200 Jahre Marbury v. Madison – 200 Jahre Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit

200 Jahre Marbury v. Madison – 200 Jahre Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit

Organisatoren
Atlantische Akademie Rheinland-Pfalz in Zusammenarbeit mit der Deutsch-Amerikanischen Juristen-Vereinigung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.02.2003 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Thomas Henne, Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main/Berlin

Marbury v. Madison ist epochal: Es ist seit nunmehr genau 200 Jahren die fundamentale Entscheidung des US-Supreme Courts zur judicial review. Und es ist die wohl am meisten analysierte und gelesene Gerichtsentscheidung der westlichen Welt,1 deren umfassendes Verfassungsprogramm erst in den 1950er Jahren auch in der Bundesrepublik Deutschland umgesetzt wurde. Eine gemeinsame Tagung der Atlantischen Akademie Rheinland-Pfalz und der Deutsch-Amerikanischen Juristenvereinigung nahm in Berlin den Jahrestag zum Anlaß, um aus rechtsvergleichend-historischer Perspektive einige Aspekte des Urteils zu beleuchten.

Wolfgang Hoffmann-Riem, Richter am Bundesverfassungsgericht, betonte das taktische Geschick des Richters John Marshall, der die Entscheidung verfaßte: Er ließ den Kläger verlieren, denn andernfalls, so Hoffmann-Riem, „hätte er mit einem impeachment-Verfahren rechnen müssen.“ Doch so war der Weg frei, um mit „rhetorisch-suggestiver Eleganz“ nicht nur die üblichen obiter dicta, sondern eine ganze „obiter dissertation“ in den Fall einzubauen. Damit ergaben sich anregende Parallelen zur bundesdeutschen Grundrechtsjudikatur, denn zum Beispiel auch die zentralen ‚Lüth‘ 2 und ‚Mephisto‘-Entscheidungen 3 des Bundesverfassungsgerichts sind im Hinblick auf ihr Verfahrensergebnis juristisch sehr angreifbar. Und wie Marbury v. Madison enthalten diese beiden Entscheidungen umfassende, über den konkreten Fall weit hinausgehende Ausführungen.

Hoffmann-Riem zeigte im folgenden, wie die Inhalte von Marbury v. Madison, dieser „Revolution auf Samtpfoten“, in den 1920er Jahren auch in der Weimarer Republik aufgegriffen wurden, als nun auch das Reichsgericht ein umfassenderes richterliches Prüfungsrecht gegenüber Gesetzen bejahte. Die Ablehnung einer Verfassungsgerichtsbarkeit durch die große Mehrheit der Weimarer Staatsrechtslehre verhinderte aber in dieser Zeit von vornherein die Gründung eines solchen Gerichts, so daß erst das 1951 gegründete Bundesverfassungsgericht an Marbury v. Madison anknüpfte. Inzwischen aber hat, so Hoffmann-Riem, sein Gericht in der nur 50jährigen Geschichte mehr Gesetze für verfassungswidrig erklärt als der Supreme Court in seiner 200jährigen Geschichte seit Marbury v. Madison. Auf das Stichwort von der „Juridifizierung der Politik“ brauchte in der Diskussion nicht lange gewartet zu werden.

Charles F. Abernathy, Georgetown University Law Center, lenkte hingegen den Blick mehr auf die Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen und dem (west-)deutschen Rechts- und Verfassungsverständnis. Zwar sei die Wurzel des US-amerikanischen Verfassungsrechts im kontinentaleuropäischen Code Law zu suchen, auch argumentiere Marbury v. Madison mit dessen Prinzipien, doch schon kurz nach dieser Entscheidung habe die Rückkehr zum Common Law eingesetzt. Vor allem die Methode der Rechtsfindung sei in den beiden Rechtskulturen unterschiedlich, wie er mit pointierten Zuspitzungen verdeutlichte: „Law professors know law best“ gelte in Kontinentaleuropa, doch im Common law: „Professors affect law little“. Es ist eben auch die Methode der Präsentation von Wissen über Recht, die Common und Code Law-Systeme unterscheidet.

Winfried Brugger (Universität Heidelberg) betonte anhand der political question doctrine hingegen, daß der Blick mehr auf funktionelle Äquivalente zwischen dem kontinentaleuropäischen und dem US-amerikanischen Rechtsverständnis gerichtet sein sollte. Doch zugleich seien die historisch unterschiedlichen Erfahrungen mit der obersten Gerichtsbarkeit zu berücksichtigen: Immerhin der US-amerikanische Bürgerkrieg wurde auch ausgelöst durch die Supreme Court-Entscheidung, ein Gesetz zur Sklavenbefreiung für nichtig zu erklären, während das Bundesverfassungsgericht noch keine solche Fehlentscheidung getroffen habe. Dieser unterschiedliche Blick auf die Judikatur beinflusse bis in die Gegenwart die Akzeptanz der sich etablierenden internationalen Strafgerichtsbarkeit.

Auch Michael Dreyer (Northwestern University) akzentuierte eher Unterschiede, als er die Bedeutung von Lobbygruppen für das Zustandekommen von Supreme Court-Entscheidungen hervorhob. Auch die Verschiebung der Entscheidung politischer Streitfragen in die Justiz sei in den USA vergleichsweise stärker, weil die ausgeprägte Gewaltenbalance zur Konfliktscheue in der Legislative und der Exekutive verleite.

Die Diskussion umging die aktuellen „Turbulenzen“ (Thomas Delaney, Kulturattaché der US-Botschaft) der deutsch-amerikanischen Beziehungen und berührte auch nicht ein aktuell viel diskutiertes Thema eines tabubrechenden Aufsatzes von Winfried Brugger.4 Stattdessen belegte die Diskussion unter anderem den so unterschiedlichen Forschungsstand zur deutschen und zur US-amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Die jetzigen Bundesverfassungsrichter auch nur namentlich aus dem Kopf zu benennen, wäre den meisten deutschen Juristinnen und Juristen wohl kaum möglich – das Gericht wird nach wie vor weitestgehend als „black box“ wahrgenommen. Und beispielsweise zum berühmtesten Fall der bundesdeutschen Grundrechtsjudikatur, dem ‚Lüth‘-Fall von 1958, ist bislang nicht eine einzige (rechts)historisch ausgerichtete Monographie erschienen.

Michael Dreyer hingegen berichtete von einer Konferenz, auf der kürzlich unter anderem intensiv der Gesundheitszustand aller gegenwärtigen Supreme Court-Richter erörtert worden sei. Monographien über Marbury v. Madison sind auch in bibliographischen Essays nur noch ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erfassen. Der Bundesverfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem profitierte von diesem so unterschiedlichen Interesse: Er verließ vorzeitig die Tagung und nahm ein Taxi. Vermutlich wurde er schon dort nicht mehr erkannt.

Anmerkungen:
1 Zugänglich zum Beispiel unter http://caselaw.lp.findlaw.com/scripts/getcase.pl?navby=case&court=us&vol=5&page=137amp;page=137
2 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 7, S. 198 ff. (http://www.oefre.unibe.ch/law/dfr/bv007198.html). Der zugrundeliegende Boykottaufruf von Erich Lüth gegen den NS-Filmregisseur Veit Harlan war wohl nicht, wie man heute sagt, verhältnismäßig, und doch war Lüth in Karlsruhe erfolgreich, denn ein anderes Ergebnis wäre politisch nicht zu vermitteln gewesen.
3 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 30, S. 173 ff. (http://www.oefre.unibe.ch/law/dfr/bv030173.html). Das Ergebnis, das Druckverbot für Klaus Manns „Mephisto“, gilt heute weitgehend als „Fehlurteil“ (so z.B. Karl Larenz / Claus-Wilhelm Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 2/2, 13. Aufl., München 1994, S. 529).
4 Winfried Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, Der Staat, Jg. 1996, S. 67-97.


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