Bibliotheken und ihre Nutzer - der Zugang zu Buchbeständen von 1650-1850

Bibliotheken und ihre Nutzer - der Zugang zu Buchbeständen von 1650-1850

Organisatoren
Gerhard F. Strasser; Thomas Stäcker; Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.09.2007 - 07.09.2007
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Von
Gerhard F. Strasser, Penn State University/Ludwig-Maximilians-Universität München

In einer Zeit, in der der Leser und Lesende, also letztlich Nutzer und Benutzende einer Bibliothek, wieder mehr in den Mittelpunkt der Bibliotheksforschung rückt, richtete sich das Augenmerk eines Arbeitsgesprächs der Herzog August Bibliothek auf diese Gruppe, und zwar für die Zeit seit der Öffnung dieser Büchersammlung für ein breiteres Publikum bis hin zu den oft stark veränderten Parametern für Bibliotheken um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Gespräch fand unter der Leitung von Gerhard F. Strasser (Penn State University/LMU) und Thomas Stäcker (Wolfenbüttel) in der Bibliotheca Augusta statt und versammelte Vertreter der Bibliothekswissenschaften, Literatur- und Geschichtswissenschaftler zu einer Diskussion verschiedener Aspekte der Nutzung und des Zugangs zu historisch gewachsenen Bibliotheken auf zwei Kontinenten.

Nach kurzen einführenden Worten, in denen GERHARD F. STRASSER auf die weit über die Bibliothekswissenschaft hinausgehende Tragweite des Themas hinwies, erinnerte Paul Raabe, der langjährige Direktor der Herzog August Bibliothek, an die Aufarbeitung der Ausleihlisten dieser Institution durch Mechthild Raabe, die in den zwischen 1989 und 1998 veröffentlichten acht Bänden nebst Gesamtstatistik die Leser mit ihren Bibliografien erfasst hatte, Lesergruppen nach Berufssparten zusammenstellte sowie einen alphabetischen Katalog der entliehenen Bücher und eine systematische Ordnung erarbeitete. Dieses nicht genügend genutzte Material, das den Anstoß zu dem Arbeitsgespräch gegeben hatte, ermöglicht durch den heute noch jederzeit möglichen Rückgriff auf das Büchermaterial einen Einblick in die Wechselbeziehungen zwischen einer von Bibliothekaren unterschiedlichster Berufsphilosophie geführten Institution und ihren Nutzern.

Die einzelnen Referate analysierten dann wichtige Aspekte aus dem Zusammenspiel zwischen den verschiedenartigsten Bibliotheken und ihren Lesern. THOMAS STÄCKER knüpfte dabei an die von Paul Raabe tangierten Vorgaben der herzoglichen Bibliothek an und untersuchte vor dem Hintergrund der Bibliothekstheorie der historia litteraria deren Nutzung durch Gelehrte in der Zeit um 1700. Er erinnerte an die nach 1600 immer häufiger erklingende Forderung nach Öffnung der Bibliotheken für den Gelehrtenstand und die breitere Öffentlichkeit, was sich für die Herzog August Bibliothek ab der Jahrhundertmitte dokumentieren lässt und sich 1686 in der Bibliotheksordnung Herzog Rudolph Augusts niederschlägt. So zeigt sich anhand der Ausleih- und Besucherbücher, dass um 1700 die Sammlung zu zwei Dritteln von Gelehrten konsultiert wurde. Dabei verwies Stäcker auch auf die Nutzung durch auswärtige Besucher, wozu der vollständig erhaltene dienstliche Briefverkehr der Bibliothekare eine reiche, noch weitgehend unerschlossene Fundgrube bildet. An Fallbeispielen untersuchte er die Bibliotheksnutzung. So lieh Samuel von Pufendorf, der eine große Privatsammlung besaß, gezielt nur drei Handschriften aus. Für Hermann Conring, obwohl Professor im nahe gelegenen Helmstedt, lassen sich in dem Jahrzehnt nach 1665 nur 13 Bücher nachweisen, vermutlich weil er auf eine eigene reiche Bibliothek von 3200 Bänden und zudem auf die Helmstedter Bibliothek zurückgreifen konnte.

HELMUT ROHLFING (Göttingen) sprach über „Göttinger Ausleihjournale als Quellen der Bibliotheksbenutzung“. Diese Ausleihregister existieren von 1757 bis 1888 und werden ab 1793 semesterweise geteilt für Professoren und Studenten geführt. In 432 Bänden sind insgesamt an die 1,3 Millionen Vorgänge dokumentiert. Die Ausleihpraxis wurde liberal gehandhabt; zahlreiche Ausnahmen von den Bibliotheksgesetzen sind daher verzeichnet. Alle Bücher mussten halbjährlich zurückgegeben werden. Studenten konnten Bücher nur ausleihen, wenn ein Professor dafür persönlich bürgte. Bei aller Großzügigkeit war ein Leihverkehr nach auswärts nicht erlaubt – was bedeutete, dass etwa Goethe die Ausgabe von Benvenuto Cellinis Dell’oreficeria von 1568 über Lichtenberg entleihen musste, der 1796 drei Monate lang für den Band bürgte. Während seiner Göttinger Professur hatte dieser zwischen 1763 und 1799 mehr als 1.000 Bände ausgeliehen, obwohl er auch aus Gießen Bücher bezog. Nach der exemplarischen Analyse von drei Lesern des Jahres 1786/87 und ihren Entleihungen stellte Rohlfing abschließend die Frage, wie realistisch eine Gesamtdarstellung des Göttinger Ausleihgeschäfts in Hinblick auf dessen Volumen wäre und plädierte vielmehr verstärkt für Mikrostudien zu einzelnen Wissenschaftlern oder Schriftstellern, die für sich schon wertvolle Erkenntnisse liefern könnten.

Aus einer völlig anderen Warte beleuchtete ROSMARIE ZELLER (Basel) die Ausleihpraktiken eines einzelnen Lesers, nämlich „Die schöngeistigen Lektüren Ulrich Bräkers (1735–1798), eines schweizerischen Bauern und Baumwollhändlers“. Im Gegensatz zu den bisher untersuchten gelehrten Lesern könnte man hier fast von der „Lektüre des armen Mannes“ sprechen. Bräker erbte von seinem Vater nicht nur theologische Werke, sondern einen relativ breiten Buchbestand, der durch eine Erbschaft seitens eines befreundeten Arzt noch erweitert wurde. Ein wichtiger Schritt war 1779 seine Aufnahme in die Reformierte Moralische [Lese-] Gesellschaft im Toggenburg, in der sich sonst nur Beamte, Kaufleute und Pfaffen befanden. Nachdem er lange Zeit Dramen und „nützliche“ Bücher (Fabeln, Geschichtsbücher) gelesen hatte, scheint sich mit der Aufnahme in diese Gesellschaft seine Einstellung zum Lesen geändert zu haben – Lesen wird zu reinem Vergnügen. Jetzt lassen sich empfindsame Romane nachweisen, auch Lebensgeschichten, die er auf seinen eigenen Bereich beziehen kann; zunehmend rezipiert er zeitgenössische Literatur. Letztlich jedoch blieben für Bräker die moralischen Nutzanwendungen in all den gelesenen Werken entscheidend, was er in seinen Tagebuchaufzeichnungen und seiner Lebensgeschichte reflektierte.

Ausgehend von den Veröffentlichungen Mechthild Raabes untersuchte GERHARD F. STRASSER (Penn State/München) „Die Leseintentionen von Wolfenbütteler Lehrern und Schülern im 17. und 18. Jahrhundert“. Er analysierte dazu das Leserverhalten einiger Rektoren und Schüler der 1543 gegründeten Großen Schule wie auch die Lektüregewohnheiten von Professoren, Instruktoren und Akademisten der zwischen 1687 und 1715 bestehenden Ritterakademie, die zum Teil wegen der bestehenden ausgezeichneten Bibliothek gegründet werden konnte. Unter den paradigmatisch untersuchten Nutzern der herzoglichen Bibliothek sind Guido Leremite (gest. 1720), Lektor für Französisch und Italienisch an der Akademie, sowie Johann Jakob Luedecke (1689–1750), ein hoch begabter junger Leser aus der Großen Schule, besonders interessant. Der Hugenotte Leremite bestimmte den französischen Lektürekanon der Akademisten, die in manchen Fällen die vielbändigen Romane und Geschichtswerke nur Tage nach ihrem Lehrer ausliehen und sich auf diese Weise mit den Gepflogenheiten des französischen Hofes vertraut machen sollten. Luedecke wiederum, Sohn eines herzoglichen Geheimen Rates, kam mit neun Jahren erstmals in die Bibliothek und lieh in den folgenden vier Jahren 77 Bücher aus, ehe er seine höheren Studien begann. Seine Sprachkenntnisse ermöglichten es ihm, französische, lateinische und griechische Werke neben zeitgenössischer deutscher Literatur zu rezipieren, was ihn als förmliches Wunderkind des frühen 18. Jahrhunderts erscheinen lässt. So einzigartig der Schüler Luedecke zu seiner Zeit als Nutzer der Bibliothek auch gewesen sein mag, so lässt sich zur Amtszeit Lessings immerhin feststellen, dass zehn Prozent der Leser Schüler der Großen Schule waren.

Mit HELGA MEISES (Reims) Referat über „Fürstinnenbibliotheken des 18. Jahrhunderts: Traditionen, Gebrauchsspuren, Funktionen“ wurde ein ganz anderer Leserkreis beleuchtet, der der fürstlichen Leserinnen. Am Beispiel der Bücherverzeichnisse von vier Landgräfinnen von Hessen-Darmstadt und einer Pfälzer Herzogin arbeitete Meise die Schwerpunkte der Sammlungen und die Funktionen der erstellten Bücherverzeichnisse heraus. Es handelte sich um die „Fürstin Max“ (1698–1777), die Landgräfin George (1729–1818) sowie um die regierenden und in direkter mütterlicher Linie verwandten Fürstinnen Herzogin Caroline von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld (1704–774), Landgräfin Caroline von Hessen-Darmstadt (1721–1774), von Goethe als „große Landgräfin“ bezeichnet, und Landgräfin Caroline von Hessen-Homburg (1746–1821). Die von ihnen überlieferten Bücherverzeichnisse waren für die Versteigerung ihres Besitzes nach dem Tode, das heißt zur Schuldentilgung, gedacht, wurden aber außer von „Fürstin Max“ und der Pfälzer Herzogin von den anderen schon bei Lebzeiten als „catalogue“ ins Werk gesetzt, der nach Format, teilweise auch schon nach Sachgruppen und Sprachen angeordnet war. Er erleichterte den Umgang mit den Büchern, unterstrich aber auch deren repräsentative Funktion. So enthielt das handschriftliche Verzeichnis der „großen Landgräfin“ 2.611 Titel, das ihrer Tochter 2.124; beide waren es auch, die das Gelesene exzerpierten. Inhaltlich war die Sammlung der „Fürstin Max“ – 311 Titel – an französischer, meist galanter Literatur orientiert; das Verzeichnis liegt als einziges als zeitgenössischer Druck vor. Die Bibliothek der Herzogin enthielt vorwiegend religiöse Literatur, die ihrer Tochter vor allem „verbotene“ Autoren. Bei allen Leserinnen lässt sich ein starkes Interesse an Frauenliteratur ausmachen, von Mme de Pompadour bis zu Sophie von La Roche.

Einen gerade für Außenstehende hoch interessanten Einblick in die Bücherschätze eines Klosters bot JOHANN FRIMMELs (Wien) Referat über den „Wandel im katholischen Leseverhalten im 18. Jahrhundert am Beispiel des Stiftes Melk und seiner Bibliothek“. Die jetzigen Barockräume für die herrliche Bibliothek waren 1735 fertig gestellt. Sie wurden insbesondere im 18. Jahrhundert Zeugen des Wandels im Geschmack, wie aus den Rechnungen zwischen 1763 und 1789 hervorgeht: Nach 1779 wurden nur mehr 17 % Theologica angeschafft; die Naturwissenschaften und Belletristik nahmen zu. Zudem war den Benediktinermönchen privater Buchbesitz eingeschränkt erlaubt. Insgesamt betrieben die Klöster eine gezielte Sammelpolitik; Melk zählte gegen Ende des 18. Jahrhunderts etwa
24.000 Bände. Dabei ging die Aufklärung auch am Klosterbereich nicht spurlos vorüber: Um etwa den Erwerb der neuen Enzyklopädien zu ermöglichen, wurden in den 80-er Jahren von jungen Bibliothekaren ältere Bestände (Predigtliteratur u.ä.) in Wien auf Auktionen verkauft. Neues wurde ohne konfessionelle Grenzen erworben, darunter Wieland, Kant, Nikolais Reiseberichte, Goethes Werther, Richardsons Pamela, ja sogar Freimaurer- und Illuminatenliteratur. Die „erweiterte Pressefreiheit“ Josephs II. ermöglichte gegen Ende des Jahrhunderts dann eine noch bessere Versorgung durch Buchhändler.

KATHRIN PAASCH (Gotha) beendete den ersten Tag des Arbeitsgesprächs mit einem Referat über „Erfurter Bibliotheken und ihre Benutzer zur ‚Dalbergzeit’ 1772–1802“. Unter Carl Theodor von Dalberg (1744–1817), der 1772 in Erfurt kurmainzischer Statthalter wurde, erlebte die Stadt auch wegen ihrer Zweikonfessionalität eine neue kulturelle Blüte; neben der katholischen Universität und zwei konfessionellen Gymnasien gab es 8 Verlags-Druckereien, 4 Buchhandlungen und 18 verschiedene Bibliotheken. Dalberg stiftete seine eigene Sammlung – Goethe sprach von einem „furchtbaren Zudrang von literarischen Zuwendungen“ – bei seinem Weggang den beiden Gymnasien. Die Bibliothek des evangelischen „Ministeriums“ umfasste 2.500 Bände, und obwohl die Leopoldina nach Halle verlegt wurde, verblieb ihre Sammlung mit 4.500 Büchern bis 1805 in Erfurt. Die Akademie der Wissenschaften mit 240 Mitgliedern (davon 213 fremden) hatte ihre eigene Bibliothek; die Universität, „schon im Todesschlummer“, besaß gleichfalls ihre eigene Sammlung mit 20.600 Titeln in 35.000 Bänden, darunter vielen französischen Werken. Dazu kam die Jesuitenbibliothek. All dem jedoch sollte die Säkularisation ein Ende bereiten: es erfolgte die Überführung der Klosterbibliotheken in die Preußische Staatsbibliothek, und nach Schließung der Universität wurde auch deren große Sammlung dort einverleibt.

An eine der ersten Bibliotheken der Neuen Welt führte am folgenden Morgen DAVID WHITESELL (Worcester, Massachusetts), der über “Student and Faculty Use of the Harvard College Library, 1762–1764: Reassessing the Relevance of Colonial American College Libraries“ referierte. Er legte dar, dass die Bibliotheken der neun vor dem Unabhängigkeitskrieg gegründeten Colleges dasselbe unausgeglichene Schicksal teilten: Sie wuchsen nur langsam und unsicher an, wobei großzügige Stifter manchmal fehlende interne Bücheretats ausglichen. Kleine, unausgewogene und oft nur teilweise relevante, theologie-lastige und veraltete Sammlungen waren nur wenigen zugänglich, und die College-Studenten selbst hatten meist nur über ihre Professoren Zugriff zu den Büchern. Im Falle der Bibliothek des Harvard College ist es ironischerweise so, dass ausgerechnet der verheerende Brand von 1764 die Abfassung zweier heute wertvoller Dokumente zur Folge hatte, mit deren Hilfe die Bibliothek genauer analysiert werden kann: Das eine betrifft die aus dem Feuer geretteten Bücher, “A List of the Books belonging to the late Library of Harvard College that […] escap’d the flames“, eine Aufstellung von 404 Bänden (obwohl Whitesells eigene Recherchen ergaben, dass wohl an die 750 verblieben). Das zweite Dokument, das “Library Account Book“, enthält die offiziellen Ausleihdaten für die akademischen Jahre 1762 und 1763 (also bis zum Brand im Januar 1764) sowie das Verzeichnis aller noch offenen Ausleihvorgänge. Für sein Referat trug Whitesell die 1.345 Einträge in dem Ausleihregister in eine Datenbank ein, identifizierte jedes Buch nach Autor, Titel, Erscheinungsdatum und Ausgabe, was ergab, dass mindestens 681 verschiedene Ausgaben in dem Register enthalten sind, die David Whitesell abschließend nach verschiedensten Gesichtspunkten bibliotheks-statistisch auswertete.

Nach diesem Exkurs in die Bibliothekslandschaft der Neuen Welt leitete BRITTA KLOSTERBERGs (Halle) Referat über zu den Lesern der Bibliothek des Halleschen Waisenhauses. Heute sind die hervorragend restaurierte (Kulissen-)Bibliothek (erbaut 1728 und damit eines der ältesten Bibliotheksgebäude Deutschlands) und die Naturalienkammer die einzigen historischen Relikte. Bei Francke selbst finden sich nur sporadische Äußerungen zur Schaffung einer Büchersammlung; 1698 erfolgte eine erste Stiftung, die er der „göttlichen Providenz“ zuschrieb. Im Gegensatz zu manch anderer Bibliothek war die des Waisenhauses zunächst gut zugänglich; um 1717 war sie täglich sechs Stunden geöffnet, auch für Schüler der Anstalt, für die es keine Hausausleihe gab. Um die Jahrhundertmitte umfasste die Sammlung mehr als 18.000 Bücher – und damit mehr als die der Universitätsbibliothek; zu dieser Zeit wurde die Öffnung auf zwei Tage in der Woche reduziert. Mit dem zunehmenden Einfluss des preußischen Staates ging die Zuständigkeit für die Bibliothek 1833 an die Verwaltung in Braunschweig über, was auch eine Absonderung der Schulbibliothek von der Hauptbibliothek mit sich zog. An den Stiftungen wurden im 19. Jahrhundert dann Kataloge für jede Schule gedruckt, so etwa 1833 für die Kinderbibliothek.

An die Dresdener Bibliothek führte das Referat von TORSTEN SANDER (Dresden) über „Friedrich Adolf Eberts Reform der Benutzung an der Königlichen Öffentlichen Bibliothek Dresden (1814–1834)“. Ebert, der 1834 durch einen Fall von einer Bücherleiter mit nur 43 Jahren ums Leben kam, sah nach seiner Ernennung zum Sekretär der Königlichen Bibliothek deren Aufgabe in zweifacher Hinsicht: Er betonte den Dienstleistungscharakter öffentlicher Sammlungen und sah seine Geschäftsführung als Grundlage der Bibliothekswissenschaft an, auf deren Gebiet er Großartiges leistete. In seiner Auffassung zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab; im 19. Jahrhundert glaubte er, die „Tätigkeit des Bibliothekars gehöre jetzt eher der Nachwelt an“. Die Dresdener Bibliothek war schon vor Eberts Amtsantritt seit 1806 öffentlich, wurde jedoch erst 1826 an die Universität angebunden. Zu diesem Zeitpunkt enthielt sie 170.000 Bände. Der Lesesaal war 20 Stunden in der Woche geöffnet; Schwerpunkt war jedoch die Hausausleihe. Nach Eberts Ernennung zum Oberbibliothekar (1825) änderte er die Benutzerordnung hin zum wissenschaftlichen Nutzer, schränkte zwar wegen steigender Leserzahl bei reduziertem Personal die Öffnungszeiten etwas ein, ermöglichte jedoch Fernleihe und erweiterte im November 1826 das Lesezimmer. Sein wichtigstes Ziel jedoch war und blieb die Katalogisierung der Bestände, die er in enger Verbindung mit der Dresdener Wunderkammer sah.

In die Mitte des 19. Jahrhunderts wies abschließend das Referat von CLAUDIA FABIAN (München) über „Neue Herausforderungen an die Benutzung der Königlichen Hofbibliothek zu München durch die Bücherfluten der Säkularisation (Situation um 1830/1850)“. Fabian umriss den kaum zu bewältigenden Zuwachs der Bibliothek, die um 1800 ca. 70.000 Bände und 2.000 Handschriften umfasste, nach 1803 jedoch einen Zuwachs von 450.000 Büchern und 18.600 Handschriften verzeichnete. Dazu kam fast gleichzeitig die Überführung der Mannheimer Bibliothek, was ein weiteres Anwachsen um 80–100.000 Bände bedeutete, so dass die Hofbibliothek um die Mitte des 19. Jahrhunderts etwa 800.000 Bände enthielt, wovon 200.000 im Speicher der St. Michaelskirche ausgelagert, aber nach zweitägiger Bestellfrist erhältlich waren. Unter Johann Philipp von Lichtenthaler (1778–1857), der ab 1826 fast dreißig Jahre die Geschicke der Bibliothek leitete, wurde 1840 ein Katalog aller Bestände in 57 Bänden fertig gestellt; Johann Andreas Schmeller (1785–1852), der Begründer der Mundartforschung in Deutschland, sichtete 1840 als Unterbibliothekar in vier Monaten
16.000 Handschriften und verzeichnete 2.000 Inkunabel-Dubletten. Nach einer zehnjährigen Sperre der Hausausleihe (1789–1799) wurde diese bis 1881 auch für Handschriften aufgehoben. Eine noch auszuwertende Quelle der Königlichen Hofbibliothek sind die sog. „Fremdenbücher (für erlauchte fürstliche Personen)“, die von 1783–1804 und 1812 bis 1918 existieren und einen faszinierenden Einblick in die erlauchten Besucher dieser im Jahre 2008 ihr 450-jähriges Jubiläum feiernden Institution erlauben.

Der Ertrag dieses Arbeitsgesprächs ist beträchtlich. Neben interessanten Vergleichen der „Benutzer-Gesetze“ mit ähnlichen Ausleihfristen, der überraschenden Reduzierung von Öffnungszeiten an den Bibliotheken von Halle und Dresden, des frappierenden Einzugs der Aufklärung hinter Klostermauern wurde in der Abschlussdiskussion die Frage aufgeworfen, seit wann man eigentlich von öffentlichen Bibliotheken sprechen könne. Ein weiteres im Zusammenhang mit dieser Tagung in den Vordergrund gerücktes Desiderat ist die Frage nach einem Vergleich der vorhandenen Ausleihjournale, der sich zumindest für einige der vorgestellten Bibliotheken durchführen ließe. Die Ergebnisse des Arbeitsgesprächs werden in einem Themenband der Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte voraussichtlich 2009 veröffentlicht.

Konferenzübersicht:

Bibliotheken und ihre Nutzer—der Zugang zu Buchbeständen von 1650-1850

Gerhard F. Strasser/Thomas Stäcker: Begrüßung

Thomas Stäcker: Der Gelehrte der frühen Neuzeit als Nutzer in der Herzoglichen
Bibliothek zu Wolfenbüttel

Helmut Rohlfing: Göttinger Ausleihjournale als Quellen der Bibliotheksbenutzung

Rosmarie Zeller: Die schöngeistigen Lektüren Ulrich Bräkers, eines schweizerischen
Bauern und Baumwollhändlers

Gerhard F. Strasser: Die Leseintentionen von Wolfenbütteler Lehrern und Schülern im 17. und 18. Jahrhundert

Helga Meise: Fürstinnenbibliotheken des 18. Jahrhunderts: Traditionen, Gebrauchs-
spuren, Funktionen

Johannes Frimmel: Wandel im katholischen Leseverhalten im 18. Jahrhundert am
Beispiel des Stiftes Melk und seiner Bibliothek

Kathrin Paasch: Erfurter Bibliotheken und ihre Benutzer zur „Dalbergzeit“ 1772-1802

David R. Whitesell: Student and Faculty Use of the Harvard College Library, 1762-1764: Reassessing the Relevance of Colonial American College Libraries

Britta Klosterberg: Die Leser der Bibliothek des Halleschen Waisenhauses

Torsten Sander: Friedrich Adolf Eberts Reform der Benutzung an der Königlichen
Öffentlichen Bibliothek Dresden (1813-1834)

Claudia Fabian: Neue Herausforderungen an die Benutzung der Königlichen
Hofbibliothek zu München durch die Bücherfluten der Säkularisation (Situation um 1830/50)

Kontakt

Dr. Volker Bauer

Herzog August Bibliothek Postfach 1364 38299 Wolfenbüttel

bauer@hab.de


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