Europäische Migrationen in historischer Perspektive

Europäische Migrationen in historischer Perspektive

Organisatoren
Institut für Europäische Geschichte Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.08.2007 - 22.08.2007
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Von
Annette Reese, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Eingangs begrüßte Heinz DUCHHARDT (IEG Mainz) die Teilnehmer der Doktorandentagung, die sich in das Schwerpunktthema »Migrationen« des Instituts für Europäische Geschichte im Jahr 2007 einfügte. Irene DINGEL (IEG Mainz) wies in ihrer Einleitung einerseits auf die historische Kontinuität von Wanderungsbewegungen hin, die sie unter phänomenologischen sowie entwicklungsgeschichtlichen Aspekten systematisierte, wobei sie besonders auf die religiös-konfessionelle Prägung von Migrationsbewegungen in der Vormoderne einging. Andererseits betonte sie das aktuell große, öffentliche Interesse an Migration und ihren Folgen für die Gesellschaft.

In der von Jelle van LOTTUM (Amsterdam) moderierten ersten Sektion (Migration in der Frühen Neuzeit) widmete sich Justus NIPPERDEY (München) Bevölkerungstheorie und Bevölkerungspolitik in der Frühen Neuzeit. Während der Bevölkerungsdiskurs der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts umfassend untersucht ist, stellen Bevölkerungstheorie und Bevölkerungspolitik des 17. und frühen 18. Jahrhunderts noch ein Forschungsdesiderat dar. Die frühneuzeitlichen Zeitgenossen standen der Immigration Fremder mit gemischten Gefühlen gegenüber. Zwar wurde die Bevölkerungsvermehrung in der theoretischen Auseinandersetzung wie auch der politischen Praxis zunehmend positiv bewertet. Gleichzeitig betrachtete man die konfessionelle Einheit als eine Voraussetzung für Ruhe und Ordnung im Staat und Fremde als potenzielle Unruhestifter von zweifelhafter Loyalität. Nach 1650 standen verstärkt finanzielle, soziale und wirtschaftliche Kriterien im Mittelpunkt des bevölkerungstheoretischen Diskurses; im Fall des Bevölkerungsmangels trat die Forderung nach konfessioneller Einheit innerhalb eines Territoriums in den Hintergrund – für ein Bevölkerungswachstum akzeptierte man die Aufnahme anderskonfessioneller Fremder. Die weiterhin bestehende Furcht vor Fremden fand ihren Niederschlag in den Policeyordnungen. Während die Bevölkerungstheorie den Nutzen der Zuwanderung hervorhob, wurden dort die Gefahren, die von potenziellen Zuwanderern ausgingen, thematisiert. Die Bewertung von Migranten im 17. und 18. Jahrhundert stand im Spannungsverhältnis von drei Überlegungen: machtpolitischen (schon vor dem 30jährigen Krieg), religions- oder konfessionspolitischen und sicherheitspolitischen.

Die Bedeutung von Herkunft und Religion im Handelsleben des 17. Jahrhunderts am Beispiel der Hamburger Portugalkaufleute untersuchte Jorun POETTERING (Hamburg). Im Rahmen ihres Dissertationsprojekts verglich sie drei Gruppen von in Hamburg im 17. Jahrhundert tätigen Kaufleuten unterschiedlicher Konfession bzw. Religion. Exemplarisch skizzierte Poettering die Umstände des Konfessionswechsels lutherischer Kaufleute in Portugal. Als Quelle dienten vor allem die Verzeichnisse des Inquisitionstribunals in Lissabon aus den Jahren 1641 bis 1671 sowie 1681 bis 1689, in denen die Konversionen verzeichnet sind. Der Konfessionswechsel scheint unter den Hamburger Lutheranern durchaus üblich gewesen zu sein, auch wenn ihr Aufenthalt in den meisten Fällen vorübergehend war und nur in Ausnahmen von einer dauerhaften Niederlassung in Portugal auszugehen ist. Zwar waren Fremde im Portugal des 17. Jahrhunderts nicht zur Konversion verpflichtet, doch mussten z.B. alle ausländischen Jugendlichen beim Inquisitionstribunal an- und abgemeldet werden. Nach Poettering führten die überwiegend katholische Umgebung und vor allem die Mitgliedschaft in konfessionell gebundenen Korporationen zum Konfessionswechsel der Hamburger. Die Familien, in denen die meist recht jungen Söhne der Hamburger Kaufleute lebten, waren überwiegend katholischen Glaubens. Die Konversion führte zur Eingliederung der ehemaligen Protestanten in die katholische portugiesische Gesellschaft, und die Mitgliedschaft in den katholischen Korporationen gewährte geschäftliche Vorteile. Der erneute, informelle Wechsel zum Protestantismus bei der Rückkehr nach Hamburg scheint ebenfalls nicht unüblich gewesen zu sein. Wie Poettering am Beispiel der in Portugal tätigen Hamburger Kaufleute hervorhob, konnte im 17. Jahrhundert nicht nur der Konfessionswechsel Hintergrund und Auslöser für Migration sein, sondern die Migration konnte auch zur Ursache eines Konfessionswechsels werden.

Ebenfalls mit der Konversion protestantischer Migranten beschäftigte sich Ricarda MATHEUS (Rom/Mainz). Thema ihres Dissertationsvorhabens ist der Konfessionswechsel im 17. und 18. Jahrhundert in Rom. Sie betrachtet die Auswirkungen der Migration auf die Konfession der Migranten. Grundlage der Studie bilden die ausführlichen Registerüberlieferungen und Befragungsprotokolle aus den Quellenbeständen des Ospizio dei Convertendi in Rom, die bei Aufnahme der Konvertenden angefertigt wurden. Die konversionswilligen Protestanten stammten unter anderem aus Großbritannien, der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden, vor allem aber aus dem Heiligen Römischen Reich (rund 45 %). Dabei handelte es sich zu einem großen Anteil um Personen aus nicht gemischt konfessionellen Territorien. Bei den Konvertenden handelte es sich vor allem um Handwerker, Kaufleute und Künstler, Angehörige des Militärs und Seeleute sowie zu geringerem Anteil auch um Angehörige des Adels und Studenten – d.h. Tätigkeiten und Stellungen, die eine gewisse Mobilität bedingen konnten. Der Großteil traf die Konversionsentscheidung dann auch nach längerem Aufenthalt in der Fremde, vielfach nach jahrelangen Wanderungen durch ganz Europa. Zur Konversion führten soziale und wirtschaftliche Gründe. Hinzu kamen aber auch eine gewisse Neugier auf die andere Konfession und der Austausch mit Angehörigen anderer Konfessionen. Die sozialen und konfessionellen Strukturen waren schon gelöst; das Verlassen des eigenen gesellschaftlichen und konfessionellen Milieus ist als Voraussetzung für den Konfessionswechsel zu sehen, welcher in der Regel nach rationaler Abwägung der allgemeinen Lebenssituation getroffen wurde.

Die von Gloria SANZ LAFUENTE (Pamplona) moderierte zweite Sektion (Sozioökonomische Aspekte von Migration im 19. und 20. Jahrhundert) eröffnete Kristin KLANK (Aachen) mit ihrem Dissertationsprojekt zu transnationaler Mobilität auf dem Arbeitsmarkt im Aachener Revier. Sie stellte die Ergebnisse ihrer Auswertung der Belegschaftsbücher Aachener Zechen sowie der Jahrbücher der ehemaligen Bergschule in Aachen vor. Durch die Grenzlage des Aachener Kohlebeckens und vor dem Hintergrund einer regen Arbeitsmigration zwischen den Niederlanden und Belgien einerseits und dem Aachener Revier andererseits, setzte sich die Arbeiterschaft hier anders zusammen als in den deutlich besser untersuchten Betrieben im Ruhrgebiet. Im Aachener Revier waren mehr Personen aus den Niederlanden und nach 1900 aus Bosnien und Kroatien beschäftigt. Bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges findet man in Aachen deutlich weniger polnische Arbeiter. Um die Jahrhundertwende bewirkte der Ausbau des Südlimburger Kohleabbaus das Ende der bis dahin verbreiteten Arbeitsmigration aus den Niederlanden. In Folge war man zu Anwerbeaktionen auf dem Balkan (Bosnien und Kroatien), aber auch in Ostgalizien und in Italien übergegangen. Angeworben wurden dabei ausschließlich Arbeiter aus landwirtschaftlich geprägten Gegenden, also in Bezug auf den Bergbau unqualifizierte Arbeiter. Gleichzeitig wurden qualifizierte Arbeiter aus Bergbauregionen in Deutschland angestellt. Seit 1918 musste man im Aachener Revier kriegsbedingt überwiegend ungelernte Arbeiter aus Polen einstellen, deren Daueransiedlung zwar ursprünglich nicht geplant war, die allerdings gegen Ende des Krieges häufig ihre Familien nachkommen ließen – Zeichen für eine dauerhafte Niederlassung.

Stefanie STEINBICHLER (Wien) widmete sich den historischen, sozioökonomischen und politischen Dimensionen des Barcelona Prozesses. These ihrer Studie ist, dass zunehmender Migrationsdruck aus Afrika bei gleichzeitigem Bevölkerungsrückgang und weitgehend pessimistischen Prognosen für die europäische Bevölkerung wesentliche Motive für die Initiierung der Euromediterranen Partnerschaft im Jahr 1995 darstellten. Weiterhin spielten europäische Sicherheitsbedenken ebenso wie ökonomische Überlegungen eine Rolle. In Reaktion auf diese Ausgangslage sahen nach Steinbichler die Staaten der EU einen antizipierten Handlungsbedarf. Im Rahmen ihrer Auswertung wesentlicher Bevölkerungs- und Wirtschaftsdaten geht sie auf die Bevölkerungsprognosen für Europa bis 2050 ein. Parallel zu einer abnehmenden und überalternden europäischen Bevölkerung wächst der Migrationsdruck in den südlichen Mittelmeeranrainerstaaten durch eine große Zahl überwiegend junger Menschen, die zunehmend auch aus Regionen südlich der Sahara stammen. Auch dient Afrika asiatischen Migranten als Transitkontinent auf dem Weg nach Europa. Auf die Schwierigkeiten im Umgang mit den statistischen Angaben wurde hingewiesen; gleichwohl deuten die Daten auf eine steigende Migrationsbewegung gen Europa hin.

Die Vorträge in Sektion III, die Andreas Wiedemann (Prag) moderierte, beschäftigten sich mit Migration und Integration osteuropäischer Personengruppen. Die Reaktion der jüdischen Minderheiten in Deutschland und Großbritannien auf die ostjüdische Zuwanderung in den Jahren 1871 bis 1923 untersucht Matthias THORNS (Berlin). Seit den 1880er Jahren richtete sich die Massenauswanderung der osteuropäischen Juden zum überwiegenden Teil nach Amerika – nur ca. 8 % der Migranten blieben in Europa. Deutschland und Großbritannien waren einerseits Transitländer auf dem Weg nach Amerika, gleichzeitig aber auch Ziel für Juden aus Osteuropa. Diese Zuwanderung wurde in den jüdischen Gemeinden der beiden Staaten ambivalent beurteilt. Einerseits wurden Versuche unternommen die Zuwanderer möglichst schnell zu integrieren – andererseits wurden sie aktiv bei ihrer Weiterreise in die USA unterstützt. Die Ursache für die deutlich bessere Integration der osteuropäischen Juden in die jüdischen Gemeinden Großbritanniens ist nach Thorns in den unterschiedlichen Gemeindestrukturen zu sehen. So waren die jüdischen Gemeinden in Deutschland stark politisiert; bei den gemeindeinternen Auseinandersetzungen zwischen traditionellem Establishment und Zionisten gerieten die ostjüdischen Zuwanderer häufig zwischen die Fronten. Maßnahmen, die sich gegen die Immigranten aus Osteuropa richteten, dienten vielfach vor allem dem Machterhalt der einheimischen Gruppen. In Großbritannien, wo die Gemeindestrukturen nicht zu vergleichbaren innerjüdischen Auseinandersetzungen führten, konnten die Immigranten mit Unterstützung und finanzieller Hilfe der einheimischen Eliten die Federation of Synagogues gründen. Damit waren die strukturellen Vorraussetzungen für die Eingliederung der ostjüdischen Zuwanderer in die britische, jüdische Gesellschaft deutlich besser. Sowohl in Großbritannien als auch im Deutschen Reich wurden die osteuropäischen Juden in der Zeit des Ersten Weltkrieges zunehmend Opfer antisemitischer Ressentiments. Für die einheimischen jüdischen Gemeinden ergab sich aus dieser Situation das Dilemma, einerseits die Loyalität zur Kriegsnation, andererseits die zu den osteuropäischen Glaubensgenossen deutlich machen zu wollen.

Das Referat von Barbara ALLAMONDA (Münster) zu umgesiedelten Litauenpolen im kommunistischen Nachkriegspolen entfiel.

Die Verbindungen und teilweise familiären Kontakte zwischen russlanddeutschen Aussiedlern und polnischen Repatrianten aus Kasachstan skizzierte Anna SOSNA (Osnabrück). Der Kontakt zwischen polnisch- und deutschstämmigen Einwohnern Kasachstans nahm seinen Anfang in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Wolhynien. Die dort ansässige polnische Bevölkerung und hinzukommende deutsche Kolonisten sahen sich von der einheimischen ukrainischen und russischen Bevölkerung ausgegrenzt. Die antideutschen und antipolnischen Feindseligkeiten hatten ihre Ursache einerseits in ökonomischer Konkurrenz, vor allem aber auch in der zaristischen Polenpolitik und in den zunehmend konfliktreichen russisch-deutschen Beziehungen. Die Diskriminierungen führten zu einer Annäherung der beiden ethnischen Gruppen schon in Wolhynien, die sich nach der Zwangsmigration nach Kasachstan verstärkte. Sosna beschäftigt sich mit dem unterschiedlichen Umgang des deutschen und polnischen Staates mit den kasachischen Migranten in den 1990er Jahren. Deutschland blickte zu dieser Zeit schon auf eine jahrzehntelange Tradition als Zuwanderungsland zurück, während Polen sich erst seit der politischen Wende zu einem Einwanderungsland entwickelte. Die Entscheidung, welcher der beiden ethnischen Gruppen der Einzelne angehörte, kann bei zahlreichen engen Verbindungen und vor dem Hintergrund gemischt-ethnischer Familien schwierig sein, wie in der Diskussion festgestellt wurde. Geklärt wurde/wird die Herkunft emigrationswilliger Personen anhand der Eintragung im russischen Pass, die dann auch darüber entscheidet, ob das Ziel einer Emigration Polen oder Deutschland ist. Wie Sosna aber betonte, bleiben die Verbindungen innerhalb gemischt ethnische Familien auch erhalten, wenn die Migration diese zunächst räumlich trennt.

In Sektion IV zum Thema Gender und Migration – Moderation: Andreas KUNZ, IEG Mainz – stellte Iwona DADEJ (Berlin/IEG Mainz) die Bedeutung der polnischen Bildungsmigratinnen des 19. Jahrhunderts für Emanzipation und Modernisierung in Polen vor. Neben der politisch und wirtschaftlich motivierten kennt die polnische Migrationsgeschichte auch die Bildungsmigration. Während die Studienaufenthalte polnischer Männer im Ausland in der heimischen Forschung eine gewisse Beachtung finden, handelt es sich – wie Dadej betonte – bei der Untersuchung weiblicher Bildungsmigration aus Polen im 19. Jahrhundert um ein Forschungsdesiderat. Da Frauen der Zugang zu einem Hochschulstudium in Polen bis in die 1890er Jahre weitgehend verwehrt blieb, war das Studium im Ausland in der Regel die einzige Alternative zu einem Studium im Untergrund, das in Polen wohl möglich war, aber nicht die Aussicht auf einen anerkannten Abschluss bot. So widmeten sich im 19. Jahrhundert zahlreiche polnische Studentinnen an westeuropäischen Universitäten einem medizinischen, naturwissenschaftlichen, philosophischen oder wirtschaftswissenschaftlichen Studium. Neben wissenschaftlichen Erkenntnissen gewannen diese Bildungsmigrantinnen auch Einblicke in die Entwicklungen und Prozesse der modernen Gesellschaften Westeuropas und wirkten bei ihrer Rückkehr in die Heimat in der Regel als engagierte Akteurinnen der Frauenbewegung. Wie Dadej exemplarisch zeigte, mussten die polnischen Wissenschaftlerinnen allerdings lange auf die Rückkehr nach Polen verzichten, wollten sie den erlernten Beruf auch ausüben. In Polen, so wurde besonders auch in der folgenden Diskussion deutlich, blieb ihnen der Zugang zu wissenschaftlichen Kreisen und die Ausübung des Berufes noch lange Zeit verwehrt. Die Diskussion ging auch auf die informellen Netzwerke und (wissenschaftlichen) Frauenzirkel der polnischen Bildungsmigrantinnen ein, die eine ähnliche, wenn auch nicht in dem selben Maße organisatorisch verfestigte Form aufwiesen wie die Bruderschaften ihrer männlicher Kommilitonen.

Das Referat von Kariin Catharina SUNDSBACK (Florenz) zur Migration norwegischer Frauen nach Amsterdam in der Frühen Neuzeit ist entfallen.

Die von Johannes-Dieter STEINERT (Wolverhampton) moderierte Sektion V befasste sich mit Migrationspolitik und Mobilitätskontrolle im 19. und 20. Jahrhundert. Christiane REINECKE (Berlin/IEG Mainz) vergleicht in ihrer Dissertation den Umgang Großbritanniens und des Deutschen Reiches (in erster Linie Preußens) mit der grenzüberschreitenden Migration im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Sie untersucht die zunehmend restriktive Einwanderungspolitik beider Staaten vor dem Hintergrund der jeweiligen staatlich-administrativen Tradition und fragt, inwieweit die Veränderungen Rückschlüsse auf eine grundsätzlich veränderte Herrschaftspraxis zulassen. Beide Staaten waren im Untersuchungszeitraum mit saisonaler Arbeitsmigration, mit Zuwanderung und Transmigrationen konfrontiert. Während Intervention und Bürokratie das Vorgehen der preußischen Verwaltung bestimmten, war das Vorgehen Großbritanniens bis zum Aliens Act im Jahr 1905 eher liberal. Seit dieser Zeit wurde die Zuwanderung bestimmter sozialer Gruppen jedoch in stärkerem Maße reguliert. Wie Reinecke ausführte, sollten die neuen restriktiven Vorgaben vor allem mittellose Migranten – als potentielle Belastung der Sozialsysteme – abschrecken. Kontrolliert wurde bei der Einreise nach Großbritannien; dabei war die Grenzüberwachung aber bei weitem nicht lückenlos und erlaubte zahlreichen Personen die unbemerkte Immigration. Zudem räumten die Appeal Boards den Einwanderungswilligen die Möglichkeit ein, gegen ihre Abweisung Widerspruch einzulegen. Wie in der Diskussion verdeutlicht wurde, war ca. ein Drittel der Klagen erfolgreich. Reinecke wies darauf hin, dass die Haltung der britischen Bevölkerung zum restriktiveren Umgang mit den Migranten keineswegs einheitlich gewesen sei und sich auch in Ablehnung oder Zustimmung zu den Entscheidungen der Appeal Boards äußerte.

Tina HEIZMANN (Konstanz) widmete sich der Haltung gegenüber Flüchtlingen als einer speziellen Kategorie des Immigranten in der Zeit zwischen 1880 und 1930. Die Flüchtlingsbewegungen im ausgehenden 19. Jahrhundert besaßen eine Dimension, die bis dahin unbekannt war. Sie stellte die damit konfrontierten Staaten in einer Zeit verstärkter territorialer und sozialer Grenzziehung vor neue Herausforderungen. Das Verständnis vom »Flüchtling« veränderte sich, die Auseinandersetzung mit ihm stand in einem besonderen Spannungsverhältnis – einerseits versuchte man Flüchtlinge auf Distanz, jenseits der eigenen Grenzen zu halten, andererseits verpflichtete Humanität zu einem Mindestmaß an Unterstützung, Aufnahme und Gewährung politischer Rechte. Erst in den 1920er Jahren begann man Flüchtlingsbewegungen als ein internationales Problem wahrzunehmen, das in der Regel auch einer internationalen Lösung bedurfte. Anhand der genaueren Betrachtung dreier Flüchtlingsbewegungen nach Deutschland ging Heizmann auf verschiedene Aspekte des Umgangs mit dem Problem des »modernen« Flüchtlings ein. Zunächst betrachtete sie das Verhalten gegenüber jüdischen Migranten aus Osteuropa. Weiterhin stellte sie den durchaus ambivalenten Umgang mit Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach dem Ersten Weltkrieg detailliert dar, für deren Unterbringung Heimkehrerlager eingerichtet wurden und denen bei der Suche nach Wohnung und Arbeitsplatz geholfen werden sollte. Als drittes Beispiel präsentierte Heizmann das Verhältnis zu den russischen Flüchtlingen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und der Revolution, die mit dem Verlust ihrer Staatsangehörigkeit zu Staatenlosen wurden.

Zum Abschluss der Sektion skizzierte Marcel BERLINGHOFF (Heidelberg) Hintergrund und Wirkung der Anwerbestopps ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland, Frankreich und der Schweiz in den Jahren 1970 bis 1974. Berlinghoff ging sowohl auf Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede ein, die den Umgang dieser Staaten mit »Gastarbeitern« bestimmten. Zwar brachte die tagesaktuelle Presse die Anwerbestopps für ausländische Arbeitnehmer in den frühen 1970er Jahren direkt mit der Öl- bzw. Energiekrise in Verbindung, aber die Entscheidungen, die wie Berlinghoff betonte, in allen von der Arbeitsmigration betroffenen europäischen Ländern getroffen wurden, waren keineswegs allein durch die internen, ökonomischen Interessen der Aufnahmeländer bestimmt, sondern sind vielmehr vor dem Hintergrund einer komplexen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ausgangssituation zu sehen. Bei den Diskussionen im Vorfeld spielten dementsprechend neben binnenwirtschaftlichen Fragen unter anderem auch außenpolitische Aspekte und sicherheitspolitische Motive eine Rolle. In der Schweiz, in Deutschland und in Frankreich standen die Anwerbestopps im Kontext befürchteter oder schon erlebter fremdenfeindlicher Übergriffe und Initiativen gegen die »Überfremdung« der Gesellschaft. Gemeinsam war allen drei Untersuchungsländern auch die Aufrechnung des Kosten- und Nutzenverhältnis, die zu der Bilanz führte, die Grenzen der Aufnahmefähigkeit sei erreicht. Auch wurde in den Untersuchungsländern vorgebracht, die innere Sicherheit sei durch den weiteren Zuzug von Gastarbeitern gefährdet. Wie Berlinghoff betonte, sind in den Anwerbestopps auch staatliche Bestrebungen zu erkennen, die nationale Souveränität in Fragen der Immigration nicht aus der Hand zu geben. Hinsichtlich der Unterschiede stellte er heraus, dass ein Einfluss der allgemeinen wirtschaftlichen Rezession zumindest auf die Schweiz kaum anzunehmen sei, da die Schweiz noch vor der Wirtschaftskrise 1973 die Anwerbestopps beschlossen hatte. Die prekäre soziale Situation der Immigranten unter anderem mit schlechten Unterbringungsverhältnissen wurde als Argument gegen einen weiteren Zuzug in Deutschland und Frankreich, nicht aber in der Schweiz vorgebracht; während die Schweiz und Deutschland anders als Frankreich keinen Unterschied hinsichtlich der Herkunft der Gastarbeiter machten.

Abschließend wies Heinz DUCHHARDT noch einmal auf die Fülle der Fragestellungen und Methoden hin, die Grundlage der vorgestellten Projekte seien, und hob die Vielzahl komparatistischer und transnationaler Arbeiten hervor, die sich in die Analyse bi- und multilateraler Transferprozesse in Europa – einem Schwerpunkt des IEG – einbinden ließen.

Die vielfältigen Beiträge der Tagung spiegelten in ihrer Multiperspektivität die historischen und inhaltlichen Dimensionen der Migrationsforschung. Neben Arbeits- und Bildungsmigration wurde auf Zusammenhänge von Konfession/Religion und Migration ebenso eingegangen wie auf den theoretischen und praktischen Umgang mit Migranten – durchaus mit teilweise aktuellen Bezügen.

Konferenzübersicht:

Heinz Duchhardt (IEG Mainz)
Begrüßung
Irene Dingel (IEG Mainz)
Einführung

Sektion I: Migrationen in der Frühen Neuzeit
Moderation: Jelle van Lottum (Amsterdam)
Justus Nipperdey (München)
Bevölkerungstheorie und Bevölkerungspolitik in Deutschland in der Frühen Neuzeit
Jorun Poettering (Hamburg)
Hamburger Portugalkaufleute. Die Bedeutung von Herkunft und Religion im Handelsleben des 17. Jahrhunderts
Ricarda Matheus (Rom/Mainz)
Konversion in Rom: Migration – Kommunikation – Reflexion

Sektion II: Sozioökonomische Aspekte von Migrationen im 19. und 20. ahrhundert
Moderation: Gloria Sanz Lafuente (Pamplona)
Kristin Klank (Aachen)
Migration und andere Formen transnationaler Arbeitsmobilität in einem europäischen Steinkohlenrevier (1900–1968)
Stefanie Steinbichler (Wien)
Der Barcelona Prozess. Eine Analyse der Motivation und Funktionalität der Euro-Mediterranen Partnerschaft unter besonderer Berücksichtigung demographie- und migrationsgeschichtlicher Aspekte.

Sektion III: Osteuropa – Migrationen und Integration
Moderation: Andreas Wiedemann (Prag)
Matthias Thorns (Berlin/Hannover)
Die Reaktion der jüdischen Minderheiten in Deutschland und Großbritannien auf ostjüdische Zuwanderung (1871–1923)
Anna Sosna (Osnabrück)
Alte Nachbarschaft über Grenzen hinweg – Russlanddeutsche Aussiedler und polnische Repatrianten aus Kasachstan

Öffentliche Podiumsdiskussion im Landtag Rheinland-Pfalz
»Um des Glaubens willen ...« Religion und Migrationen in Europa

Sektion IV: Gender und Migrationen
Moderation: Andreas Kunz (IEG Mainz)
Iwona Dadej (Berlin / IEG Mainz)
Überall Ausländerin, überall zu Hause. Polnische Migrantinnen in Westeuropa im 19. Jahrhundert

Joachim Berger / Jennifer Willenberg (IEG Mainz)
Vorstellung des Forschungsvorhabens Europäische Geschichte Online (EGO) [www.ieg-ego.de]

Sektion V: Migrationspolitik und Mobilitätskontrolle im 19. und 20. Jahrhundert
Moderation: Johannes-Dieter Steinert (Wolverhampton)
Christiane Reinecke (Berlin/IEG Mainz)
Grenzen der Freizügigkeit. Die Politik der Migrationskontrolle in Großbritannien und Deutschland (1880–1930)
Tina Heizmann (Konstanz)
Das Problem des modernen »Flüchtlings« zwischen Imperien, Nationalstaaten und internationalem Humanitarismus (1880–1930)
Marcel Berlinghoff (Heidelberg)
Europäisierung der Migrationspolitik? Die Anwerbestopps in Deutschland, Frankreich und der Schweiz 1970–1974

Heinz Duchhardt (IEG Mainz)
Schlusswort


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