Religion und ihr Anderes. Säkulare und sakrale Konzepte und Praktiken in Interaktion

Religion und ihr Anderes. Säkulare und sakrale Konzepte und Praktiken in Interaktion

Organisatoren
Heike Bock; Jörg Feuchter; Vera Isaiasz; Michi Knecht; Carlos Martinéz; SFB 640 "Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel", Humboldt-Universität zu Berlin; Zentrum Moderner Orient (ZMO), Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.03.2007 - 01.04.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Heike Bock, SFB 640, Humboldt-Universität zu Berlin; Raphael Stepken, SFB 640, Humboldt-Universität zu Berlin

Für die europäische Moderne ist es konstitutiv, das Religiöse und das Säkulare als getrennte Sphären zu denken. Auch viele wissenschaftliche Versuche einer universalistischen Definition von Religion und Säkularisierung sind von dieser spezifischen Sichtweise und Erfahrung durchtränkt. Damit strukturieren sie – oft implizit – aus einer partikularen Perspektive das komparative Denken über heterogene Formen und Verhältnisse von Religion und Säkularität.

Ausgehend von diesem Befund unternahm es die internationale Tagung „Religion und ihr Anderes. Säkulare und sakrale Konzepte und Praktiken in Interaktion“ vom 30. März bis 1. April 2007 an der Humboldt-Universität zu Berlin, das Verhältnis von Religion und Säkularität als eine heterogene und beständig sich verändernde Konstellation in den Blick zu nehmen. Als Ausgangs- und Referenzpunkt der vom SFB 640 der Humboldt-Universität zu Berlin in Zusammenarbeit mit dem Zentrum Moderner Orient, Berlin, organisierten Veranstaltung dienten die vielschichtigen Rekonstruktionen der Genealogien von „Religion“ und „dem Säkularen“ in den westlichen Wissenschaftstraditionen, die der amerikanische Kultur- und Sozialanthropologe Talal Asad in den letzten beiden Jahrzehnten erarbeitet hat. 1 Wie bilden sich Konzepte und Praxen des Säkularen und des Religiösen in antagonistischen oder affirmativen Verhältnissen und Relationen heraus? Auf welche Art und Weise werden die Grenzen zwischen Religion und Nicht-Religion aufgebaut, stabil gehalten und verteidigt oder modifiziert? Wie werden in solchen Prozessen Wahrheit und Deutungsautorität, wie werden Symmetrien und Asymmetrien der Macht generiert und ausgehandelt? Diese Fragen zu den Konstitutionsprozessen und Verflechtungen des Religiösen und des Säkularen wurden von Ethnologen, Historikern und Religionswissenschaftlern aus Deutschland, den USA, den Niederlanden, Israel und Frankreich anhand eines historisch, kulturell und geographisch breit gefächerten Spektrums von Fallstudien diskutiert.

Nach den Grußworten von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität, und Ulrike Freitag, Direktorin des Zentrums Moderner Orient, führten Michi Knecht und Jörg Feuchter (beide SFB 640, Humboldt-Universität zu Berlin) stellvertretend für die Organisatoren in das Tagungsthema ein. TALAL ASAD (City University New York) rekonstruierte in seinem anschließenden Eröffnungsvortrag „Law, Ethics and Religion in the Story of Egyptian Modernization“ einige zentrale Aspekte der Rechtsreform und der Säkularisierungsgeschichte der ägyptischen Gesellschaft seit Ende des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel von Ahmat Safwat, einem in Großbritannien ausgebildeten Juristen, der 1917 ein Plädoyer für eine Reform der ‚sharia’ publizierte, fragte Asad nach den Implikationen für das Verhältnis von Staat, Ethik und Religion. Safwats Neu-Interpretation der islamischen Überlieferung zielte auf eine Reduktion des Zuständigkeitsbereichs religiösen Rechts (‚sharia’) bei gleichzeitiger Ausdehnung der Staatsgewalt. Safwats Koranauslegung unterscheidet dazu drei normative Kategorien – obligatorische Handlungen (‚wajib’), verbotene Handlungen (‚haram’) und erlaubte Handlungen (‚jaiz’) –, womit sie von der traditionellen Sharia-Lesart abweicht, da der Koran selbst die Begriffe ‚wajib’ und ‚jaiz’ nicht enthält. Während ‚wajib’ und ‚haram’ obligatorische Regeln bezeichnen, weist Safwat den ‚jaiz’-Regeln einen optionalen Status zu und eröffnet so dem staatlich-säkularen Recht seinen Spielraum. Zu den unter die Zuständigkeit des säkularen Rechts fallenden ‚jaiz’-Handlungen gehören dabei laut Safwat auch alle im Koran nicht ausdrücklich aufgeführten Handlungen. Andererseits fallen nach Safwats Auffassung Fragen, die das persönliche Verhältnis des Einzelnen zu Gott betreffen, nicht unter die Zuständigkeit des staatlichen Rechts. Das Religiöse wird damit als das Moralische und nicht Justiziable („punishment in the next world“) privatisiert und vom staatlichen Recht als der öffentlichen Sphäre („punishment in this world“) unterschieden. Mit der Unterscheidung von Recht und Ethik ist aber auch eine Umdeutung von Ethik und Moral selbst verbunden: Diese werden weniger als zu entwickelnde Tugenden im Sinne der aristotelischen Tugendethik verstanden, sondern eher als kantianische Selbstverpflichtung des Individuums (Gewissensethik). Damit verliert der Prophet Mohammed seine Rolle als paradigmatisches Modell der Tugendhaftigkeit, dem es nachzueifern gilt. Asad betonte, dass dieser Wandel nicht einfach nur das Wegfallen von sozialen Restriktionen für das Individuum bedeute, sondern eine Reihe unterschiedlicher Widersprüche mit sich bringe, denn einerseits gewähre der säkulare Staat eine Diversität persönlicher Glaubensvorstellungen, wende andererseits im Konfliktfall aber Gesetze an, die für alle gleich und ohne Rücksicht auf konträre religiöse Überzeugungen gelten sollen.

Der zweite Konferenztag begann mit einer Diskussion über Talal Asads Eröffnungsvortrag. Der Religionssoziologe VOLKHARD KRECH (Ruhr-Universität Bochum) wies in seinem Kommentar darauf hin, dass Modernisierung eine Unterscheidung („distinction“), nicht aber Trennung („separation“) von Religion und Staat / Gesellschaft bedeute. Der Politikwissenschaftler FARISH NOOR (Zentrum Moderner Orient, Berlin) sprach in seinem Kommentar über die Rezeption von Asads Gedankengut in Südostasien, wo gegenwärtig eine breite Diskussion darüber stattfinde, was ein moderner Muslim sei und wie der Staat islamische Ethik implementieren könne. Noor fragte, wie man mit dem Säkularisierungsbegriff umgehen könne, während man mitten im Prozess stecke und dessen Ergebnis also noch nicht kenne.

Drei Referenten beschäftigen sich im ersten Panel kritisch mit Genealogien gelehrter Diskurse in christlichen, islamischen und jüdischen Kontexten. DOROTHEA WELTECKE (Universität Göttingen) fragte in ihrem methodologisch und forschungskritisch ausgerichteten Beitrag nach einem angemessenen Forschungsbegriff für die verschiedenen Formen religiöser Devianz im Mittelalter. Im Mittelpunkt ihrer Kritik stand dabei der Begriff ‚Unglauben’ („unbelief“ / „disbelief“), dessen häufige Verwendung als eine anachronistische Projektion moderner Atheismus-Debatten verstanden werden könne. Anhand gründlicher Quellenanalysen zum lateinischen Begriff ‚infidelitas’ bzw. ‚infideles’ konnte Weltecke aufzeigen, dass sich dieser auf ganz verschiedene Formen religiöser Abweichung beziehen konnte – z.B. auf Nichtchristen, auf unfromme Christen, auf Häretiker –, nicht aber Unglauben oder Atheismus im modernen Sinne bezeichnete. Darüberhinaus galt Häresie, also Falsch-Glauben – nicht jedoch der Un-Glauben – als die schlimmste Form von ‚infidelitas’ im christlichen Mittelalter.

JÖRG FEUCHTER (SFB 640, Humboldt-Universität zu Berlin) ging in seinem Vortrag „The Islamic Ribāt – A Model for the Christian Military Orders? Sacred Violence, Religious Concepts and the Invention of a Cultural Transfer“ dem brisanten Fall eines erfundenen islamisch-christlichen Kulturtransfers nach. Er erklärte die seit beinahe zweihundert Jahren in der Forschung kursierende These für obsolet, die geistlichen Ritterorden seien nach dem Vorbild islamischer Einrichtungen geformt worden. Zum einen habe noch nie ein Nachweis dafür erbracht werden können, dass die zu Anfang des 12. Jhs. erfolgte, damals unerhört neuartige Fusion von christlichem Krieger- und Mönchtum durch „Ribāt“ genannte muslimische Festungskonvente an der Christengrenze inspiriert wurden, in denen asketische Krieger als Mönche auf Zeit um Gotteslohn kämpften. Zum anderen habe die neuere islamwissenschaftliche Forschung sogar die Auffassung widerlegt, es habe überhaupt das Ribāt als „Muslim military monastery“ gegeben. Wissenschaftshistorisch lässt sich nach Feuchter die versuchte Herleitung der Ritterorden vom Ribāt dadurch erklären, dass infolge der Aufklärung Gewalt als der christlichen Religion eigentlich unvereinbares, fremdes, säkulares Element angesehen wurde.

BOAZ HUSS (Ben Gurion University of the Negev, Israel), untersuchte in seinem Beitrag “The Formation of Jewish Mysticism and its Impact on Contemporary Kabbalah Practitioners” die Geschichte der Kabbalah im 19. und 20. Jahrhundert. Von jüdischen Aufklärern abgelehnt, wurde die Geheimlehre damals von Wissenschaftlern in positiver Wendung als „jüdischer Mystizismus“ aufgefasst. Huss zeigte, dass die modernen Formen der Kabbalah stark auf diesen akademischen Konstruktionen fußen, auch wenn sie dies strikt verneinen.

In ihrem Kommentar konstatierte ALMUT HÖFERT (Universität Basel / Wissenschaftskolleg Berlin), dass mit dem Begriff der ‚Moderne’ ein gemeinsamer Bezugspunkt für die Analysen sehr verschiedener Entwicklungen und Prozesse zur Verfügung stehe, für den ein ‚vormodernes’ Begriffs-Pendant fehle.

Im zweiten Panel „Konzepte erweitern und Religion reformieren“ lag der Schwerpunkt auf islamischen Themen. Die zentrale These des ideengeschichtlichen Beitrags „Limiting the Power of Religion from Within: Probabilism and Ishtihad“ von CARLOS MARTINEZ (SFB 640, Humboldt-Universität zu Berlin) war, dass die im 16. Jahrhundert von katholischen Jesuiten und protestantischen Arminianern entwickelte Doktrin des „Probabilismus“ als wichtiger Faktor im Prozess der Säkularisierung – verstanden als Trennung zwischen Religiösem und Säkularem – gewirkt habe, somit hier also eine Form von Säkularisierung aus der Religion selbst heraus angestoßen worden sei. Außerdem regte Martinéz einen Vergleich des Probabilismus mit der Denkrichtung des „Ishtihad“ im Islam an.

DYALA HAMZAH (Zentrum Moderner Orient, Berlin) plädierte in ihrem Vortrag „From Religious Knowledge (´ilm) to Journalism (sihâfa) or the Genealogy and Epistemology of the Salafi turn. Muhammad Rashîd Ridâ (1865-1935) and his Journal ‚al-Manâr’ (1898-1935)“ für eine Neuinterpretation der islamischen Reformbewegung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts („salafi turn“). Diese solle nicht als ein Aufschwung der islamischen Tradition verstanden werden, sondern bedeute gerade einen fundamentalen Bruch mit derselben. Der Journalismus eines Ridâ habe nicht einfach alte Ideen in einem neuen Medium verbreitet, sei also nicht ‚neues’ Mittel zum ‚alten’ Zweck gewesen, sondern stehe für eine Ablösung des traditionellen islamischen (Gelehrten-)Wissens durch ‚Journalismus’ als dominantem Diskurs („from ‚ilm’ to ‚sihafa’“) und damit für einen Wandel in der Produktion und Organisation des Wissens selbst.

Rashîd Ridâ stand ebenfalls im Mittelpunkt des Beitrags von RICHARD VAN LEEUWEN (Universität Amsterdam / Niederlande) „Islamic Reformist Thought and the Construction of the Secular: Rashîd Ridâ (1865-1935)“. Van Leeuwen zeigte, dass Ridâs Reformprojekt zwar auf eine Islamisierung der ganzen Gesellschaft abzielte, zugleich aber auch säkulare Praktiken und Ideen integrierte. Er machte dies am Beispiel von Ridâs Beschäftigung mit dem Wunderglauben deutlich, die er als wichtigen Bestandteil von Ridâs Kritik an der zeitgenössischen Glaubenspraxis und Forderung nach einer Neuausrichtung des Glaubens verstand.

Die Islamwissenschaftlerin BETTINA DENNERLEIN (Universität Hamburg) wies in ihrem Kommentar auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs der ‚Reform’ hin, dessen Gebrauch immer auch von bestimmten Vorstellungen von ‚richtiger’ Religion abhänge.

Im dritten Panel „Disziplinen verzaubern und entzaubern“ beschäftigten sich die Beiträge mit verschiedenen Vorstellungen von Heilung in christlichen Kontexten. HEIKE BOCK und VERA ISAIASZ (beide SFB 640, Humboldt-Universität zu Berlin) knüpften in ihrem vergleichend angelegten Vortrag „Lutheran Angels and Catholic Healers: Early Modern Demarcations between Religiousness and Superstition“ an die Bemühungen der christlichen Konfessionen im 16. Jahrhundert um Abgrenzungen zwischen ‚Religion’ und ‚Aberglauben’ an. Traditionell wird in der Forschung der Protestantismus als der rationalere, der Katholizismus als der stärker im Abergläubischen verhaftete Zweig des Christentums verstanden. Die Referentinnen hinterfragten solche klaren Zuschreibungen, indem sie verschiedene Reaktionsweisen der kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten auf Phänomene von Dämonie im lutherischen Spandau und im katholischen Luzern Ende des 16. Jahrhunderts verglichen. Während die vorgestellten Fälle von Teufelsbesessenheit in Spandau als apokalyptische Bedrohung empfunden und mit einer Mischung aus theologischen, quasi-wissenschaftlichen und magisch-abergläubischen Interpretationselementen erklärt wurden, zeigte gerade der zur Reform der katholischen Kirche gegründete Jesuitenorden einen erstaunlich flexiblen und rational wirkenden Umgang mit vergleichbaren Erlebnissen in Luzern: Eine subtile Kombination sakramentaler Handlungen und populärer Heilpraktiken wurde eingesetzt, um die Betroffenen von dem falschen Glauben, besessen zu sein, nicht jedoch von der angeblichen Besessenheit selbst zu heilen.

Basierend auf Feldstudien in einer psychatrischen Klinik in Südghana untersuchte der Beitrag von KRISTINE KRAUSE (Institut für Europäische Ethnologie, HU Berlin) „Latticed Practices: Biomedical Treatment and Christian Healing in a Psychiatric Clinic in South Ghana“ die Verbindung religiöser und säkularer Praktiken und Ideen in der Medizin der christlichen Pfingstbewegung an der Wende zum 21. Jahrhundert. „Neo pentacostal healing“ kombiniere christlich-exorzistische Heilpraktiken und säkulare biomedizinische Behandlungsmethoden. Gleichzeitig grenzen sich die neochristlichen Behandler scharf von anderen lokalen und traditionalen Heilpraktiken ab, die sie als rückständig ablehnen. Im Kontext des ghanaischen Gesundheitssystems, das durch ‚medical pluralism’ gekennzeichnet sei, interpretierte Krause solche Selbst- und Fremdzuschreibungen als Hinweise auf Machtkämpfe nicht zwischen säkularen und religiösen, sondern zwischen auf verschiedene Art religiösen Behandlungskonzepten.

Der Religionswissenschaftler PETER BRÄUNLEIN (Ludwig-Maximilians-Universität München) betonte in seinem Kommentar, dass das Untersuchungsfeld „Heilung“ sich hervorragend für nicht-dichotomisches Denken und Forschen eigne und dabei hochinteressante Erkenntnisse über die Produktion von Wissen generiere.

Das vierte Panel „In der Gegenwart des Anderen: Formationen des Selbst, des Körpers und des Gedenkens“ eröffnete JEANETTE S. JOUILI (International Institute for the Study of Islam in the Modern World, Leiden / Niederlande) mit dem Vortrag „Pious Muslim Women in Secular France: From Self-Reform to Identity Politics?“. Säkulare Gesellschaften verstehen das Religiöse als das Private und fordern vom Subjekt eine entsprechende Ausrichtung seines öffentlichen Verhaltens („culture of separation“). Für die von Jouilli befragten jungen Muslima nordafrikanischer Abstammung ist der Islam dagegen keine vom politisch-öffentlichen Bereich abgetrennte Sphäre, sondern eher eine allumfassende Lebensweise. Zur Untersuchung des Umgangs junger Muslima mit den normativen Anforderungen der laizistischen französischen Gesellschaft wählte Jouili zwei Beispiele, die mit der Frage nach der Sichtbarkeit des Religiösen im öffentlichen Raum verbunden sind: das Tragen des Kopftuchs und das Gebet. Strategien der Visibilisierung des Religiösen werden hier zu Gegenständen einer bewussten Identitätspolitik. Sowohl der Verzicht auf Visibilität als auch die Entscheidung für das Kopftuch oder das Gebet am Arbeitsplatz seien laut Jouili Ergebnisse eines komplexen Aushandlungsprozesses.

GERTRUD HÜWELMEIER (Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin) präsentierte in ihrem Beitrag „Formations of the religious self – Becoming ‚Women in Christ’ in a Globalizing World“ die Ergebnisse von Feldforschungen in verschiedenen Häusern der Ordensgemeinschaft der “Armen Dienstmägde Jesu Christi”. Hüwelmeier ging besonders den Transformationen von Lebensweise und Selbstverständnis der Schwestern seit den 1960er Jahren nach und hob dabei die Neuinterpretation des Gehorsamsgelübdes sowie den Prozess der ‚Transnationalisierung’ hervor. Das Gehorsamsgelübde habe im Zusammenhang mit dem Reformprozess der katholischen Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine enthierarchisierende und demokratisierende Umdeutung weg von einer unterordnenden Orientierung unter den Willen der Oberin hin zu einer gemeinsamen Orientierung am Willen Gottes erfahren. Im Zuge der Internationalisierung des Ordens seit den 1960er Jahren seien besonders von Gemeinschaften in Indien emanzipatorische Ansprüche gegenüber der deutsch-amerikanischen Dominanz artikuliert worden, die die Akzeptanz kultureller Heterogenität und neuer Strukturen innerhalb des Ordens verstärkten.

Ausgehend von langjährigen Feldstudien zum volkstümlichen Katholizismus in der Basilikata wagte THOMAS HAUSCHILD (Institut für Europäische Ethnologie, Universität Tübingen / Wissenschaftskolleg zu Berlin) zum Abschluss der Konferenz einen weiten, komparativen Blick auf die Heiligen- und Heilungskulte der drei großen monotheistischen Religionen im Mittelmeerraum. Unter dem Titel: „Regression and Regret. Popular Cults in the Mediterranean“ ging es ihm um eine in ethnographischer Empirie begründete und in lokaler Politik und Geografie verankerte Verflechtungsgeschichte des Religiösen und um die Identifikation gemeinsamer Motive, Praktiken und Erfahrungen in unterschiedlichen religiösen Ritualen des mediterranen Raumes. Insbesondere in den alltagsreligiösen Umgangsformen mit Trauma, Krankheit und Tod lassen sich Mischungen und Transfers, ein gemeinsames Erfahrungsreservoir von Christentum, Judentum und Islam und die Präsenz des jeweils sozial und religiös Anderen im religiösen Kultus selbst nachweisen. Dies skizzierte Hauschild an der Figur eines kleinen Kobolds mit roter Mütze, der in Italien im Zusammenhang mit Trancezuständen immer wieder auftaucht und entfernt an die mit dem roten Fez in Nordafrika verbundenen Besessenheitsrituale erinnert.

Als Kommentatorin zu diesem Panel diskutierte ELISABETH CLAVERIE (EHESS Paris) in ihrem Beitrag in erster Linie methodische und epistemologische Fragen des Vergleichs in den Kulturwissenschaften.

Im Schlusskommentar hob die amerikanische Historikerin SUSAN BOETTCHER (University of Texas at Austin) die Stärken der Tagung hervor: die Verwendung eines breiten Religionsbegriffs, die Interdisziplinarität, das erkenntnisfördernde Potential durch die Methode des Vergleichs und die grundsätzliche Enthaltsamkeit hinsichtlich Wertungen über die Aufrichtigkeit von Glauben und Gläubigen. Eine präzisere Bestimmung des Begriffs des Säkularen und die Analyse der Rolle ökonomischer Faktoren hätten ihrer Meinung nach hingegen noch stärker berücksichtigt werden sollen. SHALINI RANDERIA (Universität Zürich) gab aus der Sicht der Ethnologin die Gefahr nationaler Sichtweisen in der klassischen Methode des historischen Vergleichs zu bedenken und plädierte stattdessen für eine noch konsistentere Anwendung der Forschungsansätze einer Verflechtungsgeschichte („entangled history“). Die Frage nach „Religion und ihrem Anderen“ sei in ihrer Sicht ein primär westlich-christliches Problem; die Säkularisierung Europas sei, so Randerias These, einhergegangen mit einer ‚Religionisierung’ der Kolonien.

Die Tagung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie die Herbert-Quandt-Stiftung gefördert. Die Tagungsergebnisse werden 2008 in einem Sammelband in englischer Sprache beim Campus-Verlag, Frankfurt am Main / New York veröffentlicht.

Konferenzübersicht:

Religion und ihr Anderes. Säkulare und sakrale Konzepte und Praktiken in Interaktion

Eröffnungsvortrag
Talal Asad: Law, Ethics and Religion in the Story of Egyptian Modernization

Panel I: Kritische Genealogien und gelehrte Diskurse: Voraussetzungen hinterfragen
Dorothea Weltecke: Beyond Religion. On the Lack of Belief during the Central and Late Middle Ages
Jörg Feuchter: The Islamic Ribāt – A Model for the Christian Military Orders? Sacred Violence, Religious Concepts and the Invention of a Cultural Transfer
Boaz Huss: The Formation of Jewish Mysticism and its Impact on Contemporary Kabbalah Practitioners

Panel II: Konzepte erweitern und Religion reformieren: Genres, Medien und Politik
Carlos Martinéz: Limiting the Power of Religion from Within. Probabilism and Ishtihad
Dyala Hamzah: From Religious Knowledge (´ilm) to Journalism (sihâfa) or the Genealogy and Epistemology of the Salafi turn. Muhammad Rashîd Ridâ (1865-1935) and his Journal ‚al-Manâr’ (1898-1935)
Richard van Leeuwen: Islamic Reformist Thought and the Construction of the Secular. Rashîd Ridâ (1865-1935)

Panel III: Disziplinen verzaubern und entzaubern
Heike Bock und Vera Isaiasz: Lutheran Angels and Catholic Healers. Early Modern Demarcations between Religiousness and Superstition
Kristine Krause: Latticed Practices: Biomedical Treatment and Christian Healing in a Psychiatric Clinic in South Ghana

Panel IV: In der Gegenwart des Anderen: Formationen des Selbst, des Körpers und des Gedenkens
Jeanette Jouili: Pious Muslim Women in Secular France. From Self-Reform to Identity Politics?
Gertrud Hüwelmeier: Formations of the religious self – Becoming ‚Women in Christ’ in a Globalizing World
Thomas Hauschild: Regression and Regret. Popular Cults in the Mediterranean

Anmerkung:
1 Vgl. jüngst Asad, Talal, Formations of the secular: Christianity, Islam, modernity, Stanford 2003. Zur intellektuellen Entwicklung Asads: Scott, David; Hirschkind, Charles (Hrsg.), Powers of the secular modern: Talal Asad and his interlocutors, Stanford 2006.


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger