Alltagsleben biografisch erfassen. Zur Konzeption lebensgeschichtlich orientierter Forschung

Alltagsleben biografisch erfassen. Zur Konzeption lebensgeschichtlich orientierter Forschung

Organisatoren
Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V. (ISGV)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.11.2007 - 01.12.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Hans Joachim Schröder, Hamburg

Der Workshop, der im Hörsaalzentrum der Technischen Universität Dresden stattfand, kann, was das Interesse der 70 bis 80 Beteiligten anging, eher eine Tagung genannt werden. Einmal mehr könnte die starke Resonanz, die das Leitthema fand, dazu veranlassen, von einer Konjunktur der Beschäftigung mit dem Biografischen oder einer Konjunktur der Hinwendung zur subjektiv erfahrenen Geschichte zu sprechen. Vor einigen Monaten stellte beispielsweise der Historiker Volker Ullrich fest (Die Zeit, 4.4.2007), das biografische Genre hätte „immer noch Konjunktur“. Die Quellengattung der Biografie, soweit sie der Lebensbeschreibung berühmter Persönlichkeiten gilt, stand allerdings nur beiläufig auf dem Workshop zur Diskussion. Vielmehr ging es um die Bedeutung von Tagebüchern, Briefen, narrativ-biografischen Interviews und auch Autobiografien, deren Verfasserinnen und Verfasser „aus der Mitte der Bevölkerung“ stammen.

Bevor auf die Inhalte der Vorträge im einzelnen eingegangen wird, soll kurz auf die Ausgangslage hingewiesen werden, die den Workshop veranlasst hat. Seit seiner Gründung im Jahr 1997 hat das ISGV eine ausgedehnte Sammlungs- und Forschungstätigkeit im Land Sachsen entfaltet, was im Detail in der Broschüre „Zehn Jahre Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., Dresden 1997-2007“ nachgelesen werden kann (Dresden: Thelem 2007). Während des Workshops sind die Aktivitäten des Instituts vom Geschäftsführenden Direktor Enno Bünz in einem Begrüßungsvortrag zusammenfassend charakterisiert worden. Einen Schwerpunkt der Institutsarbeit bildet das Lebensgeschichtliche Archiv für Sachsen, ein volkskundliches Forschungsprojekt, das sich auf die Sammlung und Auswertung von Ego-Dokumenten des Raumes Sachsen konzentriert. Derzeit umfasst die Sammlung ca. 45 laufende Meter Material inklusive der Nachlässe volkskundlicher Wissenschaftler in Sachsen, und deckt den Zeitraum zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und heute ab. Seit Dezember 2006 ist man bestrebt, für den weiteren Ausbau des Projektes sowohl hinsichtlich der Archivierung der Quellen als auch hinsichtlich der wissenschaftlichen Auswertung zu einer konzeptionellen Systematisierung zu gelangen. Der Reflexion und Untermauerung dieser Bestrebungen diente der Workshop.

In einem einführenden Vortrag von MANFRED SEIFERT zum Thema „Ego-Dokumente im Spannungsfeld von Forschungsperspektiven und Sammlungspraxis. Lebensgeschichtliche Forschungen am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde“ wurden die Grundlagen, von denen im Dresdener Institut ausgegangen wird, einer vertiefenden, sowohl historisch wie methodenkritisch differenzierenden Betrachtung unterworfen. Dem Aufschwung, den die Biographische Forschung seit Mitte der siebziger Jahre in Deutschland nahm, ging innerhalb der Ethnowissenschaften bereits seit den 1890er-Jahren ein starkes Interesse für die Eigenperspektive der handelnden Subjekte voraus. Einen ganzheitlichen Kulturbegriff zugrunde legend, wertete man die Sprecher/innen, denen man „im Feld“ begegnete, als Repräsentanten jeweiliger Kulturräume und Gesellschaften – ein Ansatz, den man heute als naiv bezeichnen muss. Mit der Kritik des ganzheitlich-idealistischen Kulturbegriffs seit den 1960er-Jahren wurde deutlich, dass die Sammlung subjektiver Einzelstimmen einen multiperspektivischen, äußerst vielfältigen, in seiner Vielfalt nicht unproblematischen Blick auf Regionen, Gruppen oder Teilgesellschaften freigibt. Der biographische Ansatz, so Seifert, steht heute mehr denn je unter Legitimationsdruck.

Bei der Erhebung autobiographischer Aussagen, etwa in Interviews, stößt man vielfach auf ein verändertes Selbstbewusstsein der Informanten, und zwar nicht zuletzt durch die Popularisierung fachwissenschaftlicher Erklärungen. Infolge massenmedialer Vermittlungen entstehen Vermischungen aus angeeignetem Fremdwissen und individuellen Selbstinterpretationen, so dass die Analyse derartiger Ego-Dokumente neue Überlegungen erforderlich macht. Insgesamt lässt sich ein allgemeiner Trend zur Biografisierung von Erfahrung beobachten, wobei die Medien und die Forschung in Konkurrenz zueinander treten.

In einem zweiten Teil seines Vortrags wendete Seifert sich der Beschreibung des aktuellen Profils zu, wie es mit den Beständen im Lebensgeschichtlichen Archiv des ISGV vorliegt. Das Archiv befindet sich im Aufbau, die bisher gesammelten Materialien sind sehr unterschiedlicher Art. Neben Quellen, die bewusst für die Nachwelt hergestellt sind, existieren andere, bei denen die Verfasser sich keine Gedanken über ihren Zeugniswert gemacht haben. Sowohl schriftliche Quellen als auch Interviews werden allmählich verschlagwortet und qualitativ erschlossen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, auf welche Weise sich das Archiv in der Öffentlichkeit präsentieren kann.

Anschließend hielt ALBRECHT LEHMANN einen Vortrag mit dem Thema „Zum Wahrheitsgehalt autobiographischer Quellen“. Wiederum wurde zunächst bestätigt, dass biografische Texte Konjunktur haben. Das Beispiel der Biografie, z. B. Helmut Kohls, macht deutlich, wie Lebensbeschreibungen „ausgerichtet“ werden, indem sie auf Kohärenz und innere Stimmigkeit angelegt sind und fortlaufend für eine Homogenisierung und Harmonisierung der Erfahrungsstoffe gesorgt wird. Das Private bleibt in Memoiren von Politikern weitgehend ausgeklammert. Zu fragen wäre allerdings, ob das, was Politikerbiografien kennzeichnet, für Autobiografien im allgemeinen gilt. Lehmann entwickelte eine ausgesprochen kritische Auffassung vom Wahrheitsgehalt autobiographischer Zeugnisse. Zutreffend ist zweifellos, dass diese Zeugnisse, soweit es sich nicht um Tagebücher und Briefe handelt, retrospektiv von der Gegenwart her erzählt werden. Ob daraus jedoch gefolgert werden kann, die Zeugnisse offenbarten mehr über die Gegenwart des Erzählers als über seine Vergangenheit, sei dahingestellt.

„Erinnerungen“, so Lehmann, „sind datengestützte Erfindungen“; zwischen Erinnerungen und Fiktionen zu unterscheiden sei nahezu unmöglich. Während zwar bewusste Lügen in Lebenszeugnissen eher selten seien, könne durch Weglassen und Verschweigen unangenehmer Erfahrungen ein kalkuliertes, stilisiertes Lebensbild entworfen werden. Dabei unterliegen vor allem vergangene Einstellungen und Wertungen einer gegenwartsorientierten Umdeutung. Handlungsabläufe oder Raumumgebungen erweisen sich demgegenüber eher als umdeutungsresistent. Im Zusammenhang damit betonte Lehmann, welche prägende Bedeutung Atmosphären und Stimmungen für die Erinnerung haben. Diesem Aspekt des Erinnerns ist bisher in der Forschung nicht hinreichend Beachtung geschenkt worden. – In der anschließenden Diskussion wurde die Signifikanz von Geschmackserinnerungen zur Sprache gebracht. Nicht minder wichtig sind Emotionen als Erinnerungsinhalt, wobei allerdings, wie auch bei der Kennzeichnung von Atmosphären, Schwierigkeiten der Verbalisierung wirksam werden. Generell ist festzuhalten, dass in der autobiographischen Rekapitulation das Ungewöhnliche, Nicht-Alltägliche besser erinnert und erzählt werden kann als der unauffällige Alltag.

Die Leiterin des Literaturarchivs der Akademie der Künste in Berlin, SABINE WOLF, sprach zum Thema „Kempowskis Lebensläufe. Probleme der Erschließung einer lebensgeschichtlichen Sammlung als Teil eines literarischen Archivs“. Der Schriftsteller Walter Kempowski (1929-2007), im Jahre 1948 in Rostock aus politischen Gründen verhaftet und acht Jahre lang in Bautzen inhaftiert, vernahm dort eines Tages im Gefängnishof ein seltsames Summen, ein Gewirr zahlloser Stimmen, die von den Eingesperrten stammten, als vergängliches Zeugnis mündlich erzählter Geschichten. Mit dieser Erfahrung entstand der Gedanke, ein Archiv zu gründen, das sozusagen den Namenlosen ihre Stimme zurückgibt, indem die schriftlichen Zeugnisse, die sie hinterlassen, gesammelt werden. Seit Anfang 1980 baute Kempowski ein Archiv auf – das sogenannte Blaue Archiv –, das Tausende von Tagebüchern, Briefen und autobiografischen Aufzeichnungen enthält. Daneben sammelte er in einem zweiten, „Gelben Archiv“ 300.000. Fotos, und in einem dritten, „Grünen Archiv“ vereinte er alle Vorarbeiten zu seinem schriftstellerischen Werk.

Das letztgenannte Archiv ist bisher am besten erschlossen. Kempowskis Zettelkästen sind teilweise chaotisch geführt, enthalten aber auch Aufschlussreiches. Schlagwortfolgen, etwa mit Begriffen wie „Bonn“, „Boote“, „Borchert, Wolfgang“, „Bordeaux“, wurden ständig überprüft und modifiziert. Weniger erschlossen sind das Blaue und Gelbe Archiv. Hier stellt sich vor allem das Problem der Kontextualisierung: Welchen Aussagewert besitzen etwa Tagebücher oder Fotos, über deren Herkunft man nichts weiß? Auch die Berücksichtigung von Persönlichkeitsrechten, die grundsätzlich gewahrt bleiben müssen, kann Probleme bereiten. Zusätzliche Probleme ergeben sich mit der Sicherung der Bestände; bei vielen der Archivalien besteht ein großer Restaurierungsbedarf.

JÖRG FUCHS und CHRISTOPH NAUMANN gewährten in einem Werkstattbericht Einblick in das „Zeitzeugenprojekt Würzburg in der Nachkriegszeit (1945-1954)“. Kurz vor Kriegsende wurde Würzburg durch Bombenangriffe sinnlos zerstört. In audiovisuellen Erhebungen, also durch Interviews und Videoaufnahmen soll die Alltagskultur der Würzburger Nachkriegszeit erschlossen und mit einer gut lesbaren Geschichtsdarstellung der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden. Fuchs und Naumann erläuterten detailliert ihre Vorgehensweise und beschrieben erste Auswertungsschritte. Ohne auf die wahrheitsskeptischen Ausführungen Albrecht Lehmanns Bezug zu nehmen, nannten sie Strategien, die es erlauben, zahlreiche – gewiss nicht alle – Einzelheiten der gesammelten Erinnerungserzählungen zu verifizieren. Durch Hinzuziehung anderer Quellen, etwa mit Hilfe von Stadtplänen oder Adressbüchern, kann die Stichhaltigkeit vieler Aussagen im Detail überprüft werden. Folgerichtig werden neben den Interviews auch Tagebücher, Briefe, Behördendokumente, Lebensmittelkarten usw. gesammelt.

Die Archivierung und Erschließung der audiovisuellen Dokumente erfolgt digital. Dabei werden die Film- und Interviewabschnitte nach Sachkomplexen – etwa Wohnverhältnissen, hygienischen Bedingungen, Festen und Feiern – zerlegt, die Dauer der jeweiligen Abschnitte wird registriert. Die Zeitdauer, das ist zu bedenken, sagt freilich nicht ohne weiteres etwas über die Bedeutung des Erzählten aus. – In der Diskussion wurde anschließend gefragt, ob es vertretbar ist, in den Interviews nur die Nachkriegszeit zu behandeln, ohne die vorangegangenen Erfahrungen der Angriffe und Zerstörungen zu berücksichtigen. Es leuchtet jedoch ein, in den Interviews auf eine detaillierte Thematisierung des Kriegsgeschehens zu verzichten, wenn das Hauptaugenmerk auf das Alltagsleben in der Nachkriegszeit gerichtet ist.

Am zweiten Tag des Workshops berichtete ANGELIKA OTT unter dem Thema „Das Tagebucharchiv in Emmendingen: Von der Gründungsidee zur Fundgrube persönlicher Erfahrungen“ über eine Einrichtung, deren Entstehungsgeschichte und Funktionsweise sich nicht zuletzt im Vergleich mit dem ganz anders gearteten Literaturarchiv der Berliner Akademie der Künste als aufschlussreich erwies. Den Entschluss zur Gründung des Deutschen Tagebucharchivs e.V. (DTA) fasste Frauke v. Troschke, nachdem sie das Archiv in Pieve di Santo Stefano (Toscana) kennengelernt hatte. Mittlerweile sind Tagebücher, Lebenserinnerungen, Briefwechsel und anderes von über 1400 Personen aus dem deutschsprachigen Raum gesammelt worden. Dabei geht es um unveröffentlichte Zeugnisse von Privatpersonen, die als Nichtprominente Interesse im Sinne einer Geschichtsschreibung „von unten“ verdienen.

Neben einem vollzeitbeschäftigten Büroleiter sind es achtzig ehrenamtliche Mitarbeiter/innen, die in regelmäßigem Turnus die Tagebücher lesen und mit Hilfe dreier Erfassungsbögen erschließen. In der Diskussion entstand Verwunderung darüber, dass eine Erschließung mit lediglich 54 Schlagworten vorgenommen wird. Dabei handelt es sich jedoch nur um eine sozusagen grobmaschige Ersterfassung; differenzierte Kenntnisse müssen sich die Nutzer des Archivs selbst beschaffen. Da das Archiv eine umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit leistet und bekannt geworden ist, wird die Masse der Einsendungen inzwischen zu einem Problem. Es fehlt nicht nur an Platz, die Aufbewahrung lässt auch von den Raumtemperaturen her zu wünschen übrig. Diese praktischen Schwierigkeiten sind keineswegs von marginaler Bedeutung, da nur mit einer sinnvollen Unterbringung der Materialien produktive Auswertungsarbeit gewährleistet ist.

Mit Verwahrungsproblemen hat es CLEMENS SCHWENDER nicht zu tun, da er sich zur Magazinierung einer großen Sammlung von Feldpostbriefen von vornherein an ein Museum gewendet hat, und zwar an das Museum für Kommunikation in Berlin. Schwender sprach zum Thema „Formale und inhaltliche Erschließung von Ego-Dokumenten aus dem Zweiten Weltkrieg – Erfahrungen aus der Feldpostsammlung Berlin“. Während des Zweiten Weltkriegs wurden auf deutscher Seite 30-40 Milliarden Briefe geschrieben. Das allermeiste davon ist verloren gegangen, weil es als „fixierte Alltagskommunikation“ sehr oft für wenig aussagekräftig gehalten wird – obwohl es gerade über solche Details umfangreichen Aufschluss gibt, die als „gewöhnlicher Alltag“ in retrospektiven Betrachtungen, da nicht mehr erinnert, keine Erwähnung finden. In dem von Schwender sowie von Katrin Kilian betreuten Archiv sind inzwischen etwa 60.000 Briefe gesammelt worden; neben Einzelbriefen gibt es Konvolute, die bis zu 2000 Briefe umfassen. Meistens sind nur die Briefe der Soldaten erhalten, während Briefe „aus der Heimat“ eher die Ausnahme bleiben.

Die gesammelten Briefkonvolute stammen zu siebzig Prozent von gefallenen Soldaten. Wie der Militärhistoriker Rüdiger Overmanns festgestellt hat, kamen von der Gesamtheit der eingesetzten deutschen Soldaten dreißig Prozent durch den Krieg ums Leben. Die Diskrepanz zwischen den Prozentangaben lässt, so Schwender, gewisse Rückschlüsse hinsichtlich der Motive zu, die die Hinterbliebenen veranlassten, Feldpostbriefe aufzuheben: Die Korrespondenz von Gestorbenen wird offenbar weniger leicht weggeworfen als die Korrespondenz derer, die nach Hause zurückgekehrt sind. – Zu einer inhaltlichen Erschließung der Briefe ist es bisher nur ansatzweise gekommen, da Geldmittel und damit Arbeitskräfte fehlen. Soweit aber eine „formale“, datenbankgestützte Auswertung bereits erfolgt ist, kann man von einem geradezu beeindruckenden Erschließungsstand sprechen. Schwender bemerkte dazu, dass der Mangel einer Festlegung auf weltweit anerkannte digitale Archivierungsstandards ein noch nicht gelöstes Problem bleibt. (Nähere Angaben unter www.feldpost-archiv.de.)

Einen kurzen Einblick in eine zum Abschluss gebrachte Forschungsarbeit, die mit Hilfe themenfokussierter, narrativ-biografischer Interviewgespräche die Bedeutung der Technik für das Leben von Großstädtern untersucht, gewährte HANS JOACHIM SCHRÖDER mit der Vorstellung seines im Sommer 2007 erschienenen Buchs „Technik als biographische Erfahrung 1930-2000. Dokumentation und Analyse lebensgeschichtlicher Interviews“. Dem Autor geht es neben den analytischen Erklärungen vor allem darum, 41 Frauen und 42 Männer in ausführlichen Erzählungen selbst zu Wort kommen zu lassen. Dabei werden diachronisch entwickelte „Technikbiographien“ von vier Frauen und vier Männern in strengem Wechsel kombiniert mit synoptisch geordneten Kapiteln zu einzelnen Schwerpunkten der Technikerfahrung (z.B. „Technik als Gewalterfahrung im Zweiten Weltkrieg“, „Umgang mit medizinischer Technik“). Auf diese Weise wird das Interviewmaterial, von dem für die Buchveröffentlichung zwangsläufig eine Auswahl getroffen werden muss, dem Leser auf breit angelegte Weise zugänglich gemacht.

Im Schlussvortrag des Workshops referierte GÜNTER MÜLLER über „Lebensgeschichtliches Schreiben im Dialog“. Mit der Beschreibung der Zielsetzungen des Vereins „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“, der zugleich an das Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien angebunden ist, wurde das Spektrum der Möglichkeiten, mit biografischen Archivalien umzugehen, um einen interessanten Aspekt erweitert. Ähnlich wie in Emmendingen geht es zum einen um die Sammlung popularer Lebenszeugnisse, darüber hinaus und in erster Linie aber um die Kontaktherstellung und -erhaltung im Austausch mit den Schreibenden, die häufig aus bildungsfernen Schichten stammen. In dem Bemühen, die kommunikativen Bedingungen autobiografischer Selbstrepräsentation zum integralen Bestandteil der Forschungspraxis zu machen, korrespondieren die Intentionen Müllers mit denen Schwenders. Nicht das Endprodukt des Schreibens, das im Archiv abgelegt wird, steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern der Kommunikationsprozess, der sich im und mit dem Schreiben entwickelt.

Durch öffentliche Schreib- und Sammelaufrufe werden ältere Menschen angeregt, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Neben die Absicht, Aufschlüsse für die biografische Forschung zu gewinnen, tritt das bewusste Anliegen, aktive Bildungsarbeit zu leisten. Die Autoren erfahren so eine besondere Wertschätzung, werden zum Schreiben animiert und dabei beraten. Indem sich Gesprächskreise und eine Autorengemeinschaft bilden, erübrigt sich häufig die Frage, welche Person hinter einem jeweiligen Lebenszeugnis steht; das Problem der Kontextualisierung stellt sich nicht. Mit der Beachtung der situativen Gegebenheiten, die sich mit dem Vorgang des Schreibens verbinden, mit dem Eingehen auf Schreibschwierigkeiten, bei deren Überwindung sich die Autor/innen gegenseitig helfen, mit der Möglichkeit, Überarbeitungswünsche zu berücksichtigen, entfaltet sich ein prozesshafter, „lebendiger“ Umgang mit autobiografischen Dokumenten. In den Anregungen und Anleitungen, die den Schreibenden, denen Wissenschaft meistens etwas sehr Fremdes ist, beispielsweise geboten bzw. zur Verfügung gestellt werden, wird unter anderem darauf hingewirkt, dass Erlebnisse und Erfahrungen detailliert geschildert werden, im Unterschied zu Meinungen, auf die es weniger ankommt. Die Erfahrungsrekapitulationen können wiederum ins Schablonenhafte abgleiten, wenn ihnen literarisierende Bestrebungen zugrunde liegen. Insgesamt geht es im Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ um die Schaffung und kontinuierliche Erhaltung von Vertrauensverhältnissen – eine Grundvoraussetzung, die in begrenzterem Maßstab auch für die Erhebung lebensgeschichtlicher Interviews gilt.

Der Workshop, der von der Resonanz her, wie am Anfang gesagt, das Profil einer Tagung hatte, kann gerade dadurch, dass die Anzahl der Vorträge überschaubar blieb, als besonders ertragreich angesehen werden. Im Rahmen von insgesamt acht Vorträgen, jeweils von angeregten Diskussionen begleitet sowie von den Moderatoren Sönke Friedreich und Manfred Seifert umsichtig gelenkt, konnte der Blick auf eine Fülle von Gesichtspunkten und Perspektiven gerichtet werden, ohne dass dieser Blick sich, wie es auf größeren Kongressen oft der Fall ist, in einer Verwirrung stiftenden, disparaten Vielfalt verlor. Die Reflexion von Theorieansätzen und Forschungsmethoden stand in einem ausgewogenen Verhältnis zur Erörterung sehr praktischer Fragen, wie sie sich mit der Archivierung von Individualzeugnissen, daran gebunden mit der Beachtung von Persönlichkeitsrechten, ferner mit der Beschaffung notwendiger Geldmittel oder mit der Organisation wirkungsvoller Öffentlichkeitsarbeit auf naheliegende Weise ergeben. Welche theoretischen und praktischen Schlussfolgerungen das ISGV in Dresden für seine Arbeit nunmehr ziehen kann, muss sich zeigen.

Konferenzübersicht:

Enno Bünz (Dresden): Begrüßung und Einführung

Manfred Seifert (Dresden): Ego-Dokumente im Spannungsfeld von Forschungsperspektiven und Sammlungspraxis. Lebensgeschichtliche Forschungen am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde

Albrecht Lehmann (Hamburg): Zum Wahrheitsgehalt autobiographischer Quellen

Sabine Wolf (Berlin): Kempowskis Lebensläufe. Probleme der Erschließung einer lebensgeschichtlichen Sammlung als Teil eines literarischen Archivs

Jörg Fuchs / Christoph Naumann (Würzburg): Kurzvorstellung Zeitzeugenprojekt Würzburg in der Nachkriegszeit (1945-1954)

Angelika Ott (Freiburg): Das Tagebucharchiv in Emmendingen: Von der Gründungsidee zur Fundgrube persönlicher Erfahrungen

Clemens Schwender (Bremen): Formale und inhaltliche Erschließung von Ego-Dokumenten aus dem Zweiten Weltkrieg – Erfahrungen aus der Feldpostsammlung Berlin

Hans Joachim Schröder (Hamburg): Ergebnisse zum Projekt „Technik als biographische Erfahrung 1930-2000“

Günter Müller (Wien): Lebensgeschichtliches Schreiben im Dialog


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts