Deutsch-jüdische Geschichte ‚von innen’. Kontinuität und Wandel in den jüdischen Gemeinden und Institutionen (1800–1914)

Deutsch-jüdische Geschichte ‚von innen’. Kontinuität und Wandel in den jüdischen Gemeinden und Institutionen (1800–1914)

Organisatoren
Andreas Brämer, Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2007 - 10.10.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Johannes Valentin Schwarz, DFG-Graduiertenkolleg „Makom“, Universität Potsdam

Seit gut zweieinhalb Jahrzehnten schon erfreut sich das Forschungsfeld der deutsch-jüdischen Geschichte eines deutlich gestiegenen Interesses. Wurde einerseits die Geschichte des deutschen Judentums vor der Schoah im Rahmen der jüdischen Historiographie enttabuisiert, so berücksichtigten andererseits zunehmend auch allgemeine Geschichtswerke jüdische Themen als integralen Bestandteil der deutschen Geschichte. Die „Geschichte der Juden“ im deutschen Sprach- und Kulturraum wurde nun vielmehr als „deutsch-jüdische Geschichte“ verstanden und geschrieben, also weniger als eindimensionale „Beitragsgeschichte“, sondern als wechselseitige „Beziehungsgeschichte“ zwischen Juden und Nichtjuden.

Als Zwischenbilanz zahlreicher neuerer Einzelstudien legte das Leo Baeck Institute (LBI), das international führende Forschungsinstitut im Bereich der deutsch-jüdischen Geschichte, in den Jahren 1996/97 seine vierbändige „Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit“ vor.1 Im Vorwort zum Gesamtwerk umschrieb der Herausgeber MICHAEL A. MEYER die doppelte Perspektive und zugleich die Schwierigkeit, deutsch-jüdische Geschichte zum einen „von außen“ als eine „Geschichte der – politischen wie kulturellen – Integration in die deutsche Gesellschaft“, zum anderen „von innen“ als eine „Geschichte der jüdischen Gemeinschaft“ zu schreiben.2

Ein weiteres Jahrzehnt später scheint sich die Erforschung der lange vernachlässigten „inneren Geschichte des deutschen Judentums“ als eigenständiger Zweig der deutsch-jüdischen Historiographie etabliert zu haben, und so wagte sich das Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ) in Hamburg vom 8. bis 10. Oktober 2007 im Rahmen einer eigenen Konferenz erneut an eine Bestandsaufnahme.3 Dazu war es ANDREAS BRÄMER, dem stellvertretenden Direktor des IGdJ, als Initiator gelungen, eine ganze Reihe namhafter Expert/innen aus Deutschland, Österreich, Großbritannien, den USA und Israel zu gewinnen. Kooperationspartner waren die Wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaft des LBI sowie das Historische Seminar an der Universität Hamburg. Finanzielle Unterstützung wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung, der Karla und Alfred W. Adickes-Stiftung, der Behörde für Wissenschaft und Forschung und der Senatskanzlei der Freien und Hansestadt Hamburg gewährt.

Ausgehend von früheren Forschungen zur vormodernen jüdischen Gesellschaft – unter anderem von Jacob Katz oder Asriel Schochat4 – sollte die Frage ausgelotet werden, ob und wie sich auch nach der Krise des 18. Jahrhunderts die Geschichte der Kehilah, das heißt der jüdischen Gemeinde bzw. Gemeinschaft, als „jüdische Geschichte von innen“ fortschreiben lässt. Für die Zeit des „langen 19. Jahrhunderts“ bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges sollte in diachronem Längsschnitt sowohl Kontinuitäten als auch Brüchen bzw. Wandlungsprozessen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland nachgegangen werden.

Thematisch bewegte sich die Konferenz damit auf dem weiten Feld der jüdischen Gemeindeorganisation, des jüdischen Rabbinats bzw. Kantorats, der verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Strömungen zwischen Reform und Orthodoxie bzw. zwischen deutscher nationaler Zugehörigkeit und Zionismus, des modernen jüdischen Schul-, Presse- und Vereinswesens, einschließlich überregionaler Netzwerke, spezifisch jüdischer Berufsverbände oder internationaler jüdischer Organisationen. Der geographische Schwerpunkt lag auf dem Gebiet des (späteren) Deutschen Kaiserreichs, jedoch wurden vergleichend auch Beiträge zu anderen deutschsprachigen Regionen, insbesondere Österreich-Ungarn, einbezogen. Weitere komparative Perspektiven ergaben sich durch den entsprechenden Blick auf interne Entwicklungen und Debatten auf katholischer bzw. protestantischer Seite.

In seinem einleitenden Referat „Jewish History ‘from Within’“ umriss ANDREAS BRÄMER nochmals den inhaltlich-methodischen Rahmen der Konferenz: Integrative und segregative Aspekte jüdischer Existenz, zentrifugale und zentripetale Bewegungen seien in der Forschung der letzten Jahrzehnte getrennt oder auch gemeinsam untersucht worden, jedoch sei dabei meist nicht die „die Innenwelt jüdischer Gemeinden als Ausgangspunkt der Analyse“ gewählt worden. Eine „deutsch-jüdische Geschichte von innen“ habe viel mehr die Kontinuität der sozialen, religiös-kulturellen und (über)gemeindlichen Selbstorganisation der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland in den Blick zu nehmen, die sich beim Übergang in die Moderne – trotz aller Brüche und Diskontinuitäten – weiterhin in einem „eigenen deutsch-jüdischen Kultursystem“ (Volkov) bewegt habe.[8]

Einen für die geschichtswissenschaftliche Zunft eher überraschenden Blickwinkel wählte MOSHE ZIMMERMANN (Jerusalem) mit seinem Eröffnungsvortrag: „Zukunftserwartungen der deutsch-jüdischen Gesellschaft in der Zeit nach der Haskala“. Gerade die Analyse von Zukunftsperspektiven, -hoffnungen und -erwartungen (im Unterschied zu meist ideologisch motivierten Programmen, Plänen oder Utopien) sei ein ergiebiger Ansatz, um das Selbstverständnis vergangener Gesellschaften zu erschließen. Als exemplarische Quelle untersuchte Zimmermann diverse Jahresrückblicke, die zwischen 1871 und 1914 in deutsch-jüdischen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Geradezu typisch sei dabei ein gesamtjüdisches Bewusstsein gewesen, weit über die Gemeinschaft des deutschen Judentums hinaus, und der schnelle Wechsel zwischen (Zweck-)Optimismus und Pessimismus, insbesondere was die Einschätzung des Antisemitismus betraf. Vor allem vor dem Hintergrund des Vorwurfs einer angeblichen Fehleinschätzung und eines mangelnden Krisenbewusstseins im deutschen Judentum um 1933, so Zimmermann abschließend, dienten die Erwartungshorizonte des „langen 19. Jahrhunderts“ als notwendige Ergänzung.

Sektion I: Jewish Communal Leadership
Die erste Sektion unter Leitung von ARNO HERZIG (Hamburg) setzte sich zunächst mit der politischen Dimension im Rahmen der Transformation jüdischer Gemeindestrukturen bis 1914 auseinander. Dabei ging es im Wesentlichen um die kollektive Vertretung und politische Einflussnahme jüdischer Gemeinden nach außen, insbesondere um Begriff und Kontinuität einer „jüdischen Politiktradition“ (Jewish political tradition).

Mit dem Thema „Jewish Intercession in East und West (19th Century)” nahm FRANÇOIS GUESNET (Oxford) das Konzept einer vermuteten Kontinuität jüdischer Selbstorganisation in Mitteleuropa auf und führte entsprechende Entwicklungslinien auf Grundlage eigener komparativer Forschungen zum Phänomen der „Schtadlanut“ bis Ende des 19. Jahrhunderts weiter. Gleichzeitig hinterfragte Guesnet das spezifisch „Jüdische“ einer „jüdischen Geschichte von innen“, da die institutionellen, politischen, kulturellen, sozialen und mentalen Veränderungen an der Wende zum 19. Jahrhundert sowohl die jüdischen Gemeinden als auch die nichtjüdische Gesellschaft als ganze betrafen. In der Diskussion blieb die Frage offen, ob die behauptete Kontinuität einer „jüdischen Politiktradition“ im Detail auch nachzuzeichnen ist oder eher einer (nichtjüdischen) Außenwahrnehmung bzw. einer historiographischen Konstruktion entspringt.

DAVID RECHTER (Oxford) lenkte mit seinem Beitrag „The Politics of Jewish Autonomy in Habsburg Austria“ den Blick auf die letzten beiden Jahrzehnte des Österreichisch-Ungarischen Kaiserreiches. Dort bildete sich ab Anfang der 1890er-Jahre, noch vor Formierung des politischen Zionismus, eine andere Form der „jüdischen nationalen Autonomie“ heraus, die sowohl in der Nationalismusforschung als auch in der zionistischen Geschichtsschreibung noch nicht angemessen berücksichtigt worden sei. Die spezifisch österreichisch-jüdische Ausprägung des „Diaspora-Nationalismus“ war liberal, demokratisch und tolerant und versuchte, alternativ zum Zionismus, eine Lösung zum schwelenden Nationalitätenkonflikt zu entwickeln.

In seiner Erwiderung verwies MICHAEL K. SILBER (Jerusalem) als dritte Option – zwischen Religion und Nation – auf das Konzept des „jüdischen Stamms“, das bis in die 1840er-Jahre zurückverfolgt werden könne. Insgesamt gelangte Silber zu der Einschätzung, dass eine „jüdische Geschichte von innen“ in der Tat existiere, dass sich aber politische Traditionen als „jüdische“ Traditionen eher schwach ausgeprägt hätten.

Parallel zum Beitrag von Rechter wandte sich JACOB BORUT (Jerusalem) der internen Organisation und den öffentlichen Aktivitäten der jüdischen Gemeinschaft im Deutschen Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts zu. Sein Vortrag „The 1890’s as a Turning Point in German Jewish History” diagnostizierte gerade für die 1890er-Jahre eine umwälzende Veränderung im Selbstverständnis, der Selbstorganisation und der politischen Partizipation des deutschen Judentums, die zur Schaffung eines jüdischen „Teilmilieus“ (partial sub-society) geführt habe. Ähnlich wie Guesnet zog Borut dabei deutliche Parallelen zwischen innerjüdischen Wandlungsprozessen und den gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen im Kaiserreich. Die von Borut gesetzte Zäsur der 1890er-Jahre wurde in der Diskussion mehrfach hinterfragt.

Ähnlich kritisch äußerte sich auch UFFA JENSEN (Brighton) in einem abschließenden Impulsreferat. In Ergänzung zu Boruts Begriff der „sub-society“ erinnerte er an frühere Konzepte der „halbneutralen Gesellschaft“ (Katz) oder der „Jewish sub-culture“ (Sorkin), mit denen sich eine sehr viel längere Tradition jüdischer Vereinigungen und der aktiven politischen Partizipation verbinde. Am Beispiel des „Berliner Antisemitismusstreites“ (1879ff.) betonte Jensen nochmals die Funktion der jüdischen Presse und der Flugschriftenliteratur als Sprachrohr der jüdischen Gemeinschaft – deutlich vor 1890.

Sektion II: Communities in Transition
Die zweite Sektion unter Vorsitz von MONIKA PREUSS (Heidelberg) richtete den Blick nach innen auf die religiös-kulturellen Wandlungsprozesse in den jüdischen Gemeinden. Jedoch auch diese Perspektive „von innen“ ließ stets die Abhängigkeit internen Wandels von externen Faktoren erkennen, sei es im Zusammenspiel mit staatlichen Autoritäten, der öffentlichen Wahrnehmung oder den beiden christlichen Konfessionen.

„Three Weddings and a Funeral: Communal Institutions and Religious-Cultural Change“ hatte ANDREAS GOTZMANN (Erfurt) seinen erfrischend humorvollen Konferenzbeitrag betitelt. Er führte zurück zu einem „Skandalfall“ der jüdischen Eherechtsprechung in Hamburg in den Jahren 1850 bis 1860 rund um die „verlassene Frau“ Jette Bacher. Deren erster Mann war unmittelbar nach der Hochzeit vor seinen Gläubigern in die USA geflüchtet, von wo aus er seiner Frau den Scheidebrief (hebr. Get) hartnäckig verweigerte. Durch eine widersprüchliche Rechtspraxis der zivilen Gerichte kam es im weiteren Verlauf der komplizierten Geschichte zu einer empfindlichen Störung des Gleichgewichts zwischen der autonomen jüdischen Gemeinde und den staatlichen Instanzen, was die Praxis der rabbinischen Eherechtsprechung in Hamburg grundlegend verändern sollte. Das problematische Verhältnis zwischen Staat und jüdischer Gemeinde, so Gotzmanns Schlussfolgerung, war als externer Faktor maßgeblich für die internen religiösen Wandlungsprozesse des 19. Jahrhunderts verantwortlich.

Einen deutlichen Schwerpunkt auf die Analyse kultureller Praktiken als Quelle für die Untersuchung jüdischer Identität legte KLAUS HÖDL (Graz) mit seinem Beitrag „Identities of Viennese Jews and the Rise of the Performative“. Als Fallbeispiel wählte er eine kurze Notiz aus der Wiener Wochenschrift „Die Wahrheit“ vom 6. Februar 1899, wonach eine „jüdische Dame“ auf einem Kostümball des interkonfessionellen Vereins „Leopoldstädter Kinderschutz“ in Gestalt eines „Christkindl“ erschien. Dies – so der Autor – sei als „Geschmack-“ und „Taktlosigkeit“ empfunden worden.6 Ausgehend von einem performativen Ansatz, den Hödl mit den Begriffen der „Liminalität“ bzw. der „Mimikry“ und „Mimesis“ verband, interpretierte er die berichtete Szene als Ausdruck einer spezifisch jüdischen Gruppenidentität, die durch kulturelle Praxis vermittelt worden sei. In der Diskussion wurde vor allem die strenge Trennung zwischen performativer „Praxis“ und scheinbar statischem „Text“ hinterfragt und eine methodische Kombination beider Perspektiven angeregt.

Für die Anwendung neuer kulturwissenschaftlicher Methoden im Forschungsfeld der deutsch-jüdischen Geschichte zog SIMONE LÄSSIG (Braunschweig) insgesamt eine positive Bilanz. In ihrer Erwiderung zu beiden Fallstudien betonte sie die Doppelrolle des Nehmens und Gebens, die die jüdische Gemeinschaft im Prozess der Neudefinierung jüdischer Tradition – als aktive Teilhaberin bei der Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft ohne Aufgabe ihrer spezifischen Identität – eingenommen habe.

Eine dritte Fallstudie präsentierte schließlich ADAM S. FERZIGER (Ramat Gan) mit seinem Beitrag „Authority and Identity within Hamburg Jewry during the Kaiserreich: The Controversial Issue of Cremation“. Am Beispiel einer außergewöhnlich heftigen Debatte über die Feuerbestattung innerhalb der jüdischen Orthodoxie in Deutschland in den Jahren 1901 bis 1907 konnte Ferziger – wie zuvor Gotzmann – den tief greifenden Wandel religiös-halachischer Praxis im Detail nachzeichnen, der zum einen durch gesamtgesellschaftliche Veränderungen, zum anderen durch innerjüdische Faktoren bedingt wurde.

In seiner Erwiderung machte KLAUS HERRMANN (Berlin) auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext der Hamburger Kremationsdebatte aufmerksam: Auch im protestantischen Bereich sei, ausgehend von der Konferenz der deutschen evangelischen Kirchenregierungen in Eisenach 1898, eine verblüffend ähnliche Diskussion geführt worden, bis der Streit Mitte der 1920er-Jahre – wie in der jüdischen Welt – weitgehend beigelegt werden konnte.

Sektion III: Beyond the Nation: Jewish Solidarity
Die dritte Konferenzsektion unter Vorsitz von STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM (Hamburg) lenkte den Blick über die Grenzen der jüdischen Gemeinden in Deutschland hinaus auf die Untersuchung der neuen inter- bzw. transnationalen jüdischen Netzwerke des 19. Jahrhunderts, die – so die allgemeine Annahme – maßgeblich zur Entstehung eines gesamteuropäischen Bewusstseins und Solidaritätsgefühls beigetragen haben. Wie die beiden Detailstudien von Bar-Chen und Wilke jedoch zeigten, konnten dabei auch unüberbrückbare Differenzen zwischen oder innerhalb der einzelnen jüdischen Gemeinschaften zu Tage treten.

In seinem sehr kontrovers diskutierten Beitrag „International Jewish Organisations (19th Century) and the Perversion of Jewish History“ ging ELI BAR-CHEN (München) dem diffizilen Verhältnis zwischen internationalen jüdischen Organisationen und der einheimischen jüdischen Bevölkerung in Ländern des außereuropäischen Kulturraums nach. Am Beispiel der Geschichte des algerischen Judentums untersuchte er die Politik der Alliance Israélite Universelle (AIU), die 1860 als internationale jüdische Hilfsorganisation in Paris gegründet worden war. Ihr philanthropisches Engagement wurzelte einerseits im Wertesystem der europäischen Aufklärung, andererseits im kolonialen Denken der europäischen Nationen, das eigene kulturelle Traditionen der algerischen Juden ignorierte. In der Konsequenz, so Bar-Chen, bedeutete dies eine „Perversion“ der Emanzipation im außereuropäischen Kontext. In der Diskussion wurde zum einen die Relativität der verwendeten Begriffe des „Europäischen“ und des „Kolonialismus“ hinterfragt, zum anderen angeregt, auch die Veränderungsprozesse und die Rezeption europäischer Einflüsse innerhalb des algerischen Judentums einer genaueren Analyse zu unterziehen.

In einem zweiten Beitrag „Jewish Brotherhood in Times of Conflict: The German Branches of the Alliance Israélite Universelle in the Aftermath of the Franco-Prussian War“ präsentierte CARSTEN L. WILKE (Duisburg/Düsseldorf) einen Ausschnitt aus einer neueren Studie zum deutsch-französischen Netzwerk der AIU zwischen 1860 und 1914. Am Beispiel des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 zeichnete er die im Detail noch kaum untersuchten Konfliktlinien innerhalb der unterschiedlichen jüdischen Gemeinden und Gruppierungen auf beiden Seiten nach. Das neue, säkularisierte Ideal der inneren Einheit aller Juden, so Wilkes Resümee, war tatsächlich nur außerhalb der eigenen nationalen Grenzen, auf transnationaler Ebene zu erreichen.

Sektion IV: Above and Between Communities
Nach der politischen, religiös-kulturellen und transnationalen Dimension interner jüdischer Wandlungsprozesse im 19. Jahrhundert wandte sich die vierte und letzte Sektion unter Vorsitz von ANTHONY D. KAUDERS (Keele/München) der internen Vernetzung der jüdischen Gemeinschaft durch neue Formen der Vergesellschaftung und Kommunikation – insbesondere durch das moderne jüdische Vereins- und Pressewesen – zu.

Die seit der Aufklärung traditionell enge Verbindung zwischen beiden öffentlichen Sphären, dem Vereins- und Pressewesen, verdeutlichte der Beitrag „From Reform to Retreat. The Establishment of Viennese Cantorial Associations and Professional Journals at the End of the Nineteenth Century“ von ESTHER-AMALIA SCHMIDT (Oxford/Hamburg). Am Beispiel der „Oestereichisch-ungarischen Cantoren-Zeitung“ (1881-1912) skizzierte Schmidt zunächst die spezifische Situation jüdischer Kantoren in Wien und darüber hinaus in ganz Österreich-Ungarn: Innere Zersplitterung, politische Unruhe und finanzielle Unsicherheit gaben dann auch den Anstoß zur Gründung eines Periodikums, das – verbunden mit einer eigenen Kantorenvereinigung – als kommunikatives Zentrum aller Kantoren im Habsburgerreich nach innen deren Vernetzung und Professionalisierung fördern, nach außen deren berechtigte Interessen artikulieren sollte.

Im Rahmen einer komparativen Überblicksstudie „Subculture and/or Parallel Society? Jewish and Catholic Associations in the 19th Century. A Comparative Perspective“ nahm schließlich URI R. KAUFMANN (Dossenheim) das moderne jüdische Vereinswesen in Deutschland in den Blick, dem er einige Beobachtungen zur Entwicklung auf katholischer Seite gegenüberstellte. Die Ausprägung eines eigenen jüdischen Vereinswesens, so Kaufmann, belege in erster Linie die Stärkung jüdischer Identität und Binnenkohäsion, während die Mitgliedschaft in nichtjüdischen Vereinen ein differenziertes und dynamisches Bild gesamtgesellschaftlicher Integrations- oder Ausschlussmechanismen vermittle. Ein Vergleich zwischen der katholischen und der jüdischen Minderheit offenbarte erstaunliche Parallelen: Beide prägten ein eigenes religiös-kulturelles „Milieu“ (sub-culture); beide kämpften zugleich in einem protestantisch dominierten Deutschland um politische und soziale Anerkennung; und beide sahen sich angesichts der Säkularisierung mit der Frage konfrontiert, wie auf Dauer eine moderne religiöse Identität zu bewahren sei.

Resümee
Zum Schluss dieser methodisch wie thematisch ungewöhnlich intensiven Konferenz oblag MICHAEL A. MEYER (Cincinnati) die Aufgabe eines vorläufigen Resümees. Die leitende Fragestellung einer „jüdischen Geschichte von innen“ beurteilte er als ambivalent: Ausgangspunkt sei eine allgemeine Unzufriedenheit der neueren Forschung über die Darstellung der deutsch-jüdischen Geschichte als bloße „Beziehungs-“ oder „Erfolgsgeschichte“, die innerjüdische Faktoren ausblende. Andererseits jüdische Geschichte ausschließlich „von innen“ schreiben zu wollen, führe zu neuen Ambivalenzen. Mayer formulierte dazu mehrere Fragen: (1.) Ist die deutsch-jüdische Geschichte bzw. die Geschichte der Juden in Deutschland nun eine „Geschichte deutscher Juden“ oder eine Geschichte ihrer „Jüdischkeit“? (2.) Sind die einzelnen Elemente der vormodernen jüdischen Gesellschaft nur als interne Faktoren zu beschreiben, die sich an der Schwelle zur Moderne nach und nach zu externen gewandelt haben? Folglich würde auch die ursprünglich weite Sphäre einer „jüdischen Geschichte von innen“ in der modernen jüdischen Gesellschaft schrumpfen, während die externe Sphäre stetig expandiert. (3.) Wie sind die beiden Sphären bzw. Bereiche – extern und intern – zu unterscheiden? Was ist der Form bzw. dem Inhalt nach jüdisch, was nichtjüdisch? Meyer kam zum Schluss, dass die jüdischen Identitätsoptionen der Moderne stets abhängig waren von den jeweils von außen gewährten Möglichkeiten und Zukunftsperspektiven, während im Innern traditionelle jüdische Vorstellungen – wie etwa die messianische Hoffnung – zumindest in säkularer Form weiterwirkten.

Meyer schloss mit der Frage nach den thematischen Defiziten der Konferenz: Hier sah er vor allem die jüdische Geistesgeschichte unterrepräsentiert, die zwingend zu einer „jüdischen Geschichte von innen“ gehöre, jedoch – eng mit der Sozialgeschichte verbunden – natürlich auch externen Einflüssen und Wandlungsprozessen unterworfen sei.

Es mag eines der Verdienste der jüngsten Konferenz des IGdJ sein, dazu angeregt zu haben, öfter als bisher geschehen die Perspektive zu wechseln und für zukünftige Forschungen zur deutsch-jüdischen Geschichte den Blick stärker „nach innen“ auf jüdische Quellen und Entwicklungen innerhalb der jüdischen Gemeinden zu richten Im Ergebnis wird dabei ein sehr viel differenziertes Bild der innerjüdischen Meinungsspektren und Binnenstrukturen entstehen als erwartet oder bislang untersucht. Jedoch wird auch deutlich werden, dass beide Perspektiven – „von innen“ und „von außen“ – nicht zu trennen sind. Wünschenswert wäre daher ein Ausbau der komparativen Geschichtsforschung – zwischen Ost und West oder zwischen jüdischer, katholischer und protestantischer Seite (auch das haben einzelne Konferenzbeiträge bereits exemplarisch vorgemacht). Als vorläufige Erkenntnis bleibt festzuhalten, dass es wohl kein Thema der modernen jüdischen Geschichte gibt, das als „jüdische Geschichte von innen“ ohne die Berücksichtigung externer Faktoren geschrieben werden könnte!

Konferenzübersicht:
Jewish History ‘from Within’: Continuity and Change in the Jewish Communities and Institutions (1800-1914)

Monday

Welcome: Stefanie Schüler-Springorum (Hamburg)
Introduction: Andreas Brämer (Hamburg): Jewish History ‘from Within’
Opening Lecture: Moshe Zimmermann (Jerusalem): Future Expectations of Post-Haskala Jewry

Tuesday

Panel I: Jewish Communal Leadership
Chair: Arno Herzig (Hamburg)

François Guesnet (Oxford): Jewish Intercession in East und West (19th Century)
David Rechter (Oxford): The Politics of Jewish Autonomy in Habsburg Austria
Comment: Michael K. Silber (Jerusalem)
Jacob Borut (Jerusalem): The 1890’s as a Turning Point in German Jewish History
Comment: Uffa Jensen (Brighton)

Panel II: Communities in Transition
Chair: Monika Preuß (Heidelberg)

Andreas Gotzmann (Erfurt): Three Weddings and a Funeral: Communal Institutions and Religious-Cultural Change
Klaus Hödl (Graz): Identities of Viennese Jews and the Rise of the Performative
Comment: Simone Lässig (Braunschweig)
Adam S. Ferziger (Ramat Gan): Authority and Identity within Hamburg Jewry during the Kaiserreich: The Controversial Issue of Cremation
Comment: Klaus Herrmann (Berlin)

Wednesday

Panel III: Beyond the Nation: Jewish Solidarity
Chair: Stefanie Schüler-Springorum (Hamburg)

Eli Bar Chen (Munich): International Jewish Organisations (19th Century) and the Perversion of Jewish History
Carsten L. Wilke (Duisburg/Düsseldorf): Jewish Brotherhood in Times of Conflict: The German Branches of the Alliance Israélite Universelle in the Aftermath of the Franco-Prussian War

Panel IV: Above and Between Communities
Chair: Anthony D. Kauders (Keele/Munich)

Esther-Amalia Schmidt (Oxford/Hamburg): From Reform to Retreat. The Establishment of Viennese Cantorial Associations and Professional Journals at the End of the Nineteenth Century
Uri R. Kaufmann (Dossenheim): Subculture and/or Parallel Society? Jewish and Catholic Associations in the 19th Century. A Comparative Perspective

Closing Remarks: Michael A. Meyer (Cincinnati)
Summary Discussion

Anmerkungen:
1 Vgl. Meyer, Michael A. (Hrsg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. I-IV, München 1996-97.
2 Ders., Vorwort zu dem Gesamtwerk, in: ebd., Bd. I, S. 9-13.
3 Vgl. das Konferenzprogramm im Anhang; dazu auch die Ankündigung unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=7801> (29.08.2007).
4 Vgl. Katz, Jacob, Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne, München 2002 [urspr. Masoret u-Maschber, Jerusalem 1958 (hebr.)]; Schochat, Asriel, Der Ursprung der jüdischen Aufklärung in Deutschland, Frankfurt am Main 2000 [urspr. Im Chilufej Tekufot, Jerusalem 1960 (hebr.)].
[5] Vgl. Volkov, Shulamith, Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland, in: dies., Das jüdische Projekt der Moderne, München 2001, S. 118-137, hier S. 123.
6 Vgl. Wochenschau, in: Die Wahrheit XV (1899), 9 (6. Februar 1899), S. 4.


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