Die 'neuen Leibeigenschaften' in Mittel- und Nordeuropa (13. - 16. Jahrhundert)

Die 'neuen Leibeigenschaften' in Mittel- und Nordeuropa (13. - 16. Jahrhundert)

Organisatoren
Monique Bourin, Paul Freedman, Ludolf Kuchenbuch
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.02.2003 - 08.02.2003
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Von
Julien Demade, Université Louis Pasteur, Strasbourg

1999 fand ein Symposium an der Ecole Française de Rome statt, das unter der Leitung von Pr. Monique Bourin (Universität Paris-I) und Pr. Paul Freedman (Universität Yale) stand und das die Möglichkeit bot, den aktuellen Stand der Forschungen zur "Leibeigenschaft in den Ländern der westlichen christlichen Mittelmeerregion" im Mittelalter zu ermitteln.1 Die selben Organisatoren, denen sich in der Zwischenzeit Pr. Ludolf Kuchenbuch (Fernuniversität Hagen) angeschlossen hat, haben sich nun dem Thema der ",Neuen Leibeigenschaften' in Mittel- und Nordeuropa vom 13. bis zum 16. Jahrhundert"2 zugewandt. Die als Ergänzung zum Symposium von 1999 konzipierte Tagung wurde von PD Pierre Monnet (Mission Historique Française en Allemagne de Göttingen) in Zusammenarbeit mit Julien Demade (M.H.F.A) und mit der Unterstützung des Max-Planck-Instituts für Geschichte (Göttingen) sowie der Fritz-Thyssen-Stiftung veranstaltet und fand vom 6. bis 8. Februar 2003 in Göttingen statt. Pr. Monique Bourin und Pr. Paul Freedman wiesen in ihrer Einführung darauf hin, daß das Kolloquium in Rom einen wichtigen Beitrag zu einer seit zwei Jahrzehnten anhaltenden, lebhaften Debatte über diese Fragen (wie auch über Fragen der Sklaverei) innerhalb der Geschichtsschreibung des Mittelmeeres (insbesondere um die Arbeiten von Pierre Bonnassie oder Paul Freedman) geleistet habe. Demgegenüber gebe es ein bemerkenswert geringes Interesse der neueren Geschichtswissenschaft nördlicherer Regionen an dieser Fragestellung, was um so erstaunlicher sei, als die klassischen Thesen zum Wesen und zur Chronologie der Leibeigenschaft von Historikern aus diesem Bereich entwickelt wurden (Paul Vinogradoff, Marc Bloch). Eine beachtliche Ausnahme stelle hierbei die deutsche Geschichtswissenschaft dar, in der unter anderen Peter Blickle und seine Schüler weiterhin den Fokus auf Formen persönlicher Abhängigkeit in der Vergangenheit richteten. Der reiche Ertrag ihrer Forschungen sei aber in romanischen und angelsächsischen Wissenschaftskreisen weitgehend unbekannt geblieben, und diese Unkenntnis sei über die Geschichtswissenschaft östlicherer Länder noch größer: Vor diesem Hintergrund sei die Idee für diese Tagung entstanden, die insofern einen mehrfachen Zweck erfülle: So sollten einerseits die Fäden einer für Nordwesteuropa weit zerstreuten Historiographie zusammengeführt werden, um auf diese Weise die Forschungen neu zu beleben, und andererseits sollten die Forschungen über das deutschsprachige und östliche Europa einem breiteren Kreis von (nicht-deutschprachigen) Wissenschaftlern vorgestellt werden. Mit einer solchen doppelten Zielsetzung sollten schließlich die Voraussetzungen für einen Vergleich zwischen dem Norden und dem Süden Europas geschaffen und die Zusammenkunft von Vertretern unterschiedlicher Forschungen ermöglicht werden, die zwar gleichzeitig in den 1970er Jahren entstanden waren, seither aber eine getrennte Entwicklung genommen hatten. Die Tagung in Göttingen war jedoch keineswegs als direktes thematisches Pendant zur vorangegangenen Tagung in Rom geplant, denn dies hätte bedeutet, die Besonderheiten der Einzelhistoriographien zu ignorieren, die es doch in besonderer Weise zu berücksichtigen galt. Aus diesem Grund wurde ein Teil der Arbeitsschwerpunkte auf neue Forschungsfelder gelegt, wobei sich aus der zeitlichen Verschiebung - vom Hochmittelalter ans Ende des Mittelalters - eine thematische Verschiebung ergab: So rückte die problematische Beziehung zwischen Hörigkeit und Leibeigenschaft, die eng mit der Frage verbunden ist, ob es eine "mutation féodale" gegeben hat, in den Hintergrund. Wichtiger wurde demgegenüber die nicht minder problematische Beziehung zwischen erster und zweiter Leibeigenschaft, die an die Vorstellung einer "feudalen Reaktion" geknüpft ist, deren Ursachen wiederum in der Krise am Ende des Mittelalters und/oder in der Herausbildung des modernen Staates gesehen werden. Für die Beantwortung dieser Frage wählten die Veranstalter eine komparative Methode, mit deren Hilfe sie hofften, die zwischen den Regionen bestehende Vielfalt hinsichtlich der Bedeutung und des zeitlichen Auftretens von Leibeigenschaft - oder präziser: von Leibeigenschaften - zum Ausdruck bringen zu können. Diese Methode schien insofern besonders gut geeignet zu sein, als es sich bei der zu untersuchenden Region um einen geographischen Raum handelt, für den man am Ende des Untersuchungszeitraums üblicherweise zwischen einem Westen (England und das Pariser Becken) unterscheidet, wo es fast keine Leibeigenen gab, einem Zentrum (von der Champagne bis Franken), wo Leibeigenschaft zwar weit verbreitet war, wo sie aber lediglich den Wert einer symbolischen Abhängigkeit besaß3, und einem Osten, wo die Abhängigkeit von Menschen die wirtschaftlichen Strukturen maßgeblich bestimmte (von Schleswig-Holstein bis Polen)4.

Bevor sich die Tagungsteilnehmer jedoch auf eine peregrinatio begaben, die sie von West nach Ost führen sollte, stellte Pr. Michel Parisse (Universität Paris-I) die Ergebnisse einer Studie vor, in der sämtliche (5000) Urkunden untersucht wurden, die heute in Frankreich für die Zeit vor 1121 im Original erhalten sind.5 Pr. Michel Parisse stellte mit seinem Vortrag, in dem er die Fragestellungen der Tagung in eine längere zeitliche Perspektive einbettete, zugleich auch eine (semantische) Methode vor, auf die im weiteren Verlauf der Tagung immer wieder zurückgegriffen werden sollte. Mit ihrer Hilfe gelang es ihm, quantitativ aufzuzeigen, daß die mancipia im 10. Jahrhundert zugunsten von servi und ancillae zurückgingen, die wiederum am Ende des 11. Jahrhunderts von den homines proprii und den homines de capite, insbesondere aber von den einfachen rustici verdrängt wurden. Wenn also das, was heutzutage von immer mehr Historikern als die karolingische Sklaverei bezeichnet wird, durch die Hörigkeit ersetzt wurde (wobei die Frage offen bleibt, ob die festgestellten lexikalischen Veränderungen als Widerspiegelung einer "mutation féodale" oder aber als Resultat eines Wandels im Verhältnis zwischen "den Quellen" und "der Wirklichkeit" interpretiert werden sollten), so mußte diese Hörigkeit anderthalb Jahrhunderte später selbst einer Gesellschaft weichen, in der freie Lehnsmänner dominierten. Eine solche Gesellschaft bestand nach Ansicht der traditionellen Geschichtsschreibung (Léopold Delisle, Lucien Musset) zum Beispiel in der Normandie, in der es spätestens im 11. Jahrhundert keine Leibeigenen mehr gab. Im Gegensatz zu diesem Bild, das aus einer häufig verfälschenden Lesart der Quellen resultiert, mit der versucht wurde, die Freiheit als konstitutiven Faktor für die Identität der Bewohner der Normandie geltend zu machen, konnte Pr. Denise Angers (Universität Montreal), die sich mit Urbaren befaßte, das Fortbestehen von Herrschaftsrechten nachweisen, die in anderen Regionen der Leibeigenschaft zugerechnet werden (Ausheirat und Heimfall), wie auch von Frondiensten (die übrigens in den Quellen servages genannt werden), die die Lehnsmänner daran hinderten, frei über ihre Zeit zu verfügen. Der selbe realistische beziehungsweise nicht-nominalistische Geist prägte auch den Vortrag von Pr. Heide Wunder (Universität Kassel), die - um hier einen kühnen zeitlichen und räumlichen Sprung vorzunehmen, den es in der Form auf dem Kolloquium nicht gegeben hat - auf den Fall eines hessischen Dorfes im 18. Jahrhundert einging, in dem die Urbaren zwar ausdrücklich behaupteten, daß die Einwohner keine Leibeigenen seien und den Heimfall nicht zu entrichten hätten, in dem aber die Schwere der Frondienste, die in den 1760er Jahren sogar noch ausgeweitet wurden, gleichwohl dazu führte, daß ihre Zeitplanung und Arbeit de facto von den Ansprüchen ihres Herrn abhingen. Pr. Heide Wunder konnte auf diese Weise aufzeigen, daß sich bei genauem Hinsehen auch in einer Region und in einer Zeit, in denen die Leibeigenschaft als überkommen angesehen wird, Formen der Abhängigkeit antreffen lassen, die wenngleich auch keine Identität, so doch eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der ostelbischen Gutsherrschaft aufweisen.

Pr. Denise Angers gelangte jedoch zu dem Ergebnis, daß die auf der Leibeigenen der Normandie lastenden Verpflichtungen sowohl hinsichtlich ihrer Schwere als auch hinsichtlich ihrer Verbreitung in der Bevölkerung nur in vermindertem Maße existierten. Vor dem Hintergrund des von Pr. Christopher Dyer (Universität Leicester) durchgeführten Vergleichs mit England, wo die Leibeigenschaft als Import der normannischen Eroberer galt und wo ihre Verbreitung nur mit dem Aufstand von 1381 rückgängig gemacht wurde, müßte eine solche relative "Freiheit" in der Normandie insofern überraschen. Aber Pr. Christopher Dyer, der sich von der klassischen Geschichtsschreibung distanzierte, machte deutlich, daß dieser Widerspruch nur dem Schein nach existiert. Die schweren Frondienste, die ein charakteristisches Merkmal der auf den manors des 13. Jahrhunderts vorherrschenden villeinage darstellten, waren nämlich auch in den angelsächsischen Königreichen weitverbreitet. Und wenn es überhaupt einen Widerspruch gibt, so ist dieser eher in der Tatsache zu suchen, daß bis zu Beginn des 13. Jahrhunderts die unfreien Lehnsmänner lexikalisch nicht von den freien unterschieden wurden, was in deutlichem Widerspruch zu der danach einsetzenden juristischen Theoriebildung steht, die von einer Opposition zwischen freien und unfreien Bauern ausging. Für Pr. Christopher Dyer war dieser neue Diskurs allerdings nicht Ausdruck wirtschaftlicher Veränderungen (die Herausbildung der herrschaftlichen Eigenwirtschaft und der sie bedingenden Frondienste), sondern einer seit den Plantagenêts betriebenen Machtpolitik der Krone, die in ihrem Bestreben, die freien Bauern ihrer unmittelbaren Rechtsprechung zu unterstellen, darauf angewiesen war, einen Unterschied zwischen diesen (die dem common law unterlagen) und den Leibeigenen (die dem customary law der manorial courts unterlagen) festzustellen beziehungsweise beide Kategorien und ihren Unterschied überhaupt erst zu erfinden. Die Konkurrenz zwischen Krone und Grundherren wurde schließlich in Form eines dauerhaften Kompromisses beigelegt, durch den nur eine Minderheit der Bevölkerung in die unmittelbare Abhängigkeit von Grundherren geriet - allerdings handelte es sich dabei um körperlich abhängige Unfreie.6 Die Schwarze Pest und ihre Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Arbeitskraft hatten zur Folge, daß sich die Wagschale zeitweilig zugunsten der Grundherren neigte. So erhielten diese zunächst den Beistand der Krone, als sie versuchten, die Leibeigenschaft auszuweiten, um auf diese Weise ihre Verfügungsgewalt über die Arbeitskräfte zu erhöhen (Statute of Laborers von 1349). Der erbitterte bäuerliche Widerstand, der seinen Höhepunkt im Aufstand von 1381 fand, veranlaßte die Krone jedoch schließlich dazu, ihre Haltung zu ändern. Dies dürfte der Hauptgrund für den fortschreitenden Rückgang der villeinage im 15. Jahrhundert gewesen sein.

Der historiographische Irrtum, auf den die zwischen Normandie und England festgestellten Abweichungen verwiesen, sollte jedoch nicht der einzige bleiben, der auf der Tagung berichtigt wurde. Denn auch zwischen der Normandie Pr. Denise Angers' und dem Pariser Becken, das von Dr. Ghislain Brunel (Archives Nationales, Paris) erforscht wurde, bestanden deutliche Unterschiede. Eine Berichtigung des damit verbundenen historiographischen Irrtums erscheint um so wichtiger, als die Güter der Kapetinger eine von der Geschichtsschreibung der Leibeigenschaft bevorzugte Untersuchungsregion darstellen. So wird seit den Arbeiten Marc Blochs7, der ausschließlich die vom König abhängigen Leibeigenen bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts untersuchte, davon ausgegangen, daß infolge der zahlreichen Befreiungen größerer Gruppen (königlicher) Abhängiger in der Mitte des 13. Jahrhunderts die Leibeigenschaft hier nur noch als Relikt fortbestand, wohingegen sie in den angrenzenden östlichen Regionen (Champagne8, Verdunois9) nach 1300 zunahm. Dr. Ghislain Brunel, der sich in seinem Vortrag auf die Auswertung einer außergewöhnlichen Quelle stützte (ein Register vom Beginn des 15. Jahrhunderts, das eine Reihe von Akten [800!] umfaßt, die sich auf Leibeigene des Domkapitels von Laon beziehen), konnte demgegenüber das Fortbestehen von homines de corpore nachweisen. Diese kamen zwar bisweilen in den Genuß einer - allerdings individuellen - Befreiung (die ihnen vor allem den Eintritt in den Klerus ermöglichen sollte), aber ihre Rechtsstellung verursachte alsbald heftige Konflikte, die schließlich zum Aufstand der ganzen Region in den 1330er Jahren führten. Während also das Zentrum der kapetingischen Güter ein Ort fortbestehender alter Leibeigenschaft war, traten in den von Vincent Corriol (Universität Paris-I) untersuchten Besitzungen der Mönche von Saint-Claude, die in der Juraregion an den Grenzen des Königreichs lagen, leibeigenschaftliche Herrschaftsrechte (Mainmorte und Taille) erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Erscheinung. Sie kristallisierten sich erst am Ende des 15. Jahrhunderts in einem persönlichen Statut - dem der hommes mainmortables, die dann nur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu serfs werden sollten, als es sich Voltaire zur Herzensangelegenheit machte, an ihrem Beispiel die Mißstände der Feudalität und der Kirche anzuprangern!

Ein zeitlich versetztes Auftreten der Leibeigenschaft, deren Entwicklung sich in den französischsprachigen Randgebieten offenbar grundsätzlich von der Entwicklung der westlicheren Regionen unterscheidet, findet sich in ähnlicher Form auch in den vier Tagungsbeiträgen zu Oberdeutschland wieder. Diese wurden von Pr. Tom Scott (Universität Liverpool) eingeleitet, der einen Überblick über die Geschichtsschreibung zum deutschen Südwesten gab, der klassischerweise als typische Region für die Leibeigenschaft am Ende des Mittelalters angesehen wird. Tom Scotts Vortrag stellte gleichermaßen eine bemerkenswert kompetente Einführung in die in der deutschen Geschichtswissenschaft geführten Debatten der letzten Jahrzehnte10 dar wie auch eine engagierte Positionierung innerhalb dieser Debatten, in denen es unter anderem um die Frage ging, ob es einen Zusammenhang zwischen der Hörigkeit des Hochmittelalters und der Leibeigenschaft des Spätmittelalters gegeben hat (einen solchen Zusammenhang wird von Tom Scott gegen Hannah Rabe11 behauptet. Allerdings glaubt er, dieser - im Unterschied zu Rolf Köhn12 - nicht in den homines proprii, sondern in den censuales zu erkennen, wie dies kürzlich auch Christian Keitel13 getan hat). Eine weitere umstrittene Frage betraf die Charakteristika von Leibeigenschaft, zu denen Tom Scott ausdrücklich nicht die Heiratsbeschränkungen und die Beschränkungen des Wohnortwechsels rechnete, da diese ebensogut Untertanen betreffen konnten. Schließlich sprach er sich auch gegen jegliche monokausale Erklärung der Ursachen von Leibeigenschaft aus, wobei sich seine Kritik sowohl gegen wirtschaftliche Erklärungsmodelle (Annahme einer kausalen Verbindung zwischen der Erneuerung der Leibeigenschaft am Ende des Mittelalters und der Agrarkrise infolge der Schwarzen Pest: Peter Blickle14) als auch gegen politische Erklärungsmodelle richtete (Annahme einer kausalen Verbindung zwischen der Leibeigenschaft und der Errichtung von Territorialstaaten. Er machte dabei deutlich, daß die Leibeigenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fortbestand und somit den Abschluß dieses Staatenbildungsprozesses in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts weit überdauert habe). Die Vorträge von PD Sigrid Schmitt (Universität Mainz) und Dr. Kurt Andermann (Generallandesarchiv Karlsruhe) über zwei Regionen, die zu dem von Tom Scott umrissenen geographischen Raum gehören, ergänzten sich in bemerkenswerter Weise: Da sie nämlich zwei unterschiedliche Aspekte in den Blick nahmen, konnte durch ihre Verbindung jene Logik rekonstruiert werden, die dem politischen Gebrauch der Leibeigenschaft im Rahmen einer sich herausbildenden Territorialherrschaft zugrunde lag. So stellte Kurt Andermann, der die politisch schwachen Markgrafen von Baden untersuchte, einen defensiven Gebrauch der Leibeigenschaft fest, wurde sie doch hier als ein primär gegen die benachbarten mächtigeren Fürsten gerichtetes Mittel genutzt, um die Rechtsstellung der in der Markgrafschaft lebenden Personen zu vereinheitlichen (Leibeigenschaft erhielt schließlich die Bedeutung von Untertänigkeit, wodurch die persönliche Bindung territorialisiert wurde). Demgegenüber wandelten die von PD Sigrid Schmitt betrachteten pfälzischen Grafen die Leibeigenschaft in ein offensives Werkzeug zur Ausdehnung ihres Territoriums um, indem sie vermehrt Personen ihrer Leibherrschaft unterstellten, die außerhalb der Grenzen ihres Territoriums lebten. In diesem Fall blieb die persönliche Abhängigkeit deutlich unterschieden von einer durch die Zugehörigkeit zu einem Territorium bestimmten Untertänigkeit. In der Diskussion stellte sich jedoch heraus, daß der Gegensatz zwischen den beiden Fällen nur dem Schein nach existierte, da die Pfalzgrafen innerhalb der Grenzen ihres Territoriums von der Leibeigenschaft genau den gleichen Gebrauch machten wie die Markgrafen.

Im Unterschied zu PD Sigrid Schmitt und Dr. Kurt Andermann, die sich mit der Leibeigenschaft als einem Phänomen befaßt hatten, das - wie sie hervorhoben - nicht vor der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auftrat, wandten sich Julien Demade (MHFA) und Dr. Joseph Morsel (Universität Paris-I) in ihrem Vortrag über das östlich angrenzende Franken der Eigenschaft zu, die der Leibeigenschaft zeitlich voranging. In Abgrenzung zur klassischen substantialistischen Lesart wurden die Eigenleute als Kategorie des sozialen Diskurses der Herrschenden betrachtet. Das bedeutet: der Begriff wurde nicht als Ausdruck einer Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten angesehen (was impliziert hätte, daß man den Eigenleuten einen deutlich unterschiedenen und absoluten Status beimißt), sondern als Ausdruck einer Beziehung zwischen den Herrschenden, die mit dieser Bezeichnung einen Vorrang hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Ansprüche gegenüber ein- und demselben Menschen ausdrückten. Vermittels einer solchen Herangehensweise konnte auch der widersprüchliche Umstand geklärt werden, daß es in Ostfranken keinerlei Erwähnung von Eigenleuten gibt, während sie in Westfranken außerordentlich häufig erwähnt werden. Dieser Unterschied verweist nämlich keineswegs auf Regionen, die durch ein ausgeprägtes Vorhandensein und vollkommenes Fehlen von "Leibeigenschaft" in einem Gegensatz zueinander stehen, sondern lediglich auf unterschiedliche Organisationsformen der herrschenden Gruppe.

Die Tagungsbeiträge von Pr. Werner Rösener (Universität Gießen) über den deutschen Südwesten und Pr. Heinz Dopsch (Universität Salzburg) über die östliche Alpenregion bezogen sich demgegenüber auf ein seit Günther Franz klassisches Thema: auf den Zusammenhang zwischen Bauernaufständen und Leibeigenschaft, der nach Ansicht von Peter Blickle so klar ersichtlich sei, daß man von einer weitgehenden Deckungsgleichheit von Gebieten des Bauernkrieges mit denen der Leibeigenschaft ausgehen könne. In dieser Argumentationslinie wies Pr. Werner Rösener darauf hin, daß der großen Erhebung von 1525 und der Verbreitung der "Zwölf Artikel" (von denen der dritte gegen die Leibeigenschaft gerichtet war), nicht nur kleinere Aufstände, sondern auch eine Vielzahl weniger spektakulärer Konflikte und Widerstandsbewegungen vorangegangen waren, die alle aus einem entschiedenen Widerstand gegen die Leibeigenschaft resultierten oder diesen zumindest als Begründung anführten. Pr. Heinz Dopsch, der in seinem Vortrag ähnliche Phänomene beschrieb, wies dabei jedoch auf den bislang unbekannten Sachverhalt hin, daß im ostalpinen Raum, der klassischerweise als eine Region bäuerlicher Freiheit betrachtet wird (weil es sich um eine Kolonisierungsregion handelt), Leibeigenschaft gleichwohl weitverbreitet und außerdem sehr viel älter war, als dies bislang angenommen wurde (was bereits aus den libri traditionum hervorgehe).

Nach dieser gewichtigen Gruppe von Vorträgen über Oberdeutschland wandten sich Pr. Michael Gelting und Jeppe Netterstrøm Dänemark zu, das eine Scharnierregion zwischen den nördlichen, westlichen und östlichen Teilen Europas darstellt (es sei daran erinnert, daß sich das Verbreitungsgebiet der Gutswirtschaft von dem in der Frühen Neuzeit unter dänischer Krone stehenden Schleswig-Holstein aus nach Osten erstreckte). Pr. Michael Gelting, der sich auf die neueren Arbeiten von Helge Paludan15 stützte, wies die Vorstellung einer bis in die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts hinein gänzlich freien dänischen Bauernschaft ebenso zurück wie die Vorstellung, daß die darauf folgende Abhängigkeit steuerliche Ursachen gehabt habe (also die Annahme, daß die vom König stetig erhöhte Steuerlast die Bauern in die Arme des Adels getrieben habe, der ihnen steuerliche Immunität zugesichert habe). Statt dessen betonte er die Auswirkungen einer sich verändernden Rechtspraxis (bedingt durch die Übernahme des kanonischen Rechts oder genauer: der Entscheidungen des IV. Lateranischen Konzils), die unter anderem eine Ersetzung des Gottesurteils und der Eideshelfer durch Schöffengerichte zur Folge hatte. Da nur die adligen Herren in der Lage waren, Einfluß auf diese Schöffen zu nehmen, sahen sich immer mehr Bauern dazu gezwungen, sich selbst in deren persönliche Abhängigkeit zu begeben. Jeppe Netterstrøm konnte nachweisen, daß diese Leibeigenschaft, deren Ursprünge von Pr. Michael Gelting dargestellt worden waren, in den verschiedenen Regionen des dänischen Königreichs eine unterschiedliche Entwicklung nahm, wobei er einen sich seit Beginn des 16. Jahrhunderts besonders verstärkenden Gegensatz zwischen Jütland und Sjaelland feststellte. Darüber hinaus zeigte er auf, in welcher Weise sich in der Entwicklung der Leibeigenschaft ein Wandel der Herrschaftsformen über die ländliche Gesellschaft widerspiegelt, in dessen Verlauf die Leibherrschaft an die Stelle der Schutzherrschaft trat, die zuvor durch ausufernde Fehden verursacht worden war, Fehden die gerade am Ende des 15. Jahrhunderts in Sjaelland zurückgingen.

Es folgte eine Reihe von Vorträgen über die Entwicklung in den östlicheren Regionen. Pr. Krzysztof Kowaleski (Universität Warschau) betrachtete am Beispiel Böhmens im 14.-15. Jahrhundert die spezifische Gruppe der servitores, eine Art niedere Ministeriale, deren alltägliche Aufgaben in der herrschaftlichen Verwaltung lag und die von Pr. Heide Wunder (in der Diskussion) als eine für Osteuropa charakteristische Gruppe bezeichnet wurden. Pr. Marian Dygo (Universität Warschau) und Pr. Janos Bak (Central European University, Budapest), die die bäuerliche Leibeigenschaft untersuchten, kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß der Begriff einer "zweiten Leibeigenschaft" für ihre Untersuchungsregionen nicht zutreffe. So unterstrich Pr. Marian Dygo für Polen die Bedeutung einer partiellen Übernahme des römischen Rechts im 15. Jahrhundert für die Herausbildung der in der Frühen Neuzeit weitverbreiteten persönlichen Abhängigkeit (Übernahme die um so aufschlußreicher sei, als sie auf den Aspekt der persönlichen Abhängigkeit beschränkt blieb). Pr. Janos Bak zeichnete für Ungarn ein Bild von bestechender Klarheit, indem er ein Land beschrieb, in welchem im Zuge der Wiederherstellung einer vor dem Mongoleneinfall von 1241 herrschenden Ordnung die Freiheit der Lehnsmänner eine vorher bestehende Sklaverei ersetzte (über das Modell der hospites der germanischen Kolonisierung), ohne daß dabei jedoch das Zwischenstadium der Hörigkeit durchlaufen wurde. Diese Situation sollte bis zum Ende des 15. Jahrhunderts andauern, als die im Adel herrschenden Spannungen (der Hochadel versuchte, dem Niederadel die Gefolgsleute abzuwerben, wogegen sich dieser zur Wehr setzte, indem er die Freizügigkeit einschränkte) zu einer Zunahme der auf den Lehnsmännern lastenden Zwänge und schließlich zum Aufstand von 1514 führten. Die Reaktion des Adels auf diesen Ausbruch sozialen Unmuts gipfelte zwar in der Formulierung eines Prinzips "ewiger Knechtschaft" der Bauern. Die Bedrohung durch die Türken und der damit einhergehende permanente Kriegszustand führten jedoch dazu, daß dieses Prinzip nie vollständig zur Anwendung kam. Aus diesem Grund gab es im Ungarn des 17. Jahrhunderts nur eine abgeschwächte Gutsherrschaft, in der die Frondienste auf einen Tag pro Woche begrenzt blieben.

Pr. Ludolf Kuchenbuch übernahm die Aufgabe, den Ertrag der über drei Tage hinweg geführten, lebhaften Diskussionen abschließend zusammenzufassen. So betonte er zunächst die Notwendigkeit, zukünftige Arbeiten zur persönlichen Abhängigkeit von den Erblasten einer aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammenden Begrifflichkeit (servage, Leibeigenschaft) zu befreien. Mit semantischem Erfindungsreichtum, der nicht der Ironie entbehrte, führte er zu diesem Zweck das Konzept einer "Hominologie" ein, mit deren Hilfe die Frage geklärt werden könne, auf welche Weise ein ursprünglich nur auf die Kontrolle des jährlichen landwirtschaftlichen Arbeitsprozesses und seiner Produktion beschränktes Herrschaftsrecht in ein Herrschaftsrecht überführt wurde, das den ganzen Lebenszyklus betraf (Ausheirat, Besthaupt etc.). Pr. Ludolf Kuchenbuch führte weiter aus, daß diese "Hominologie" symbolisch auf einer "Organologie" basiere (homines de capite, mainmorte, usw.) und daß beide Konzepte - "Hominologie" und "Organologie" - im Begriff der "Servilität" zusammengefaßt werden könnten, der wiederum den Vorteil biete, nicht mit historiographischen und ideologischen Erblasten befrachtet zu sein. Mit Rückgriff auf ein von Norbert Elias entwickeltes Konzept bzw. in Abwandlung dieses Konzepts wies er schließlich darauf hin, daß die historischen Prozesse, Situationen und Datierungen nur angemessen erforscht werden könnten, wenn man sie in Begriffen eines "Servilisierungsprozesses" beschreibe.

Julien DEMADE

1 Vgl. die Tagungsbeiträge in den Mélanges de l'Ecole Française de Rome: Moyen Âge, 112, 2000-2, S. 633-1085. Im gleichen Band (S. 494-631) sind auch die Beiträge für die Tagung in Nanterre (1997) über "Esclavages et servages de la fin de l'Antiquité au monde moderne" (Leitung: Henri Bresc) abgedruckt. Vgl. auch die (mittelmeerischen) Beiträge der Tagung von València, die im nächsten Band (2004) der Revista d'Història Medieval veröffentlicht werden
2 Zum selben Thema gibt es eine chronologische Ergänzung in: KLUSSMANN Jan (Hg.), Leibeigenschaft: bäuerliche Unfreiheit in der frühen Neuzeit, 2003.
3 Eine Vorstellung, die bisweilen in Zweifel gezogen wird: vgl. den maßgeblichen Artikel von TROSSBACH Werner, "Südwestdeutsche Leibeigenschaft in der Frühen Neuzeit - eine Bagatelle?", in: Geschichte und Gesellschaft, 7, 1981, S. 69-90.
4 Diese Vorstellung einer zu Beginn der Frühen Neuzeit fortschreitenden geographischen Abstufung von der Freiheit zur Unfreiheit bildete auch die Grundlage für die theoretischen Konstruktionen von Immanuel Wallerstein oder Robert Brenner.
5 Es handelt sich um einen Quellenkorpus, der von dem ARTEM (Atelier de Recherches sur les Textes Médiévaux, Nancy) zusammengestellt wurde und der in Kürze der Forschung zugänglich sein wird. Vgl. http://www.univ-nancy2.fr/RECHERCHE/MOYENAGE/Diplomatique/accueil/diplo.htm
6 Pr. Christopher Dyer stützt sich also in seinen Berechnungen des Anteils von Leibeigenen an der Gesamtbevölkerung auf die Hypothesen von Masschaele und Smith, nicht aber auf die von Bennet oder Hatcher.
7 Rois et serfs: un chapitre d'histoire capétienne, 1920.
8 PATAULT Anne-Marie, Hommes et femmes de corps en Champagne méridionale à la fin du Moyen-Âge, 1978.
9 GIRARDOT Alain, Le droit et la terre: le Verdunois à la fin du Moyen âge, 1992.
10 Womit er Heide Wunders "Serfdom in later medieval and early modern Germany" (in: ASTON T. H. [Hg.], Social Relations and Ideas. Essays in Honour of R.H. Hilton, 1983, S. 249-272) auf den aktuellen Stand der Forschung brachte.
11 Das Problem Leibeigenschaft: eine Untersuchung über die Anfänge einer Ideologisierung und des verfassungsrechtlichen Wandels von Freiheit und Eigentum im deutschen Bauernkrieg, 1977. Die kritischen Bemerkungen Tom Scotts betreffen weniger die wichtigen Befunde Hannah Rabes (das massive Auftreten des Begriffs der Leibeigenschaft am Ende des 15. Jahrhunderts) als ihre Interpretationen (die Leibeigenschaft als von den Bauern neu geprägter Kampfbegriff, also ohne jegliche Verbindung mit der Hörigkeit des Hochmittelalters). Für Tom Scott wie auch für Peter Blickle (und die Mehrheit der deutschen Historiker) existierte jedoch die Sache vor dem Wort.
12 "Wahrnehmung und Bezeichnung von Leibeigenschaft in Mittel- und Westeuropa vor dem 14. Jahrhundert", in: MIETHKE Jürgen, SCHREINER Klaus (Hg.), Sozialer Wandel im Mittelalter, 1994, S. 301-334.
13 Herrschaft über Land und Leute: Leibherrschaft und Territorialisierung im Mittelalter, 1994, S. 301-334.
14 "Agrarkrise und Leibeigenschaft im spätmittelalterlichen deutschen Südwesten", in: KELLENBENZ Hermann (Hg.), Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im Spätmittelalter und im 19. / 20. Jahrhundert, 1975, S. 39-55.
15 Familia og familie: to europœiske kultrelementers møde i højmiddelalderens Danmark, 1995.


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