel bereits als Topos der Opferkonkurrenz bemüht wurde, unterstrich Zuckermann, dass die Frage nach der Singularität des Holocausts in dem Fall sekundär sei, da das Problem vielmehr in der Instrumentalisierung der Singularität des Holocaust gegen andere Opfer liegen würde.

Sektion 3: Zivilgesellschaftliche „Gegenerinnerung“
Das dritte Pannel widmete sich der ‚Gegenerinnerung‘, also einer nicht vom Staat oder offiziellen Akteuren, sondern von der Zivilgesellschaft getragenen Erinnerungskultur. Immer stärker formiere eine Fülle von Initiativen, die aus der Zivilgesellschaft komme, das Geschichtsbild, so Étienne François. Geschichtsdeutungen brächen zusammen, wenn sie gesellschaftlich nicht mehr haltbar seien. Beispielsweise gingen der hier mehrmals erwähnten Rede Jacques Chiracs 1995 gesellschaftliche Debatten voraus, die die bestehenden Deutungen der Rolle Frankreichs bei der Deportation von Juden angefochten hätten. Zunehmend könne man im festlichen Charakter der Erinnerungskultur auf lokaler Ebene eine Hinwendung „von der Last der Vergangenheit zur Lust an der Vergangenheit“ konstatieren. Dem widersprach der polnische Historiker PAWEŁ MACHCEWICZ. In Polen würde Geschichte weiterhin stark von den offiziellen Stellen bestimmt und instrumentalisiert, um politische Gegner zu desavouieren. Die Übermacht staatlicher Institutionen über gesellschaftliche Initiativen führe zu einem Mangel an ‚Gegenerinnerung‘. Polen sei das Land mit den wenigsten bürgergesellschaftlichen Organisationen in der EU, fügte Robert Traba hinzu. Die angebliche Pluralisierung auf lokaler Ebene, wie sie Étienne François für Frankreich konstatiert, sei in Polen lediglich quantitativ, da sich die regionalen Narrative letztlich dem nationalen Erinnerungskanon anpassten. Auch der Ethnologe CHRIS HANN stand dem Begriff der Zivilgesellschaft skeptisch gegenüber. Er betonte, dass sich auch auf lokaler Ebene nationalistische Tendenzen durchsetzen können, die die lokale Erinnerung von Minderheiten streitig machen würden. In solchen Fällen müsse der Staat eingreifen. Als Fazit unterstrich Étienne François, dass sich auch in Polen die Zivilgesellschaft habe durchsetzen können, indem diejenigen, die eine nationale Geschichtspolitik betrieben, vornehmlich die Regierung unter Jarosław Kaczyński, letztlich abgewählt wurde.

Sektion 4: Geschichtspolitik und Museen: Geschichtsmuseen im Wandel zwischen Kulturpolitik und Globalisierung
Das vierte Panel ging der Frage der Wechselwirkung zwischen Geschichtspolitik und Museen im „europäisierten“ und „globalisierten“ Kontext nach. Besonders hervorgehoben wurde dabei die Pluralität von Geschichts- und Erinnerungsvorstellungen, die von Historikern und Museumspädagogen geprägt werde und in einem gesunden Wettbewerb zum wichtigsten Akteur der Vergangenheitspolitik – dem Staat – stehe. JOACHIM BAUR bot in seinem einführenden Vortrag eine dreigegliederte Museumstypologie an (Markt, Forum, Bühne) und hob damit die Rolle der Museen in der Konstruktion von Nationalstaaten hervor, denn sie fungierten als symbolische Repräsentanten der Nation. Dabei verwies er zugleich auf die Probleme, die aus jüngsten Veränderungen wie Migration und Schaffung neuer Kommunikationsnetzwerke resultierten. Die heutigen Museen, so Baur, tendierten zu einer „Europäisierung“ und „Universalisierung“. Diesem Punkt schloss sich auch CAMILLE MAZÉ an, die auf die Veränderung von Nationalmuseen und auf die Hinwendung zu „Europäischen Museen“ aufmerksam machte, die in den drei westlichen Ländern Deutschland, Belgien und Frankreich seit den 1980er-Jahren zu verzeichnen sei. Diese Museen, die auf keine politische Willensbildung zurückzuführen und nur ihrer Namensgebung nach „europäisch“ seien, seien, trotz des Versuchs Begriffe wie „Nation“, „Volk“ („peuple“), „Kultur“ und „Zivilisation“ umzudefinieren, doch gefangen zwischen „Europäisierung“, einem universellen Anspruch, Fortbestehen des Nationalen und neuer Hinwendung zur Lokalgeschichte. Mazé fragte, ob die Pluralität der Sichtweisen auf Geschichte und Erinnerung, die in den „europäischen Museen“ generiert werden, nicht auf die Unmöglichkeit und die Gefahr hinwiesen, eine einheitliche Geschichte Europas zu schreiben und so neue Beziehungsstrukturen zwischen Politik, Wissenschaft und Museen sichtbar machen würden. DARIUSZ GAWIN widmete sich der Situation der Geschichtsmuseen in Polen. Er verteidigte das Konzept des Museums für den Warschauer Aufstand, im Vergleich schienen ihm andere Konzepte wie das des Museums der Polnischen Geschichte oder des Jüdischen Museums eher problematisch. Er plädierte dafür, sich von Geschichtsstereotypen, von der Martyrologie und von dem Opferdiskurs zu distanzieren, denn diese würden eine „gute Geschichte“ behindern. Dafür seien jedoch identitätsstiftende Museen notwendig, die Produkt und Garant einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft seien.

Zum Abschluss der Konferenz zog Étienne François ein Resümee, in dem er das Gelingen eines trans- und supranationalen Austauschs lobte, trotz der Schwierigkeiten, die solche Debatten implizierten. Besonders umstritten sei die gesellschaftliche Rolle und Verantwortung des Historikers in der Schaffung von historischen Erinnerungsdiskursen gewesen. François plädierte für eine kritische Haltung gegenüber den Begrifflichkeiten, mit denen Historiker operierten. Er erinnerte daran, dass die Akteure der Geschichtspolitik vielfältig seien und dass Europa gerade wegen seiner kulturellen Vielfalt nicht zum Gegenstand einer einheitlichen Geschichtspolitik werden dürfe. Schließlich hat auch der Historiker nie das Monopol, die Vergangenheit zu interpretieren. Seine Rolle müsse neu definiert werden, in Bildungseinrichtungen und in der Ausformung von Zivilgesellschaften – es sei eine „politische“ Aufgabe, im besten Sinne des Wortes.

Der Konferenz gelang es, einen Austausch verschiedener Perspektiven zu fördern. Die Vielfalt war zunächst national, denn die Teilnehmer vertraten Polen, Deutschland und Frankreich, aber auch Belgien und Israel, und dies brach eine fest verankerte, binationale Diskussionsstruktur und eine Dichotomie im europäischen Kontext auf. Des Weiteren bereicherten die Perspektiven verschiedene Disziplinen, die generationelle Vielfalt sowie der berufliche Hintergrund der Teilnehmer die Diskussion: Neben Wissenschaftlern kamen Politiker, Diplomaten, Museumsschaffende und Journalisten zu Wort, was Gelegenheit bot, das gegenseitige Rollenverständnis in der Geschichtspolitik zu überdenken, und bisweilen zu hitzigen Debatten führte. Leider wurde zu selten über den Europäischen Rand geschaut und die Diskussion nicht systematisch in einen globalen Kontext eingebettet. Standen die schaffenden Akteure der Geschichtspolitik im Mittelpunkt der Debatten, so war deren Publikum hier kaum vertreten – die Leser, Schüler, Studenten, Bürger und Museumsbesucher.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Hans Ottomeyer
Einführung: Robert Traba

Podiumsdiskussion: Geschichtspolitik – Perspektive der Politik
Es diskutieren: Kazimierz Ujazdowski, Wolfgang Thierse, Bernard de Monteferrand – moderiert von Gesine Schwan

Grußworte: Ursula Lehmkuhl, Karol Modzelewski, Stefan Troebst

Podiumsdiskussion: Geschichtspolitik – Perspektive der Geschichtswissenschaft
Es diskutieren: Edgar Wolfrum, Wojciech Roszkowski, Catherine Gousseff – es moderiert: Jakob Vogel

1.Sektion: Rechtssprechung und Geschichtspolitik
Impulsreferat zum Thema: Andrzej Friszke
Kommentar: Norbert Frei und Pieter Lagrou
Moderation: Stefan Troebst

2.Sektion: Geschichtspolitik der „Konkurrenz der Opfer“
Impulsreferat zum Thema: Włodzimierz Borodziej
Kommentar: François Hartog und Moshe Zuckermann
Moderation: Gertrud Pickhan

3.Sektion: Zivilgesellschaftliche „Gegenerinnerung“
Impulsreferat zum Thema: Étienne François
Kommentar: Paweł Machcewicz und Chris Hann
Moderation: Robert Traba

4.Sektion: Geschichtspolitik und Musealisierung – Neue Museen im Spannungsfeld zwischen Wandel der politischen Kultur und Internationalisierung/Globalisierung
Impulsreferat zum Thema: Joachim Baur
Kommentar: Camille Mazé und Dariusz Gawin
Moderation: Thomas Serrier

Resümee des Symposiums: Étienne François

Kontakt

Kornelia Konczal
Zentrum für Historische Forschung Berlin
der Polnischen Akademie der Wissenschaften
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Fax (030) 486 285 56
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