Leibniz als Sammler und Herausgeber historischer Quellen

Leibniz als Sammler und Herausgeber historischer Quellen

Organisatoren
Nora Gädeke; Herzog August Bibliothek
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2007 - 10.10.2007
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Von
Nora Gädeke, Leibniz-Archiv, Niedersächsische Landesbibliothek Hannover

Vom 8. bis zum 10. Oktober 2007 fand im Bibelsaal der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ein Arbeitsgespräch über "Leibniz als Sammler und Herausgeber historischer Quellen" statt. Aus aktuellem Anlass und mit besonderem Wolfenbüttel-Bezug: 1707 erschien der erste Band von Leibniz' großer (dreibändiger) Quellensammlung zur welfischen und niedersächsischen Geschichte, der Scriptores rerum Brunsvicensium; ihre Vorlagen wie die seiner früher erschienenen Quellenwerke (Codex juris gentium diplomaticus 1693 und 1700, Historia arcana seu Excerpta ex diario Johannes Burchardi 1697, Accessiones historicae 1698) entstammten zu einem guten Teil der Bibliotheca Augusta zu Wolfenbüttel, die Leibniz seit 1691 leitete. Die Scriptores verdanken ihre Entstehung auch einer anderen dienstlichen Tätigkeit des Universalgelehrten: seiner Arbeit an einer im Auftrag des welfischen Gesamthauses abgefassten quellengestützten Hausgeschichte, als Quellenbasis und als Vorleistung für dieses Werk (Annales Imperii Occidentis Brunsvicenses), das Leibniz nach jahrzehntelanger Arbeit unvollendet zurücklassen sollte. Das Thema gehört also in den Kontext seiner Tätigkeit für die Welfenhöfe, und vor allem ist es Teil des Themas "Leibniz als Historiker". Leibniz' Editionen und seine weit darüber hinausreichenden Quellensammlungen stehen für sein historiographisches Credo, dass Geschichtsschreibung und historische Argumentation überhaupt sich auf kritisch geprüfte Quellen zu stützen habe. Die Grundlage – Sammlungs- und Erschließungsarbeit – steht im Spannnungsfeld zunehmender Anerkennung dieses neuen Standards historischer Darstellung und zeitgemäßer Zugangs- und Erschließungsbeschränkungen angesichts der möglichen Instrumentalisierung von Quellen in bella diplomatica. Neben den reichen Beständen der Bibliotheca Augusta spiegeln Leibniz' Editionen seine Quellensuche: als "reisender Historiker" vor Ort und als Nutznießer seines weitgespannten Korrespondentennetzes. Damit gehört das Thema auch in den Kontext der Kommunikation in der Gelehrtenrepublik – und in den von Leibniz' Rolle als einer ihrer peers. Seit dem Erscheinen des Codex juris gentium wird sein Ansehen dort in hohem Maße von den Editionen mitgetragen, und anders als mit dem größten Teil seines Oeuvre war er mit ihnen bereits zu Lebzeiten in der Öffentlichkeit präsent. Schließlich beinhalten die Editionen zentrale Quellen zur mittelalterlichen Geschichte (und manche editio princeps); in den Scriptores finden sich sogar Texte, die bis heute nur hier ediert sind: als Sammler und Herausgeber historischer Quellen teilt Leibniz sein Material auch mit der heutigen Mediaevistik und ist Teil ihrer Vorgeschichte. Das Thema bietet damit Zugang aus unterschiedlichen Perspektiven, der Leibnizforschung wie der Mediaevistik, der Historiographiegeschichte wie der Kommunikationsforschung, der politischen wie der Kirchengeschichte, der Textgeschichte wie der Geschichte der historischen Hilfswissenschaften. Vor allem aus Mediaevisten und Leibnizforschern rekrutierte sich der Kreis der Teilnehmer. Ergänzt wurden die Referate durch eine Präsentation der "materiellen" Grundlage von Leibniz' Editionen, einer Reihe von Handschriften der Herzog August Bibliothek, nach denen Leibniz ediert bzw. die er benutzt hatte, durch den Leiter der Handschriftenabteilung, Christian Heitzmann.

Die Leiterin der Tagung, NORA GÄDEKE (Leibniz-Archiv Hannover), stellte einleitend die einzelnen Quellenwerke vor und umriss Forschungsstand, Programm und Zielsetzung. Das Oberthema "Leibniz als Historiker", trotz grundlegender Einzeluntersuchungen in der Leibnizforschung unterrepräsentiert, findet in den letzten Jahren zunehmend Interesse. Auch wenn die Bearbeitung der historischen Schriften in der historisch-kritischen Leibnizedition (getragen von den Akademien der Wissenschaften zu Göttingen und zu Berlin-Brandenburg) immer noch aussteht: das Voranschreiten der Reihen I (Allgemeiner, historischer und politischer Briefwechsel) und IV (Politische Schriften) hat die Materialbasis in den letzten Jahren erheblich verbreitert. Eine vor wenigen Jahren erschienene Auswahledition von Leibniz' Schriften und Briefen zur Geschichte hat die Zugänglichkeit weiterer Texte erhöht. In Einbringung einer bestimmten Perspektive – der (im weitesten Sinne) hilfswissenschaftlichen Seite historischen Arbeitens – sollte die Tagung weniger einer Bilanz als einer Überprüfung des bisherigen Bildes vom Historiker Leibniz dienen. Die Wahl des Themas brachte es mit sich, dass Fragen zu Geschichtsdenken und historischer Narration weitgehend auszublenden waren. Im Mittelpunkt sollte vielmehr die Basisebene historischen Arbeitens stehen: Quellenbegriff (und -einsatz), Sammlung und Präsentation. Die Bedeutung einer systematisch gewonnenen Quellengrundlage als Voraussetzung für die historische Argumentation und der Bereitstellung von Quellentexten und Erschließungsinstrumenten, die Leibniz nicht nur in den Vorworten zu seinen Editionen, sondern auch in mehreren Denkschriften propagiert, sollte exemplifiziert und konkretisiert werden, an Fallbeispielen und für bestimmte Überlieferungen, im Blick auf Vorgänger und die Kommunikation mit zeitgenössischen Editoren, in der Frage nach Leitlinien hinter der Quellensuche und -edition, vor dem Hintergrund eines Kommunikationssystems, das vom Ideal der "générosité" geprägt ist, das aber auch Einschränkungen und Grenzen kennt. Sowohl die Bedeutung der Editionen für Leibniz' öffentliche Präsenz als auch ein in Untersuchungen zu den Annales Imperii jüngst erkennbar gewordener Quelleneinsatz, der dem 20. Jahrhundert näher als dem 19. Jahrhundert zu stehen scheint, ließ eine Einbeziehung der Wirkungsgeschichte angeraten sein. Wenn die Referate auf die Sektionen Quellenbegriff, Quellensuche und Wirkungsgeschichte verteilt waren, so waren Rückbezüge und Verflechtungen intendiert.

Vor dem Hintergrund der Erweiterung des historischen Quellenbegriffs auf Sach- und Bildzeugnisse und der derzeitigen Diskussion in den Kulturwissenschaften über deren Quellenwert behandelte STEPHAN WALDHOFF (Leibniz-Editionsstelle Potsdam) in seinem Vortrag "Zu Leibniz' Umgang mit Sach- und Bildquellen" deren Einbeziehung in Leibniz' Material für sein opus historicum und seine historisch-politischen Denkschriften. Seine Sammlungstätigkeit auf diesem Gebiet hat sich in Abzeichnungen und Kupferstichen, aber auch in seinem "Zettelkasten" niedergeschlagen. Was Leibniz' Gebrauch von bildlichen Darstellungen und Artefakten unterschiedlicher Art (Miniaturen, Siegel, Grabmonumente usw.) als Sach- und Bildquellen von der bloßen Illustration einerseits und antiquarischer Verhaftung an das Artefakt andererseits unterscheidet, ist ihr den Schriftquellen gleichberechtigter Einsatz in der historischen (und politischen) Argumentation. Dies zeigt sich etwa in der Frage nach der Herkunft des welfischen Wappenlöwens und Löwenepithetons wie auch in der Auseinandersetzung um die württembergische Reichssturmfahne. In der Interpretation der von württembergischer Seite in die Debatte eingeführten Bildzeugnisse verbindet Leibniz einen ikonographischen Zugang mit Ansätzen zu einer Quellenkritik der Sach- und Bildquellen, die der Kritik der Schriftquellen durchaus vergleichbar ist. Es bleibt zu fragen, wieso dieser selbstverständliche Umgang mit Sach- und Bildquellen in der Folgezeit verlorengegangen ist und von den Historikern erst heute wieder mühsam erlernt werden muss.

KLAUS GRAF (Hochschularchiv Aachen) stellte in seinem Vortrag über "Ladislaus Sunthaim und die Welfenquellen bei Leibniz" (http://archiv.twoday.net/stories/4349225/) den Wiener Kanoniker aus dem Umfeld Kaiser Maximilians I. als einen der ersten Vertreter einer wissenschaftlichen Genealogie in der frühen Neuzeit und damit Leibniz' Vorläufer in der Erarbeitung einer quellenbasierten Dynastengenealogie dar. Vorläufer war Sunthaim auch in der Verkörpung des Typs des "reisenden Historikers", der seine Quellen vor Ort suchte (zu denen er, in einer Zeit, in der Quellen noch nicht einem Arcanbereich zugeordnet waren, leichter Zugang fand als im 17. Jahrhundert) und ebenso in einem weit gefassten Quellenbegriff, der außer Texten auch Sach- und Bildzeugnisse umfasst. Zu seiner im Zuge einer "Welfenrenaissance um 1500" entstandenen Welfengenealogie (zu der nach Graf eine anonym überlieferte Summula de Guelfis hinzukommt) bietet noch immer Leibniz' editio princeps in den Scriptores den einzigen gedruckten Zugang; dort freilich nur als Anhang zur Historia Welforum und auf die (weitgehend darauf beruhenden) Kapitel zu den frühmittelalterlichen Welfen beschränkt, während die bis in Sunthaims Gegenwart reichenden selbständigen Passagen weggelassen sind.

Eine weit über die Historie im eigentlichen Sinn hinausreichende Bedeutung von Quellensammlung und -kritik für Leibniz, die zugleich zentralen Positionen seines Denkens entspricht, zeigte HARTMUT RUDOLPH (Leibniz-Editionsstelle Potsdam) in seinem Vortrag "Die kirchengeschichtlichen Quellen in Leibniz' ökumenischer Argumentation" auf. Ebenso wie die Profangeschichte benötigt die Kirchengeschichte akribische, kritische Quellensammlungen. Leibniz postuliert, dass die Authentizität der biblischen Bücher eines "aliunde probari" bedürfe, nämlich "ratione et historia". Damit wird die Quellenkritik Basiswerkzeug auch der Theologie. Ihren Einsatz und den der Kirchengeschichte im interkonfessionellen Dialog sieht Leibniz weniger im Sinne traditioneller konfessioneller Apologetik, als vielmehr dem einer von den Positionen der Dialogpartner unabhängigen Instanz, eines Instruments der Ordnung eines (über einen irenischen Reduktionismus hinausgehenden) ökumenischen Prozesses und damit einer nachhaltigen Grundlage für eine angestrebte Reunion.

Aufgrund vielfältiger Belastungen musste FRIEDRICH BEIDERBECK (Leibniz-Editionsstelle Potsdam) seinen Vortrag über "Gelehrten-Netzwerke und Kommunikation in Europa. Leibniz‘ Kontakte zur République des lettres am Beispiel seiner Quellensuche zur Mantissa Codicis juris gentium" leider absagen.

Mit seinem Vortrag über "Leibniz' Kontakte in die Niederlande" behandelte MALTE-LUDOLF BABIN (Leibniz-Archiv Hannover) das Thema "Quellensuche" an einem Beispiel, das den Einsatz der Korrespondenz zur Informationsbeschaffung ebenso illustriert wie es deren Grenzen aufzeigt. Leibniz' vielfältige Kontakte in die Spanischen Niederlande und die Generalstaaten waren für sein historisches Arbeiten besonders fruchtbar. Zählt doch der Bollandist Daniel Papebroch in Antwerpen nicht nur zu seinen zentralen Beiträgern von Quellentexten, sondern auch zu den langjährigen Korrespondenten über historische Themen, wobei dieser Briefwechsel Unterschiede im Quellenbegriff ebenso spiegelt wie gelegentliche konfessionelle Spannungen und die Schwierigkeiten der Briefübermittlung. Nah an der Quellenarbeit ist auch die Korrespondenz mit dem reformierten Konvertiten Casimire Oudin in Leiden; Adressat nicht nur von Leibniz' Plan der Scriptores, sondern vor allem von zahlreichen Detailfragen. Bezeichnenderweise kommt die Korrespondenz nahezu zum Erliegen, nachdem Oudin aufgrund von Benutzungseinschränkungen der Leidener Universitätsbibliothek keinen direkten Zugang zu deren Handschriften mehr hat. Sprachliche Quellen zur Geschichte des nördlichen eurasischen Raumes liefert der mehrmalige Amsterdamer Bürgermeister Nicolaas Witsen. Leibniz' Interesse für diese Quellen, in denen er den Schlüssel zur Kenntnis einer schriftlosen Frühzeit zu finden hofft, wird von Witsen mit Vaterunser-Versionen und ethnographischen Auskünften reichlich bedient; einige seiner Texte sollten Eingang in Leibniz' postum veröffentlichte Edition zur Sprachgeschichte, die Collectanea etymologica (1717), finden.

Quellensuche direkt im Dienste der Welfen behandelte SVEN ERDNER (Leibniz-Gesellschaft Hannover) im Vortrag über "Leibniz und Muratori auf der Suche nach den welfischen Vorfahren". Leibniz' zentrales Ergebnis seiner Italienreise, der Quellenfund für den Nachweis der Vorfahrenschaft Markgraf Azzos von Este für die "jüngeren Welfen", war nur ein Etappenziel. Bereits im Vorfeld seiner Beauftragung mit der Hausgeschichte hatte er zur Zielvorgabe einer nach den neuen Standards der Quellenkritik zur erarbeitenden Welfengenealogie deren Rückverfolgung bis um das Jahr 600 erklärt. Es sollte die Suche nach den Azzo-Vorfahren sein, die ihn jahrzehntelang beschäftigte: zunächst als missing link zu den Karolingern, und, nach Widerlegung der eigenen Hypothese, zu italienischen Magnaten des 9. Jahrhunderts, den Markgrafen von Tuscien. Im Zuge der kritischen Auswertung der Überlieferung sieht Leibniz sich prinzipiell ähnlichen Problemen gegenüber wie die heutige Adelsforschung: im Zeitalter der Einnamigkeit vom bloßen Namen zu einer in einen historischen Zusammenhang einzuordnenden Person zu kommen. Er begegnet ihnen auf ähnliche Weise wie die Prosopographie des 20. Jahrhunderts: im Falle fehlender (oder dubioser) direkter Aussagen mit einem Indizienbeweis aus einem Netz von quellengestützten Einzelinformationen. Nach der Erweiterung der ihm vorliegenden Basis verlässlicher Quellen zu den italienischen Markgrafen strebt Leibniz gezielt, aber lange Zeit weitgehend vergeblich. Bis auf die (in den Scriptores edierte) Chronik Arnulfs von Mailand werden ihm, trotz vielfältiger Bemühungen, nach der Italienreise kaum noch neue Quellen zuteil. Hier kommt seit 1708 die Korrespondenz mit Ludovico Antonio Muratori ins Spiel, der in Modena an einer quellenbasierten Genealogie des Hauses Este arbeitet. Leibniz' Hoffnung, von dessen besserem Quellenzugang zu profitieren, erfüllt sich nicht in seinem Sinne: aus der parallelen Aufgabenstellung entwickelt sich die anfängliche Zusammenarbeit rasch zur Konkurrenz. Sie führt zur Eskalation, nachdem Leibniz feststellen muss, dass Muratori Ergebnisse hat, die ihm selbst schon zuvor vor Augen gestanden hatten, aber aufgrund der fehlenden Quellenbasis hypothetisch bleiben mussten – ein weiterer Prioritätsstreit, dessen volle Brisanz freilich nicht mehr zum Tragen kommt.

Mit der schwierigen Quellensuche in Italien befasste sich auch MARGHERITA PALUMBO (Biblioteca Casanatense Rom) in ihrem Vortrag über "Die römische Kurie und Leibniz' Editionen". Leibniz' jahrzehntelange Suche nach Quellen und Handschriftenkatalogen der vatikanischen Bibliothek (insbesondere der Palatina) als einem veritablen "thesaurus" für die historische Forschung nachzeichnend, stellte sie eine Diskrepanz zwischen seiner wohlwollenden Aufnahme an der Kurie während des Rom-Aufenthaltes 1689 und der Vergeblichkeit der meisten seiner späteren Unternehmungen zur Materialbeschaffung fest. Den Grund dafür sieht Palumbo in Leibniz' seit der Jahrhundertwende fundamental gewandeltem Ansehen im Vatikan: als Folge seiner Editionstätigkeit. Das 1697 edierte Diarium des päpstlichen Zeremonienmeisters Burchard führte bekanntlich 1703 zu seiner Verurteilung durch die Indexkongregation. Ein bisher im Archiv der Kongregation für die Glaubenslehre verborgenes "Protocollum", das hier erstmalig präsentiert wurde, enthält eine detaillierte Begründung: mehr noch als eine Grenzüberschreitung in der Veröffentlichung von "gesta pontificum" durch einen "Häretiker" und die Verunglimpfung des Papsttums durch den Text ist es ein Leibniz unterstellter Vertrauensbruch gegenüber der Kurie. Denn als Textgrundlage der Edition (deren Herkunft Leibniz dem Leser verschweigt) wurde eine vatikanische Handschrift vermutet, deren Abschrift in Missbrauch der ihm 1689 gewährten großzügigen Bibliotheksbenutzung man ihm jetzt zur Last legte: tatsächlich stammte Leibniz' Druckvorlage aber aus der Bibliotheca Augusta zu Wolfenbüttel.

In seinem Vortrag über "Johann Georg Eckhart als Verwerter von Leibniz' Kollektaneen" brachte THOMAS WALLNIG (Institut für Österreichische Geschichtsforschung Wien) eine neue Bewertung der Verwendung von Leibniz' Quellensammlungen in den Editionen seines Amanuensis und engsten Mitarbeiters an der Hausgeschichte in die Diskussion. Wenn man Auftrag und Entstehungsbedingungen der historia domus betrachtet, kann man in den Materialsammlungen und den Annales Imperii das Produkt einer kollektiven Geschichtswerkstatt sehen, die unter dem Namen und der Regie eines Protagonisten läuft (entsprechend etwa den Magdeburger Centuriatoren mit Flaccius Illyricus oder den Maurinern mit Mabillon). Leibniz' Kollektaneen ebenso wie die Hausgeschichte wären damit weniger als sein geistiges Eigentum, als vielmehr als das der Werkstatt im fürstlichen Auftrag anzusehen. Diese Sichtweise relativiert die Kritik an seinem Einsatz von Hilfskräften bei der Herstellung der Editionen ebenso wie den immer wieder (und zum Teil wohl zu Recht) gegenüber Eckhart erhobenen Plagiatsvorwurf. Wenn Eckhart ihn im umgekehrten Sinn – mit dem Anspruch eigener Autorschaft – ins Spiel bringt, sieht Wallnig darin vor allem sein Verkennen der Struktur dieses Arbeitsverhältnisses, einer nicht von der Vorgabe von Gleichrangigkeit (dem Ideal der Gelehrtenrepublik entsprechend), sondern von Asymmetrie, nämlich einem Patronus-Cliens-Gefälle, geprägten Beziehung. Neben dieser sich durch die Perspektive der Patronageforschung eröffnenden Bewertung der Arbeitsbeziehung zwischen Leibniz und seinem Mitarbeiter und Nachfolger, neben einem neuen Blick auf Leibniz' Editionspraxis stellt sich damit auch für die Annales Imperii als einem Leibniz-Werk die Frage einer Neubewertung.

MARTINA HARTMANN (Universität Heidelberg) behandelte im Vortrag " ... die Arbeit seines Lebens dem Gedächtnisse entschwunden... Der MGH-Präsident Georg Heinrich Pertz als Editor von Leibniz' Annales Imperii Occidentis Brunsvicenses" die Rezeption von Leibniz' Quellenwerken wie seiner Quellenbehandlung in den Annales Imperii in der sich institutionalisierenden Mediaevistik des 19. Jahrhunderts. Hatte Georg Heinrich Pertz, langjähriger Präsident der Monumenta Germaniae Historica und zugleich Herausgeber der Annales Imperii, anlässlich des Erscheinens von deren erstem Band in einer Berliner Akademie-Rede noch Nutzen und Bedeutung von Leibniz' Quelleneditionen für die MGH hervorgehoben, so sollte sich dessen Nennung in späteren MGH-Ausgaben weitgehend auf die Kritik an Lesefehlern beschränken. In den Jahrbüchern der deutschen Geschichte kommt den Annales Imperii immerhin eine gewisse Bedeutung zu; gleichzeitig sind es die - im Aufbau ähnlichen, im Zeitrahmen umfassenderen, und vor allem auf deutsch verfassten – Jahrbücher, die eine weitergehende Rezeption der Annales verhindert haben dürften. Tatsächlich lassen Hartmanns Stichproben erkennen, dass die Annales hinsichtlich Quellengrundlage und -kritik keinesfalls hinter den Jahrbüchern zurückstehen; das Beispiel der Fastrada-Überlieferung zeigt sogar Leibniz im Besitz von Ergebnissen, die erst vor wenigen Jahren erneut erbracht wurden.

Im Vortrag VOLKHARD HUTHS (Institut für Personengeschichte Bensheim) über "Leibniz' Umgang mit Memorialquellen aus Sicht der heutigen Memorialforschung" stand eine Quellengattung im Mittelpunkt, die, scheinbar erst im 20. Jahrhundert von der historischen Forschung in ihrem Quellenwert entdeckt, bereits in den Scriptores mit einigen Zeugnissen (darunter den Fuldaer Totenannalen) präsent ist: die Memorialüberlieferung. Huth zeichnete die sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts rasch entwickelnde Erforschung dieser Zeugnisse nach: von einer anfänglichen Ausbeute für die Prosopographie des frühmittelalterlichen Adels über die Ausweitung auf die Namenkunde zu einer neuen Sicht auf die frühmittelalterliche Gesellschaft einerseits, die Erforschung der monastischen Gemeinschaften andererseits, die schließlich, über die Feststellung des "Sitzes im Leben" dieser Quellengattung, zur Memoria als Grundphänomen mittelalterlichen Lebens führt. Leibniz scheint Funktion und Kontextgebundenheit dieser Zeugnisse durchaus erkannt zu haben. Sein Umgang damit beschränkt sich, im Vergleich, aber auf Prosopographie und Namenkunde. In den Annales Imperii werden die Memorialquellen vor allem für die Rekonstruktion von Dynasten- und Landesgeschichte eingesetzt; in den Scriptores sind sie auszugsweise, auf diesen Zweck konzentriert, wiedergegeben: die Geschichte der klösterlichen Gemeinschaften bleibt unberücksichtigt. Es sind vor allem Chronologie und Genealogie, in Leibniz' Augen die zentralen Ordnungssysteme auf der Suche nach "exactitude" in der historischen Kritik, für die die Memorialquellen ihm bei der praktischen Arbeit die nötigen Parameter bereitstellen.

Neben dem Erweis der grundlegenden Bedeutung von Quellenarbeit zur Ordnung des (nicht nur historischen) Diskurses stellte sich als Ergebnis der Referate und der intensiven Diskussionen eine Präzisierung und Differenzierung des Bildes vom Historiker Leibniz ein. Quellenbereitstellung gehörte für Leibniz zu den Grundvoraussetzungen jedes historischen Arbeitens; aber er hat nicht einfach planlos, antiquaristisch gesammelt und gedruckt, sondern konnte durchaus gezielt vorgehen – in der hartnäckigen Suche nach bestimmten Quellen ebenso wie in der Beschränkung auf Teildrucke, im Weglassen von Elementen, die für seine Fragestellung uninteressant waren. Insbesondere das Nachzeichnen von vergeblichen Bemühungen um bestimmte Quellen konnte das Bild von den Voraussetzungen der Quellenpräsentation erheblich erweitern. Die seit Horst Eckerts grundlegender Untersuchung zu den Scriptores das Bild vom Editor Leibniz bestimmende Kritik an seiner Editionstechnik und -praxis kam immer wieder auf den Prüfstand: mit einer Verschiebung von Eckerts individualisierender Erklärung auf eine zeittypische Ebene und vor allem mit der Einbringung des Werkstattbegriffs. Dieser ist es auch, der den dahinterstehenden fürstlichen Auftrag weit über den biographischen und lebensweltlichen Aspekt hinaus als archimedischen Punkt von Leibniz' opus historicum erscheinen lassen könnte, in einer abschwächenden Differenzierung des Begriffs vom "Autor". Deutlich wurden vielfältige Parallelen im Quellenbegriff wie im methodischen Umgang mit dem Material zwischen Leibniz und der heutigen Mediaevistik – aber auch Grenzen des Vergleichs. Jedenfalls wird man Leibniz nicht ohne weiteres zu den direkten "Vorfahren" der heutigen Mediaevistik rechnen können; der Kontinuitätsbruch im 19. Jahrhundert ist evident. Freilich ist eine eher indirekte Kontinuität nicht auszuschließen.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren sich einig, dass dieses Arbeitsgespräch äusserst ertragreich war. Eine Publikation des Tagungsbandes wäre wünschenswert.

Konferenzübersicht:

Nora Gädeke: Einführung
Stephan Waldhoff: Zu Leibniz‘ Umgang mit Sach- und Bildquellen
Klaus Graf: Ladislaus Sunthaim und die Welfenquellen bei Leibniz
Hartmut Rudolph: Die kirchengeschichtlichen Quellen in Leibniz‘ ökumenischer Argumentation
Malte-Ludolf Babin: Leibniz‘ Kontakte in die Niederlande
Sven Erdner: Leibniz und Muratori auf der Suche nach den welfischen Vorfahren
Christian Heitzmann: Handschriften-Präsentation
Margherita Palumbo: Die römische Kurie und Leibniz‘ Editionen
Thomas Wallnig: Johann Georg Eckhart als Verwerter von Leibniz‘ Kollektaneen
Martina Hartmann: „... die Arbeit seines Lebens ... dem Gedächtnisse entschwunden...“ Der MGH-Präsident Georg Heinrich Pertz als Editor von Leibniz‘ Annales Imperii Occidentis Brunsvicenses
Volkhard Huth: Leibniz' Umgang mit Memorialquellen aus der Sicht der heutigen Memorialforschung

Kontakt

Dr. Volker Bauer
Herzog August Bibliothek Postfach 1364 38299 Wolfenbüttel
E-Mail: <bauer@hab.de>


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