Migration und Arbeitsmarkt vom 17. bis zum 20. Jahrhundert

Migration und Arbeitsmarkt vom 17. bis zum 20. Jahrhundert

Organisatoren
Dittmar Dahlmann, Bonn; Margrit Schulte Beerbühl, Düsseldorf; Jochen Oltmer, Osnabrück; Gesellschaft für Historische Migrationsforschung (GHM); Abt. für Osteuropäische Geschichte, Universität Bonn
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.09.2007 - 24.09.2007
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Von
Britta Lenz, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Universität Bonn

Die vom 20. bis 22. September 2007 in Bonn veranstaltete Tagung „Migration und Arbeitsmarkt vom 17. bis zum 20. Jahrhundert“ der Gesellschaft für Historische Migrationsforschung (GHM) und der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn stellte den ersten Teil einer Tagungsreihe dar, die sich in der Langzeitperspektive dem Verhältnis von Migration und Arbeitsmarkt zuwendet. Im Rahmen der von DITTMAR DAHLMANN (Bonn) und MARGRIT SCHULTE BEERBÜHL (Düsseldorf) organisierten Tagungen soll der Frage nachgegangen werden, welchen Einfluss Migrationen auf Arbeitsmärkte nahmen und wie umgekehrt die Entwicklungen der Arbeitsmärkte Migrationsbewegungen beeinflussten. Ungelenkte, staatlich und nichtstaatlich gelenkte Arbeitswanderungen sowie Zwangsmigrationen finden dabei in ihren arbeitsmarktbezogenen Ursachen und Wirkungen Berücksichtigung. Die erste Tagung widmete sich schwerpunktmäßig verschiedenen Aspekten von Migration und Arbeitsmarkt im Zeitraum vor dem Ersten Weltkrieg mit vereinzelten Ausdehnungen bis in die Zwischenkriegszeit.

Nach der Eröffnung durch den Vorsitzenden der GHM und Tagungsausrichter Dittmar Dahlmann führte JOCHEN OLTMER (Osnabrück) in den Forschungsstand zur Wechselwirkung von Migration und Arbeitsmarkt ein. Der Vortrag umriss in erster Linie die bestehenden Forschungsdesiderata. Oltmer identifizierte fünf Themenbereiche, die er von der Forschung bisher vernachlässigt sieht. Für die Frühe Neuzeit konstatierte er eine starke Konzentration auf die Erforschung von Arbeitswanderungssystemen, wie die Gesellenwanderungen. Die Überformung dieser Systeme und die Frage, warum und wie sie an Bedeutung verloren, wurde dagegen seiner Ansicht nach bisher zu wenig beachtet. Er wies in diesem Zusammenhang vor allem auf die Bedeutung der Veränderung von Netzwerkstrukturen durch den Niedergang ständischer Arbeitsbeschränkungen hin, deren Auswirkungen auf das Wanderungsgeschehen zu untersuchen wären. Einen Mangel an Studien zu hochqualifizierten Arbeitsmigrationen im Kontext der Arbeitsmarktentwicklungen, z.B. des akademischen Arbeitsmarktes, hob Oltmer für das 19. und 20. Jahrhundert hervor. Vor allem von Langzeituntersuchungen sowie Unternehmensperspektiven erwartet er sich in diesem Zusammenhang vielversprechende neue Erkenntnisse. Dabei sah er die Notwendigkeit, die Migrationen von hochqualifizierten Arbeitskräften ebenso wie Händlern und Kaufleuten in den deutschen Raum stärker zu berücksichtigen, statt wie bisher vor allem die deutschen Wanderungsbewegungen ins Ausland zu untersuchen. Insgesamt plädierte Oltmer für eine stärker international vergleichende Forschungsperspektive. Ein weiteres vernachlässigtes Forschungsfeld sah er darüber hinaus in der Untersuchung der Reichweite von migrationspolitischen Maßnahmen vor Ort. Die Frage, wie die Umsetzung und Kontrolle von Vorschriften lokal erfolgte und differierte erscheint bedeutend, um reale Bedingungen und Entwicklungen auszumachen, die sich in amtlichen Statistiken oft nicht niederschlugen. Zuletzt verwies er auf das Forschungsdesiderat im Bereich der internationalen Migrationsbeziehungen. Die Beschränkung und Kontrolle des Zugangs von Ausländern zu nationalen Arbeitsmärkten wurde spätestens in der Zwischenkriegszeit Bestandteil internationaler Beziehungen. Hier mangelt es bis heute an einer systematischen Erforschung, die auch Interessenverbände und supranationale Initiativen berücksichtigt.

In der anschließenden Diskussion fand vor allem die Notwendigkeit, die Potenziale interdisziplinärer und internationaler Forschungskooperationen zu nutzen, besondere Beachtung. Gerade die stärkere Einbeziehung osteuropäischer Kooperationspartner erschien in diesem Zusammenhang für die Zukunft wünschenswert.

Das folgende Tagungsprogramm gliederte sich in Sektionen, die zum einen chronologisch angelegt waren und zum anderen die Reichweite der Migrationsbewegungen sowie freie, gelenkte und erzwungene Wanderungsbewegungen unterschieden.

In der ersten Sektion standen frühneuzeitliche Migrationen vor allem im regionalen Raum im Vordergrund. CHRISTOF JEGGLE (Bamberg) problematisierte in seinem Beitrag über Leinenproduktion und regionale Migration nach Münster 1580-1635 zunächst insgesamt die Auseinandersetzungen mit „Arbeitsmärkten“ in der vorindustriellen Zeit. Am Beispiel der mehrheitlich aus einem Umkreis von 40 Kilometer zuwandernden Leineweber stellte er dar, wie Migration zum Entstehen neuer Arbeitsmärkte beitragen konnte.

Die Entwicklung des Bergbaus in Europa war, wie GEORG STOEGER (Salzburg) verdeutlichte, nicht erst im 19. Jahrhundert, sondern bereits in der Frühen Neuzeit notwendigerweise an Mobilität und Migration geknüpft. Es entstanden Migrationsnetzwerke, die die verschiedenen europäischen Bergbauregionen miteinander verknüpften. Eine genauere Erforschung dieser Netzwerke steht allerdings bisher aus. Insbesondere qualifizierte Bergleute waren traditionell sehr mobil. So gehörte die Freizügigkeit der Bergleute, also das Recht des freien Ortswechsels, zu den ihnen gewährten Privilegien, die allerdings bis zum 18. Jahrhundert sukzessive zurückgenommen wurden. Das ökonomische Interesse der Obrigkeiten am Entstehen neuer Bergwerke vor allem zur Erschließung von Edelmetallvorkommen führte zu einer gezielten An- bzw. Abwerbung von Bergleuten, bei denen auch private Unternehmen als Vermittler auftraten. Durch einen Vergleich zweier Mikrostudien plant Stoeger, Migrationsnetzwerke sowie individuelle Wanderungsbewegungen und -motive auch der weniger qualifizierten Arbeitskräfte zwischen 1500 und 1800 zu analysieren.

ELFI HAVER (Dortmund/München) zeigte am Beispiel Salzburgs, wie Fachkräfteverschiebungen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert auch konfessionellen Gesichtspunkten folgten. Zumindest auf der regionalen Ebene gingen Wanderungen „laboris causa“ ihren Beobachtungen entsprechend auch mit dem Versuch der Herstellung konfessioneller Homogenität einher, wie sie am Beispiel der Ausweisungspolitik aus Salzburg demonstrierte.

Die zweite Sektion befasste sich vornehmlich mit transnationalen Migrationen und Fernwanderungen. REINHOLD REITH (Salzburg) nahm wie bereits zuvor Christof Jeggle zunächst auf die Frage nach Arbeitsmärkten in der Frühen Neuzeit Bezug. Er betonte die Herausbildung berufsspezifischer Arbeitsmärkte seit dem Mittelalter und verdeutlichte dies am Beispiel des Augsburger Goldschmiedehandwerks im 18. Jahrhundert. Die umfangreiche Überlieferung der Herkunftsorte von Gesellen in diesem Berufszweig ermöglichte Einblicke und offenbarte Wanderungsnetze, die sich über ganz Europa erstreckten. Augsburger Goldschmiedewerkstätten waren auf Zuwanderung von außen angewiesen, um die ihnen erteilten Großaufträge durchführbar zu machen und die in diesem Zusammenhang stehende schwankende Arbeitskraftnachfrage auszugleichen. Auch hier bildeten sich überregionale berufsspezifische Netzwerke heraus. Anstellungen erfolgten so oft auf der Basis von Empfehlungen. Reith fand Hinweise auf gezielte Anbahnungen von Arbeitsverhältnissen, wobei es sich scheinbar häufig um qualifizierte Arbeitsmigration handelte.

Ganz anders stellte sich die Situation im von HORST RÖßLER (Bremen) präsentierten Fall der Migration von Deutschen, insbesondere aus dem Elbe-Weser-Raum, in die Londoner Zuckerindustrie (1750-1900) dar. Weder handelte es sich hier um qualifizierte Arbeitswanderungen noch wurden gezielte Anbahnungen von Arbeitsverhältnissen durch die Arbeitgeber in die Wege geleitet. Rößler widmete sich mit diesem Beispiel vor allem dem Zusammenhang zwischen Arbeitsmarkt, sozialen Netzwerken und Wanderungsbewegungen. Er verdeutlichte, dass neben der Attraktivität des Arbeitsmarktes vor allem die Existenz einer deutschen Auswandererkolonie mit der damit verbundenen sozialen Einbindung sowie beispielsweise entsprechenden Heiratsaussichten die Wanderungsbereitschaft und Wanderungsrichtung mitbestimmte. Soziale Netzwerke zwischen Wanderungsziel und Heimat führten zu Kettenwanderungen. Arbeitsstellen wurden vor allem über persönliche Kontakte vermittelt, was eine hohe berufliche Spezialisierung und eine überdurchschnittliche Präsenz der deutschen Zuwanderer aus dieser Region in der Londoner Zuckerindustrie nach sich zog. Diese sozialen Netzwerke stellten für die deutschen Zuwanderer eine wichtige Voraussetzung für den Zugang zum Arbeitsmarkt dar.

Die Auswirkungen der Arbeitsmarktsituation auf die Migrationsbereitschaft und die Migrationsziele standen im Mittelpunkt des Vortrags von DREW KEELING (Zürich). Er fragte nach der Bedeutung des Arbeitsmarktes im Kontext der transatlantischen Migrationskosten zwischen 1700 und 1914. Seiner Ansicht nach stellte vor allem der Arbeitsmarkt und nicht die Transportmöglichkeiten einen limitierenden Faktor der Überseewanderung im 18. Jahrhundert dar. Das Einsetzen der Massenmigrationen des 19. Jahrhunderts muss seiner Ansicht nach weniger vor dem Hintergrund verminderter Transportkosten als vielmehr auch im Kontext verbesserter wirtschaftlicher Chancen auf den Arbeitsmärkten in Nordamerika gesehen werden. Keeling plädierte dafür, bei der Betrachtung und Beurteilung der Überseeauswanderung neben den unmittelbaren Transportkosten vor allem auch die ökonomischen Risiken als potenzielle Migrationskosten zu berücksichtigen.

Der letzte Vortrag der Sektion von ROBERT LEE (Liverpool) entfernte sich etwas vom Schwerpunktthema Migration und Arbeitsmarkt und nahm eher die soziale Integration von Migranten in den Blick. Er präsentierte in seinem Vortrag über Geschäftschancen und Identität deutscher Händler in Liverpool im 19. Jahrhundert einen Teilaspekt eines auf einer umfassenden statistischen Datenanalyse basierenden Forschungsprojektes. Er zeigte die hohe Integrationsbereitschaft der Deutschen in Liverpool auf, die sich unter anderem in Eheschließungen mit britischen Frauen, der Übernahme der Staatsbürgerschaft und der Namensgebung der Kinder äußerte. Erstaunlich schien dagegen ihr geringes soziales und wohltätiges Engagement in den entscheidenden Vereinen und Clubs der Stadt, das ihnen auch geschäftlichen Nutzen hätte bringen können.

Die dritte Sektion wandte sich den unfreien und gelenkten Migrationen zwischen dem 18. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu. Den Anfang machte THOMAS SOKOLL (Hagen), der sich mit Armenrecht, Binnenwanderung und Arbeitsmarkt in der englischen Industrialisierung befasste. Er ging dabei der Frage nach, inwiefern das englische Armenrecht die arbeitsmarktbedingten Binnenwanderungen in der Industrialisierungsphase behinderte oder gar steuerte. Dem englischen Heimatrecht entsprechend waren die Gemeinden nur für die Armenfürsorge der eigenen Einwohner zuständig. Die Unterstützung fremder, zugezogener Armer war verboten. Im Armutsfall war eine Abschiebung in die Heimatgemeinde vorgesehen. Sokoll zeigte jedoch, dass diese Vorschriften in der Realität im Interesse der Betroffenen, der Gastgemeinden und der Heimatgemeinden häufig unterlaufen wurden. Statt einer Abschiebung einigten sich die Gemeinden in vielen Fällen auf eine Unterstützung der „auswärtigen Armen“ in der Gastgemeinde durch ihre Heimatgemeinde. Diese Art der Handhabung des Armenrechtes behinderte nach Sokoll die Industrialisierung und die damit verbundene Umschichtung der Arbeiter nicht, sondern konnte sogar positiv wirken. In den Gastgemeinden entstand damit ein Reservoir an zugewanderten Arbeitskräften für den lokalen Arbeitsmarkt.

Der Vortrag von JÜRGEN NAGEL (Hagen) über Aspekte der Entwicklung kolonialer Arbeitsmärkte in Niederländisch-Indien zwischen Migration und Unfreiheit (1880-1940) führte für die meisten Tagungsteilnehmer in ein wenig bekanntes Themenfeld. Die wirtschaftlichen Eingriffe der Kolonialmacht in Niederländisch-Indien zogen eine Parallelität verschiedener Ökonomien nach sich, in denen verschiedenste alte und neue Formen freier und unfreier Arbeit nebeneinander existierten. Der erhöhte Arbeitskräftebedarf beispielsweise in Sumatra wurde dabei durch die Rekrutierung von Kontraktarbeitern, vor allem Chinesen und Javanern, über spezielle Agenturen ausgeglichen. Diese Kontrakte bestanden aus einer Verschuldung des Arbeitsnehmers, der die Unterkunft und Lebenshaltung gegenüber seinem Arbeitgeber in einem bestimmten Zeitraum abzuarbeiten hatte. Viele blieben jedoch auch nach Ablauf des Kontrakts. Dieses System wird zumeist in erster Linie als Unterdrückungssystem charakterisiert, Nagel betonte dagegen aber auch die gewisse Rechtssicherheit des Systems.

Der Vortrag von OLIVER SCHULZ (Düsseldorf) fragte nach der Migrationsgeschichte hinter einem Dokumentenfund, der einer Liste von Personen im Fürstentum Moldau zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Schutz der französischen Krone bescheinigte. Bei diesen als „Leipziger“, „Krakauer“ oder „Frankfurter“ geführten Personen handelte es sich offenbar um jüdische Zuwanderer, deren Ansiedlung aus wirtschaftlichen Gründen durch die Landesherren gefördert worden war.

Die vierte und letzte Sektion nahm sich Beispielen freier, gelenkter und zwangsweiser Migrationen am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts an.

GAEL CHEPTOU (Paris) verdeutlichte die Auswirkungen temporärer Arbeitsmigration deutscher Gastwirtsgehilfen nach Frankreich, bzw. besonders nach Paris, auf die Arbeitsmarkt- und die Ausbildungssituation im französischen Hotelgewerbe vor dem Ersten Weltkrieg. In den französischen Hotels, die nicht über ein eigenes Ausbildungssystem verfügten, waren die qualifizierten deutschen Gastwirtsgehilfen sehr gefragt, zumal sie bereit waren, für relativ geringe Entlohnung bei Übernahme von Kost und Logis zu arbeiten. In größeren Hotels wurden zum Teil bis zu drei Viertel deutsche Arbeitskräfte beschäftigt. Diese erhofften sich von einer temporären Anstellung in einem französischen Hotel Aufstiegschancen für ihren späteren beruflichen Weg in Deutschland. In den Augen der französischen Kollegen stellten die Deutschen unterwürfige Lohndrücker dar, und es kam zu ethnischen Spaltungen unter den Arbeitskräften. Der Kampf gegen illegal vermittelnde Kellnervereine erhielt dabei teilweise einen antideutschen Charakter. Cheptou ging in diesem Zusammenhang auch auf die Reaktion der Gewerkschaften auf die Internationalisierung des Arbeitsmarktes in diesem Gewerbe ein.

Der Vortrag von KRISTIN KLANK (Aachen) nahm dagegen stärker die Strategien von Arbeitgeberseite hinsichtlich des grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes in den Blick und untersuchte die Belegschaftspolitik im Aachener Bergbaurevier vor dem Hintergrund der spezifischen Grenzlage. Anhand dreier ausgewählter Situationsbeispiele (1905, 1920 und 1954) erläuterte sie die Konkurrenz um Arbeitskräfte sowie mögliche Versuche interregionaler Zusammenarbeit der benachbarten Bergbaureviere vor allem in Aachen und Limburg (Niederlande). Dabei wurde deutlich, dass sich das Aachener Bergbaurevier zunächst durch eine vergleichsweise geringe Ausländerbeschäftigung auszeichnete und auch gezielte Anwerbungen vor dem Zweiten Weltkrieg nur in begrenztem Umfang stattfanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten die Bergbaureviere vor dem Hintergrund eines allgemeinen Arbeitermangels dagegen in sehr starke Konkurrenz um Arbeitskräfte.

Die letzten Tagungsbeiträge setzten sich mit Zwangsmigrationen im Kontext des Ersten Weltkrieges auseinander. CHRISTIAN WESTERHOFF (Osnabrück) beschäftigte sich mit der Rekrutierung und Beschäftigung von Arbeitskräften aus Russland, in diesem Falle Russisch-Polen, im Übergang von der Friedens- zur Kriegswirtschaft. Während die Arbeiter zuvor durch gesetzliche Vorschriften zur vorübergehenden Rückkehr in die Heimat gezwungen worden waren, wurde nach Kriegsbeginn diese so genannte Karenzzeit ausgesetzt. Arbeit und Aufenthalt nahmen zunehmend einen Zwangscharakter an. Mit einer anderen zwangsweise eingesetzten Gruppe ausländischer Arbeiter, den belgischen Arbeitskräften, befasste sich der Beitrag von JENS THIEL (Berlin). Dabei wurden Zusammenhänge zwischen dem Arbeitseinsatz beider Gruppen deutlich. Belgische Arbeitskräfte wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts als mögliche Alternative für die aus nationalpolitischen Bedenken abgelehnten polnischen Arbeiter aus dem Russischen Reich in Erwägung gezogen. Allerdings erwiesen sich die Überlegungen in dieser Hinsicht als nicht realisierbar, da die Lohnforderungen der belgischen Arbeiter zu hoch waren. Mit Kriegsbeginn ergaben sich schließlich neue Möglichkeiten des Zugriffs auf diese Arbeitskräfte. Der Einsatz von Zwangsmaßnahmen wurde in dem Zusammenhang zwar diskutiert, zunächst setzte man jedoch auf die Rekrutierung von Freiwilligen. Als dies nicht die gewünschte Wirkung zeigte, wurde ab 1916 zunehmend Zwang ausgeübt. Diese Entwicklung gipfelte in massenhaften Deportationen aus Belgien ins Deutsche Reich, einem wie sich herausstellte „arbeitskräftepolitischen Fiasko“. Die von Westerhoff und Thiel herangezogenen Beispiele bildeten den Erfahrungshintergrund für den Zwangsarbeitseinsatz im Zweiten Weltkrieg, der einen strukturell ähnlichen Ablauf aufwies.

Mit der Diskussion der beiden Vorträge endete das Tagungsprogramm.

Die auf der Tagung präsentierten Einzelbeispiele verdeutlichten die thematische Breite und Vielfältigkeit in der Erforschung der Wechselwirkungen von Migration und Arbeitsmarkt. Die Vorträge wiesen zeitlich, geographisch und inhaltlich eine große Spannweite auf und gaben damit einen Ausblick auf die weiteren Möglichkeiten, die sich gerade für komparative Ansätze in diesem Themenfeld noch eröffnen. Die Beziehung von Migration und Arbeitsmarkt stand allerdings nicht in allen Vorträgen gleichermaßen im Mittelpunkt, was eine übergreifende Diskussion der Wechselwirkungen bisweilen etwas erschwerte.

Die eingangs von Jochen Oltmer aufgezeigten Forschungsdesiderata veranschaulichten den hohen Bedarf an weiteren Forschungen im Spannungsfeld von Migration und Arbeitsmarkt. Vereinzelt setzten die präsentierten Beiträge bereits in diesen vernachlässigten Themenfeldern an. Das Programm der Tagung im April 2008 lässt hier einige weitere Vorstöße im Bereich der internationalen Migrationsbeziehungen und der Vergleichsperspektiven erwarten.

Die zweite Tagung, die sich dem Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg zuwendet, findet vom 3.-5. April 2008 statt. Eine Veröffentlichung der Beiträge beider Tagungen ist geplant.

Konferenzübersicht:

Jochen Oltmer (Osnabrück): Staat, Migration und Arbeitsmarkt vom 17. Jahrhundert bis zum frühen 21. Jahrhundert

Sektion I. Freie Migration im regionalen Raum
Christof Jeggle (Bamberg): Leinenproduktion und regionale Migration nach Münster/Westfalen von 1580 bis 1635
Georg Stöger (Salzburg): Die Migration europäischer Bergleute während der Frühen Neuzeit (1500-1800)
Elfi Haver (Dortmund/München): Saisonale Arbeitsmigration und Konfession im Alpenraum: das Beispiel Salzburg und sein Umfeld (16.-18. Jahrhundert).

Sektion II. Transnationale Migration und ferne Arbeitsmärkte
Reinhold Reith (Salzburg): Migration und berufsbezogene Arbeitsmärkte am Beispiel der Augsburger Goldschmiedegesellen im 18. Jahrhundert
Horst Rößler (Bremen): Arbeitsmarkt, Soziale Netzwerke und Little Germany – Deutsche in der Londoner Zuckerindustrie (ca. 1750-1900)
Drew Keeling (Zürich): Transatlantische Migrationskosten und Arbeitsmärkte in Deutschland, den Britischen Inseln und Nordamerika, 1700–1914
Robert Lee (Liverpool): Business Opportunities and Identity: German Merchants in 19th Century Liverpool

Sektion III. Unfreie und gelenkte Migration
Thomas Sokoll (Hagen): Verhandelte Migration: Armenrecht, Binnenwanderung und Arbeitsmarkt in der englischen Industrialisierung, 1750-1850
Jürgen Nagel (Hagen): Aspekte der Entwicklung kolonialer Arbeitsmärkte in Niederländisch-Indien zwischen Migration und Unfreiheit (1880 – 1940)
Oliver Schulz (Düsseldorf): Ein Fall von gelenkter Arbeitsmarktmigration? Die Zuwanderung von Juden in das Fürstentum Moldau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Sektion IV. Das frühe 20. Jahrhundert zwischen freier, gelenkter und zwangsweiser Arbeitsmarktmigration
Gael Cheptou (Paris): Deutschsprachige Gastwirtsgehilfen in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg
Kristin Klank (Aachen): Belegschaftspolitik im Aachener Revier. Die Belegschaftspolitik im Aachener Raum zwischen nationaler Lobbyarbeit und transnationaler Branchenkooperation (1890-1920-1955)
Christian Westerhoff (Osnabrück): Zwangsarbeit im Ersten Weltkrieg? Rekrutierung und Beschäftigung osteuropäischer Arbeitskräfte in Deutschland und in den besetzten Gebieten
Jens Thiel (Berlin): Belgische Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft. Arbeitsmarktpolitische Optionen und Interessen zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik.

Kontakt

Prof. Dr. Dittmar Dahlmann

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0228/737393

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