Geschichte – Erinnerung – Ästhetik

Geschichte – Erinnerung – Ästhetik

Organisatoren
Kirsten Dickhaut; Stephanie Wodianka; Gießener SFB 434 „Erinnerungskulturen“; anlässlich des 65. Geburtstags von Dietmar Rieger
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.10.2007 - 05.10.2007
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Von
Daniela Meinhardt; Sandra Berger, Institut für Romanistik, Justus-Liebig-Universität Gießen

Vom 3. bis zum 5. Oktober 2007 fand anlässlich des 65. Geburtstags des Romanisten Dietmar Rieger ein Kolloquium des Gießener SFB 434 „Erinnerungskulturen“ unter der Leitung von Kirsten Dickhaut und Stephanie Wodianka statt. Unter Beteiligung namhafter Vertreter der internationalen Romanistik, Germanistik und der Geschichtswissenschaften lenkte die Tagung die Perspektive auf die wechselwirksamen Zusammenhänge von „Geschichte – Erinnerung – Ästhetik“. Damit wurden drei zentrale Aspekte miteinander in Beziehung gesetzt, die die internationalen und interdisziplinären Forschungen und Debatten zu Gedächtnis und Erinnerungskulturen des letzten Jahrzehnts zwar wesentlich geprägt haben, jedoch bisher nur selten systematisch in den Blick genommen wurden. Die Perspektive unterschiedlicher Disziplinen auf mögliche Konfigurationen von Geschichte, Erinnerung und Ästhetik ermöglichte es, in insgesamt 15 Fachvorträgen zu fragen, wie sich die Beziehung zwischen diesen Leitkategorien in den Literatur- und Geschichtswissenschaften qualifizieren lässt, welche interdisziplinären und auch methodischen Implikationen diese Trias jeweils voraussetzt und welche je spezifische Historisierung diese Begriffe für einen Dialog notwendig erscheinen lassen. Die Vorträge haben dabei die hohe Relevanz der Erinnerungskategorie für die Literatur-, Kultur- und Geschichtswissenschaften herausgestellt und die Notwendigkeit einer intensiven Verzahnung von theoretischen und historischen Perspektiven im breiten Feld der Erinnerungskulturen deutlich gemacht, die vor allem durch die in den letzten Jahren weiter präzisierten Begrifflichkeiten des Forschungsgebiets möglich sind.

Den Auftakt des Festkolloquiums bildete das Grußwort des Präsidenten der Justus-Liebig-Universität STEFAN HORMUTH. Er hob die herausragenden Leistungen des Gießener Sonderforschungsbereichs „Erinnerungskulturen“ und seines langjährigen Leitungsteams hervor, dem Dietmar Rieger von Beginn an angehört, und betonte die zukunftsweisende Bedeutung der Nachwuchsförderung, die auch durch die im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder geleistete Gründung des GCSC (Graduate Center for the Study of Culture) vorbildliche Rahmenbedingungen in Gießen vorfindet. Der Festvortrag des Sprechers des SFB „Erinnerungskulturen“ JÜRGEN REULECKE beschäftigte sich unter den Leitkategorien der Generationalität und Generativität mit einer historischen Verortung der Generation jener, die den Zweiten Weltkrieg als Kleinkinder miterlebten und in ihrer Jugend durch das Aufwachsen in einer ,vaterlosen Gesellschaft’ geprägt wurden. Ein Schwerpunkt lag auf der Betrachtung des ‚Erinnerungsortes 1968’, dessen westdeutsche Spezifika, so Reulecke, auch aus dem generativen Weitertransport einer bereits im Kaiserreich beginnenden Vater-Sohn-Problematik und einer nach 1945 vorherrschenden Vatersehnsucht resultierten.

In der konzeptuellen Einführung zur Tagung beleuchteten die Tagungsorganisatorinnen KIRSTEN DICKHAUT und STEPHANIE WODIANKA zunächst das Paradigma Geschichte als Stellvertreter für Fragen nach der Relevanz von Ereignissen und Strukturen und erläuterten die Bedeutung der „histoire événementielle“ und der „histoire des mentalités et de l’imaginaire social“ (i.S. der Annales-Schule) für eine Kulturwissenschaft, die sich als interdisziplinär und historisch verhandelte begreift. Erst im Verbund erweisen sich die Kategorien „Geschichte – Erinnerung – Ästhetik“ als konzeptfähig für eine zukunftsorientierte kulturwissenschaftliche Methodik, die eine historische Fundierung der Gegenstände als besonders notwendig erachtet und die im Dialog mit mentalitäts-, struktur- und ereignisgeschichtlichen Forschungen ihre historisch geleiteten Antworten auf erinnerungskulturelle Fragen findet.

Aus der Perspektive des Ästhetikbegriffs wurde daran anschließend die zentrale Position der Erinnerung betont, die auf die für Ästhetik und Geschichte geltende Abhängigkeit von menschlicher Wahrnehmung und Darstellungsweisen verweist. Formen der Wahrnehmung und Darstellung prägen – ihrerseits historischem Wandel unterworfen – Geschichtsbilder und Formen historischen Erinnerns; ästhetische Artefakte können aber auch in die Geschichte eingreifen oder selbst zum erinnerungswürdigen Ereignis werden, sie sind dann auch Zeichen eines epochenspezifischen Systems von Vermittlungen.

In den Fachvorträgen des ersten Kolloquiumstages stand zunächst die Tradierung und Inszenierung historischer Ereignisse und Personen im Vordergrund sowie die Frage nach der Bedeutung von Selektions- und Zirkulationsverfahren für die Darstellung von kollektivem Gedächtnis und kulturell gebundenen Erinnerungs- und auch Vergessens- bzw. Verdrängungsverfahren im Vordergrund. In diesem Kontext thematisierte FRANK-RUTGER HAUSMANN (Freiburg) in seinem Vortrag „Deutsche Romanisten erinnern sich an das ‚Dritte Reich’ – eine besondere Form der Memoria“ ein bislang bereits von Hausmann intensiv erforschtes, aber dennoch weiterhin unzulänglich beleuchtetes Kapitel der eigenen Fachgeschichte. Anhand der Lebensgeschichten und Selbstbeschreibungen sowohl von Romanisten, die Parteimitglieder der NSDAP waren, als auch von solchen, die während des Nationalsozialismus verfolgt wurden, zeigte er auf, welche Auswirkungen das NS-Regime auf die Romanistik hatte und vor welchen unbewältigten Aufgaben kritischer Selbstreflexion die Romanistik nach wie vor steht. In diesem Sinn machte der Beitrag deutlich, wie Prozesse der (Nicht-)Verarbeitung und der Verdrängung in solchen Selbstbeschreibungen zunächst dazu geführt haben, dass die vermeintliche Vergangenheitsbewältigung der deutschen Romanistik überwiegend zu einer ‚Kunst des Vergessens und nicht des Erinnerns’ wurde. Hausmann plädierte auch in der Diskussion nachdrücklich für eine romanistische Erinnerungskultur, die zum selbstverständlichen Bestandteil der Romanistik und ihrer Curricula werden sollte.

ULRICH MÖLK (Göttingen) behandelte in seinem Beitrag „Evokationen des Mittelalters im französischen Fin de siècle (Erzählung, Lyrik, Theater)“ jene Intertexte des Mittelalters in der französischen Literatur zwischen 1871 und 1900, die außerhalb eines antiquarisch-wissenschaftlichen, volkstümlichen oder national-politischen Interesses liegen. Sie können persönlich-religiös motiviert sein (Verlaines Sonett auf ein moyen âge énorme et délicat) oder, zum Beispiel bei Flaubert (Saint Julien l’Hospitalier) oder Maeterlinck (Pelléas et Mélisande), darin begründet sein, dass die mittelalterliche Raumzeit für die Inszenierung einer dunklen Schicksalsmacht poetologisch besonders geeignet erscheint. Eine dritte Spielart stellt die ästhetische Begegnung – das erstemal in der französischen Romanliteratur – des Protagonisten mit dem Mittelalter dar (Huysmans, À Rebours u.a.). Alle ,Evokationen’ verbindet einerseits die thematische Abwendung von einer als desolat erfahrenen Gegenwart, andererseits die Formulierung eines neuen künstlerischen Stils. In diesem Sinn zeigt sich das kulturelle Gedächtnis wieder einmal als intertextuell gestaltetes.

In seinem Vortrag „Guillaume de Machaut et la prise d’Alexandrie: de l’événement historique au lieu de mémoire“ stellte BERNARD RIBÉMONT (Orléans) in einer Analyse der Verschronik La Prise d’Alexandrie Guillaume de Machauts die epistemologische Frage nach dem Zusammenhang von Schrift und Erinnerung und erprobte das Konzept des lieu de mémoire im Kontext des Spätmittelalters. Neben mnemonischen Methoden, die in der Tradition der Rhetorica ad Herennium entwickelt worden sind (Yates, Carruthers), kann auch der Terminus des lieu de mémoire mitsamt den ihm von Pierre Nora u.a. attribuierten Funktionen auf die écriture des Dichters und Chronisten Machauts angewendet werden. In seinem Text, der poetische, allegorische, historische und epische Elemente in sich vereint, wird, so Ribémont, eine kollektiv anschließbare, ‚individuelle’ Erinnerung konstruiert, die sich als Träger einer Ideologie und Vorgehensweise erweist und sich mit der auf die Zukunft gerichteten Erinnerung des Dichters selbst verbindet.

FRITZ NIES (Düsseldorf) untersuchte in seinem Beitrag „Literarische Landschaftspflege von Staats wegen. Streifzug durch Frankreich mit Blick nach Osten“ verschiedenste Formen der Literaturvermittlung und -propagierung als Instrumente der Erinnerungskultur Frankreichs und Deutschlands. Dabei wurde anhand des interkulturellen Vergleichs herausgestellt, dass jenseits des Rheins eine weitaus offensivere Literaturpolitik betrieben wird als im föderalistischen Deutschland, es jedoch auch in Frankreich aufgrund von Bildungsreformen und einer sich wandelnden Alltagskultur zu einem zunehmenden Bedeutungsverlust eines im kulturellen Gedächtnis verankerten literarischen Kanons kommt, der wiederum das erinnerungskulturelle Konzept ausweitet und in seiner Verbindlichkeit hinterfragt.

Der zweite Tagungstag wurde durch den Vortrag „Kultivierte Scheusale – französische Besatzer in frühneuzeitlichen Erinnerungskulturen“ von HORST CARL (Gießen) eröffnet. Der Beitrag zeigte eindrücklich und facettenreich die Ambivalenz der frühneuzeitlichen Erinnerungskulturen um die französischen Okkupationen Deutschlands im 17. und 18. Jahrhundert auf. Vor allem die strategischen Verfahren, durch die die Besatzer Land und Erinnerungskultur gleichermaßen ‚okkupierten‘, wurden in einer praxeologischen Darstellung als eine die Ambivalenzen der Okkupationszeit glättende Perspektive offengelegt und rekonstruiert. So kam es einerseits zur kriegsbedingten Bestätigung der innerhalb der Kriegspropaganda verbreiteten Feindbilder, doch ermöglichte die Praxis der Einquartierung zugleich eine Naherfahrung mit den Besatzern, die eine individualisierte und positive Wahrnehmung der Franzosen erlaubte. Die moralisierende Perspektive oder auch der gestreute Verdacht der Kollaboration galten dabei als probate Mittel, die Erinnerungskultur im eigenen Sinne strategisch zu perspektivieren.

GABRIELE VICKERMANN-RIBÉMONT (Orléans) behandelte in ihrem Beitrag „Zwischen Fakten und Fiktion – Performative Erinnerungsarbeit der mémoires judiciaires des 18. Jahrhunderts“ eine gattungs- und epochenspezifische Art der memoria. Neben der Performativität als Handlungsdimension kennzeichnet den mémoire judiciaire eine Verwandtschaft mit dem literarischen Diskurs im engeren Sinne, die sich mit Hilfe einer anderen Performativitätskonzeption, jener Judith Butlers, als ‚versteckte Zitatförmigkeit’ beschreiben lässt. Insbesondere die stark typisierten Figurendarstellungen der narrativen Passagen gehorchen dem Prinzip der ‚versteckten Zitatförmigkeit’ sozialer Rollenkompetenz, das ein Scharnier zwischen literarischem und juridischem Diskurs bildet, auch wenn es von der ‚offenen Zitatförmigkeit’ der rein juristischen Argumentation verdeckt wird.

STEPHANIE WODIANKA (Gießen) zeigte in ihrem Beitrag „Matière de Bretagne in Italien: zum Verhältnis zwischen Mythos und Geschichte“ zunächst die Aneignungsstrategien der spätmittelalterlichen Erinnerungskulturen Italiens auf, die die mangelnde historische Anschließbarkeit der Matière de Bretagne und ihre daraus resultierende erinnerungskulturelle Fremdheit zu überwinden suchten. Der zweite Teil des Vortrags verdeutlichte vor diesem Hintergrund, inwiefern diese Fremdheit in der Moderne, etwa bei den italienischen Autoren Italo Calvino und Antonio Tabucchi, geradezu zum Impuls ihrer literarischen Mythopoiesis wird: Die erinnerungskulturelle Sperrigkeit und das umstrittene Verhältnis zwischen historischer Faktizität und mythisierender Imagination wird vom Artusmythos repräsentiert und ist für italienische Erinnerungskulturen zu einem Mythem geworden, das dessen Aktualisierung im Sinne geschichtlicher Anschlussfähigkeit ermöglicht.

Der Vortrag von HENNING KRAUSS (Augsburg) eröffnete den zweiten thematisch orientierten Block der Tagung, in dem sich der Fokus auf die vielfältigen Beziehungen von Geschichte und kollektiver Erinnerung in der Literatur richtete. Krauß erörterte in seinem Vortrag „Erinnerung als Warnung – Französisch-deutsche Liebesromane vor dem 1. Weltkrieg“ die historische Relevanz der romanesken Darstellungen französisch-deutscher Liebesbeziehungen vor dem Hintergrund der französischen Niederlage von 1870. Der Liebesroman bot in der Zeitspanne zwischen deutsch-französischem Krieg und Erstem Weltkrieg zwar die Möglichkeit, Verschiebungen innerhalb des französischen Fremd- und Selbstbildes auszuloten, lehrte jedoch angesichts der wirkmächtigen kollektiv gebundenen individuellen Erinnerung an das gemeinsame Langzeittrauma, dass zwischen den beiden Nationen nur ein Abstoßungsverhältnis bestehen konnte. Erst die gewonnene grande guerre erlaubte es, die narzißtische Kränkung des französischen Selbstbildnisses in eroticis zu überwinden und insbesondere die französischen Männer zu einer aktiven Gestaltung des deutsch-französischen Verhältnisses zu befähigen.

In ihrem Beitrag „,repasser par la memoire’ – Zur historischen Figuration der politesse in Honoré d’Urfés Astrée“ zeigte KIRSTEN DICKHAUT (Gießen), dass die „politesse“ als historische Figuration (Norbert Elias) auf dem antiken Konzept der paideia aufruht und dass dieses Erziehungsmodell eine subjektgebundene Erinnerungsarbeit voraussetzt, die in Frankreich nachhaltig auf das kulturelle und kollektive Gedächtnis strukturbildend gewirkt hat. Der Beitrag stellte damit ein Modell heraus, das in der Frühen Neuzeit eine fiktional gebundene, anthropologische Erinnerungsform ausgeprägt hat, die sich durch eine besondere Dynamik auszeichnet und deshalb über das in der Forschung bisher fokussierte Speichermodell der Mnemotechnik, die ars, hinausgeht. Die strukturbildende Formel des Romans „repasser par la memoire“ veranschaulicht dieses Erinnerungsmodell als Kulturtechnik und hebt die Prozesshaftigkeit des Erinnerungsvorgangs als vis hervor, die selbst eine ethische Kompetenz darstellt, die wiederum auf dem Wissen des kulturellen Gedächtnisses basiert.

MICHEL DELONs (Paris IV-Sorbonne) Vortrag „La mémoire des romans du XVIIIe siècle dans la fiction actuelle“ untersuchte eine spezifische Ausprägung der kulturellen Erinnerung an Texte des 18. Jahrhunderts im zeitgenössischen Roman. Delon wählte Beispiele, in denen durch die Parallelisierung von Handlungssträngen die komplexe Beziehung zwischen dem Siècle des Lumières und der Gegenwart thematisiert wird und sich eine über intertextuelle Verfahren hergestellte Kontinuität entwickelt, innerhalb derer sich die individuelle Erinnerung an die eigene, französische Geschichte und Geschichtsschreibung, etwa an die Revolution von 1789, als produktive Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit historiographischen Fragestellungen erweist.

In seinem Vortrag „Revolte und Komplizenschaft: Geschichte und Erinnerung bei Camus“ zeigte HEINZ THOMA (Halle), wie das Werk Camus’, das sich zugleich durch Moralferne und moralischen Anspruch auszeichnet, als frühes Erinnerungsmedium für ein Denken im Horizont des Endes der Geschichte einsteht. Er stellte dabei heraus, dass die Revolte bei Camus immer auch Strukturen der Komplizenschaft mit der Gesellschaft und den herrschenden Verhältnissen aufweist, die nur in Form der Utopie überwunden werden können. Damit leistete der Vortrag einen wichtigen Beitrag für eine Relektüre Camus’, die in ihrer Brisanz in der Forschung weiter offenzulegen ist und erwog die ungebrochene Anziehungskraft der Romane und Essays Camus’ für eine Gesellschaft, die sich der Ununterscheidbarkeit von Freiheit und Zwang nähert.

Der zweite Tagungstag schloß mit dem Beitrag „Erzählformen der ‚mémoire immédiate’ bei Assia Djebar. Le blanc de l’Algérie (1995) und La disparition de la langue française (2003)“. WOLFGANG ASHOLT (Osnabrück) untersuchte die Romane der algerischen Autorin als Ausdruck einer mémoire immédiate, die sich im Anschluss an Ricœurs „mémoire partagée“ als eine die individuelle und kollektive Erinnerung verschränkende Erinnerungskategorie beschreiben lässt, die auf einer „expérience du monde mise en partage“ beruht und die „relation aux proches“ ins Zentrum stellt. Die mémoire immédiate gilt Djebar im Sinne einer Überkreuzung von Fiktion und Geschichte als Mittel, Schuld und Verantwortung gegenüber der Gegenwart und der unmittelbaren Vergangenheit zu artikulieren und wurde von Asholt sowohl unter historisch-kulturellen als auch sprachlich-poetischen Vorzeichen umfassend analysiert. Durch den Verweis auf die enge Verknüpfung der mémoire immédiate mit den Möglichkeiten der Literatur, von Geschichte und Gegenwart ungenutzte, von ihnen vergessene, verfehlte oder Entwicklungen antizipierende Möglichkeiten zu reflektieren, stellte Asholt seinen Beitrag in den Kontext der aktuellen Diskussion um Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft und formulierte auf diese Weise einen weiteren Anknüpfungspunkt für eine erinnerungskulturell orientierte Literatur- und Kulturwissenschaft.

Der dritte Kolloquiumstag war der Betrachtung theoretischer Probleme und historischer Perspektiven einer Aisthesis der kulturellen Erinnerung und erinnerten Historie gewidmet. Aus dem Blickwinkel eines spezifischen Gedächtnisparagone fokussierte WALBURGA HÜLK-ALTHOFF (Siegen) in ihrem Beitrag „Paul Valérys Carnet de Londres: Leonardo, Teste und die Dynamik von Gedächtnis und Kunst“ das intermediale und interdisziplinäre Skizzenbuch des jungen Valéry als einen Text, in dem kulturelle, anthropologische und ästhetische Muster der Moderne unter Bezugnahme auf die Schriften Leonardo da Vincis paragonal konturiert werden. Indem Valéry Leonardos Modell des Skizzenbuchs als Struktur übernimmt und vor dem Hintergrund des epistemischen und medialen Feldes seiner Zeit umschreibt, votiert er für ein Zusammenspiel der Künste und Wissenschaften als Entwurf einer Prozessualität des Denkens und Träumens und schreibt sich in Auseinandersetzung mit Leonardos Bewegungsstudien in den um 1900 ausgetragenen Wettstreit um die Epistemologie und Ästhetik der bewegten Formen ein, der in dem Bewußtsein stattfindet, dass noch die flüchtigste Bewegung vom Bewußtsein fixiert werden muss, um wahrgenommen und erinnert zu werden.

Gegenstand des Vortrags „Literaturgeschichtspolitik nach 1945. Zu Alfred Anderschs ,Deutsche Literatur in der Entscheidung’ von 1948“ von GERHARD KURZ (Gießen) war Alfred Anderschs Manifest „Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation“. Die Analyse konzentrierte sich auf die Frage, inwiefern die Begriffe der „völlig neuartigen Situation“, der historischen „tabula rasa“ und der der Entscheidung, die Andersch in einer zentralen Passage herausstellt, eine spezifische „Vergangenheitspolitik“ implizit formulieren: eine Abwehr von Schuld, eine Immunisierung gegenüber der Frage nach der eigenen Verantwortung. Der Beitrag untersuchte weiterhin anhand des erweiterten Kontexts des Manifests, nämlich anhand der Rekonstruktion des Selbstverständnisses der Gruppe 47, inwiefern der Existentialismus Sartres von Andersch aufgegriffen wird, um die jüngste Vergangenheit tendenziell zu tilgen.

In seinem Vortrag „Reflexionen des Aphoristikers Nicolás Goméz Dávila über Geschichte, Geschichtsschreibung und Ästhetik“ führte HINRICH HUDDE (Erlangen) in das Werk des kolumbianischen Aphoristikers ein. Goméz Dávila versteht die Geschichte als Basisdisziplin der Geisteswissenschaften und unterstreicht die zentrale Bedeutung ästhetischen Schreibens für die geschichtliche Darstellung. Erst durch diesen programmatischen Kurzschluss von Ästhetik und Geschichte kann die von Dávila postulierte Offenbarungsfunktion geschichtlichen Erinnerns eingelöst werden.

Die Tagung hat insgesamt Perspektiven eines zukunftsorientierten kulturwissenschaftlichen Dialogs gestalterisch aufgezeigt, der zugleich den im Kontext der verschiedenen Gießener Forschungsverbünde bereits praktizierten Austausch zwischen Geschichtswissenschaften und Kultur-/Literaturwissenschaften vertiefen konnte. Dass Ereignis- und Strukturgeschichte gemeinsam ein spezifisches Modell von Kulturgeschichte bieten, das weiter dazu beitragen kann, sowohl die Literaturwissenschaft als eine Kulturwissenschaft (Dietmar Rieger) historisch weiter zu fundieren, als auch die Kulturwissenschaft als eine historische zu begreifen, wurde immer wieder in der Diskussion aufgegriffen und facettenreich perspektiviert. Für die Zuhörer wurden viele analytische Einsichten in die (Literatur-)Geschichte Frankreichs und Italiens gegeben, die auch und gerade angesichts der Breite und Offenheit des Themas die Ergiebigkeit konzeptueller Zuschnitte zeigten und die Relevanz einer begrifflichen Schärfe in der erinnerungskulturellen Debatte hervorhoben. In den anregenden Diskussionen konnte zwar – nicht zuletzt durch den internationalen Teilnehmerkreis – kein grundsätzlicher Konsens, wohl aber eine produktive Reformulierung von literarhistorischen Paradigmen erzielt werden.

Die wissenschaftlichen Erträge der Tagung werden 2008 im Gunter Narr-Verlag publiziert und so einem größeren Publikum zugänglich gemacht.

Konferenzübersicht:

Geschichte – Erinnerung – Ästhetik

- Jürgen Reulecke (Sprecher des SFB 434 „Erinnerungskulturen“): Festvortrag
- Kirsten Dickhaut/Stephanie Wodianka (Gießen): „Geschichte – Erinnerung – Ästhetik“

Von Geschichte zu Erinnerung und Ästhetik
- Frank-Rutger Hausmann (Freiburg): „Deutsche Romanisten erinnern sich an das ,Dritte Reich’ – eine besondere Form der Memoria“
- Ulrich Mölk (Göttingen): „Evokationen des Mittelalters im französischen Fin de siècle (Erzählung, Lyrik, Theater)“
- Bernard Ribémont (Orléans): „Guillaume de Machaut et la prise d’Alexandrie: de l’événement historique au lieu de mémoire“
- Fritz Nies (Düsseldorf): „Literarische Landschaftspflege von Staats wegen. Streifzug durch Frankreich mit Blick nach Osten“
- Horst Carl (Gießen): „Kultivierte Scheusale – französische Besatzer in frühneuzeitlichen Erinnerungskulturen“
- Gabriele Vickermann-Ribémont (Orléans): „Zwischen Fakten und Fiktion: Performative Erinnerungsarbeit der ,mémoires judiciaires’ des 18. Jahrhunderts“
- Stephanie Wodianka (Gießen): „Matière de Bretagne in Italien: zum Verhältnis zwischen Mythos und Geschichte“

Die Beziehungen von Geschichte und Erinnerung in der Literatur: ästhetische und historisch-soziologische Probleme
- Henning Krauß (Augsburg): „Erinnerung als Warnung – Französisch-deutsche Liebesromane vor dem 1. Weltkrieg“
- Kirsten Dickhaut (Gießen): „,repasser par la memoire’ – Zur historischen Figuration der ,politesse’ in Honoré d’Urfés Astrée
- Michel Delon (Paris): „La mémoire des romans du XVIIIe siècle dans la fiction actuelle“
- Heinz Thoma (Halle): „Geschichte und Erinnerung bei Camus“
- Wolfgang Asholt (Osnabrück): „Formen der ,Mémoire immédiate’ bei Assia Djebar: Le blanc de l’Algérie (1995) und La disparition de la langue française (2003)“

Theoretische Probleme und historische Perspektiven einer Aisthesis der historischen Erinnerung und erinnerten Historie
- Walburga Hülk-Althoff (Siegen): „Paul Valérys Carnet de Londres: Leonardo, Teste und die Dynamik von Gedächtnis und Kunst“
- Gerhard Kurz (Gießen): „Literaturgeschichtspolitik nach 1945. Zu Alfred Anderschs Deutsche Literatur in der Entscheidung von 1948“
- Hinrich Hudde (Erlangen): „Reflexionen des Aphoristikers Nicolás Gómez Dávila über Geschichte, Geschichtsschreibung und Ästhetik“


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