Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts: Forschungen zu Kult und Herrschaft der Führer-Regime in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Analysen, Konzepte und Vergleiche

Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts: Forschungen zu Kult und Herrschaft der Führer-Regime in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Analysen, Konzepte und Vergleiche

Organisatoren
Herder-Institut e.V. und das Institut für Osteuropäische Geschichte Landeskunde der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.10.2007 - 13.10.2007
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Von
Frank Bauer, Mainz

Das 20. Jahrhundert hat zahlreiche Kulte um politische Führerpersönlichkeiten hervorgebracht. Die Pflicht zu deren Erforschung ergibt sich nicht nur aus ihrem Einfluss auf die Geschichte ihrer Zeit, sondern auch aus der Notwendigkeit heraus, ein tiefgehendes Verständnis der spezifischen Hintergründe und Unterschiede der Kulterscheinungen selbst zu entwickeln. Eine Untersuchung des Phänomens des Führerkultes anhand eines interdisziplinären, thematisch breit angelegten und aus neuen Forschungsvorhaben und -ergebnissen gespeisten Vortragsprogramms war die Aufgabe der Tagung „Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts: Forschungen zu Kult und Herrschaft der Führer-Regime in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Analysen, Konzepte und Vergleiche.“1 Veranstaltet wurde die Tagung unter Kooperation des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Eberhard Karls Universität Tübingen und des Herder-Instituts Marburg e.V. Die Leitung der verschiedenen Sektionen hatten HEIDI HEIN-KIRCHER (Herder-Institut Marburg e.V.), BENNO ENNKER (Eberhard Karls Universität Tübingen) und JAN BEHRENDS (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung) inne.

Zur Einleitung stellte Hein-Kircher einige theoretische Überlegungen zu politischen Kulten und deren Ausprägungen an. Im Mittelpunkt stand die Abgrenzung von Symbol, Ritual und Mythos als Werkzeuge zur Definition eines Führerkultes. Ennker wählte anschließend eine kulturwissenschaftliche Perspektive. Demnach sei der Führerkult in durch den Pluralismus und Rationalisierungsprozesse gewachsene Lücken gestoßen und durch historische Gründungssituationen begünstigt gewesen. Einen besonderen Stellenwert maß Ennker der affirmativen Führer-Rhetorik und dem persönlichen Charisma des Führers bei. Weiterhin warf er die Frage nach dem Verhalten im Kult konstituierter Gesellschaften nach dem Tod des Führers und hiermit verbundener Existenzkrisen auf.

SANDRA DAHLKE (Helmut Schmidt Universität Hamburg) eröffnete die erste Sektion mit dem Thema „Personenkulte und Kultproduzenten. Emel’jan Jaroslavski (1878-1943), Stalin und der Stalinkult“. Dahlke erläuterte den Werdegang Jaroslavskis als von anfänglichen Problemen und Maßregelungen der Sowjetführung geprägt. Es wurde deutlich, dass Jaroslavski selbst gerne den Status einer Kultfigur für sich beansprucht hätte. In der Folge sei er jedoch durch einen Wandel von Fremd- zu Selbstdisziplinierung zu einem bedeutenden Funktionär im Wettstreit um die Führung in der Kultproduktion um Stalin aufgestiegen. Weiterhin belegte Dahlke den Einfluss Stalins auf Jaroslavski bzw. dessen Frau anhand aufschlussreichen Quellenmaterials als von geradezu sakralem Charakter. In der Diskussion wurde die Frage erörtert, ob die Kultproduktion um Stalin auf eine auslösende Direktive zurückzuführen sei, wobei Dahkle auf die schlechte Quellenlage verwies.

Nachfolgend behandelte DANIEL URSPRUNG (Universität Zürich) das Thema „Herrschaftslegitimation im Bild. Der Führerkult um Ceauscescu im Vergleich mit Stalin und Enver Hoxha“. Zu Anfang konzentrierte er sich auf eine Erläuterung von Bildkomposition und -manipulation als Mittel der politischen Propaganada. Im Mittelpunkt stand die tatsächliche oder durch Retuschen herbeigeführte Absenz realer Instanzen der Herrschaftslegitimation. Ursprung gelang die Verteidigung der These, dass durch diese Abkopplung und die Einbeziehung nicht handlungsfähiger Instanzen – Volksmassen, legendäre Ahnenfiguren, ausländische Machthaber, etc. – eine Entrückung Ceauscescus in die unzugängliche Sphäre realisiert werden konnte. Dies konnte er auch für den Hoxha- und den Stalinkult belegen. Einen weiteren Fokus legte er auf die Bedeutung ritueller Inszenierungen und betonte die Notwendigkeit des zumindest zum Schein aufrecht erhaltenen Selbstentschlusses der Teilnahme der Bevölkerung an denselben.

Hieran anschließend referierte NICOLA HILLE (Eberhard Karls Universität Tübingen) zum Thema „Der Führerkult im Bild. Die Darstellung von Stalin, Hitler und Mussolini in der politischen Sichtagitation der 1920er bis 1940er Jahre. (...)“. Eingangs formulierte sie die These, dass die Gemeinsamkeiten in der visuellen Propaganda die offensichtlichen ideologischen Unterschiede der untersuchten Kulte übersteigen würden. Hierzu zeigte sie anhand zeitgenössischer Publikationen parallele Elemente auf, unter anderem die Verwendung moderner Bildtechniken, die genealogische Argumentation und die visuelle Konstruktion einer allmächtigen Führerpersönlichkeit. Sehr anschaulich erschien hier der Vergleich mit dem Titelbild von Thomas Hobbes´ „Leviathan“. Auch die Einbeziehung intimer, privater Fotographien ist als positiv hervorzuheben, wenngleich der Verfasser die Formulierung einer in den Bildern immanenten „Welt ohne Gewalt“ mit Verweis auf den in den Uniformen verkörperten Militarismus ablehnt.

Im Abschlussvortrag der ersten Sektion widmete sich PETRU WEBER (Institut für Vergleichende Geschichte Berlin) dem Thema „Der Mythos des Marschalls Antonescu im postkommunistischen Rumänien“ zu. In einem weitgehend deskriptiven Abriss der Beurteilung des Regimes seit dessen Sturz 1944 erläuterte Weber, wie anfänglicher Kritik und dem Vorwurf der Kollaboration mit dem Nationalsozialismus unter der kommunistischen Herrschaft eine längere Phase der Ignoranz gefolgt sei. Verständlich gelang die Darstellung der Rehabilitierung Antonescus, welche Ende der 1970er-Jahre eingesetzt, sich in nationalistisch geprägten biographischen Forschungen der 1980er-Jahre fortgeführt und in einer Verklärung Antonescus als einem tragischen Retter resultiert habe. Die Entwicklung des Bildes Antonescus bis zur Gegenwart konnte Weber mit der Abfolge einer in Denkmalseinweihungen gipfelnden Glorifizierung und der mit dem NATO-Beitritt Rumäniens einsetzenden Demontierung derselben erläutern. Im Plenum wurde die Angemessenheit des Kultbegriffes auf Antonescu überwiegend kritisch gesehen. Die Notwendigkeit einer scharfen Abgrenzung von Verehrung und Kult sowie der Nutzen einer Kanonisierung von Kulten wurden hervorgehoben.

Die zweite Sektion eröffnete STEFAN DIETRICH (Universität Zürich) mit seinem Vortrag „Ante Pavelic: Hitlers Statthalter im ´Unabhängigen Staat Kroatien´ 1941-45“. Eingangs legte Dietrich die Hintergründe um die Ustascha-Bewegung und Pavelics Aufstieg dar. Diesem Aspekt folgte eine Erläuterung des Selbstverständnisses der kroatisch-arischen Blut- und Bodenideologie, welche er – unter Hervorhebung des Charakters des Bauerntums – als weitgehend parallel zur nationalsozialistischen Ideologie belegen konnte. Bezüglich des Pavelic-Kultes betonte Dietrich vergleichbare Strukturen zu anderen Führerkulten, beispielsweise im Bereich der Indienstnahme von Medien. Die Diskussion zeigte, dass der Kult um Pavelic besonders anfangs hinter der eigentlichen Programmatik zurückgestanden hatte und erst ab 1943 verstärkt produziert wurde. Im Hinblick auf die Entwicklung der 1990er-Jahre bis heute gelang Dietrich anhand aktuellen Quellenmaterials die Darlegung der Stilisierung von Bleiburg und Kreuzburg zu Opfermythen. Es finde sich zudem die Tendenz die Verbrechen der Ustascha mit den Aktivitäten der Partisanen aufzuwiegen, bzw. gleichzusetzen.

Im Anschluss widmete sich HENRIK EBERLE (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) dem Vortrag „Drei Diktatoren: Bevölkerungspost an Hitler, Ulbricht und Honecker (1925 bis 1989) (...)“. Zu Anfang unterstrich er die Bedeutung von Führerbriefen als Indikator für die Wirkung eines Führerkultes, verwies aber zugleich auf den unterschiedlichen Nachrichtenweg im Systemvergleich. Einer Selektion der Post an Hitler und einer beratenden, demoskopischen Analyse hätten viele dokumentierte Einzelfälle und eine nur statistische Auswertung im System der DDR gegenüber gestanden. Maßgebliche Unterschiede belegte Eberle anhand zahlreicher Quellen und einer teilweise psychologischen Deutung für den Charakter der jeweiligen Formulierungen, wonach die Briefe an Hitler insgesamt distanzierter verfasst seien. Als Ursachen hierfür kontrastierte Eberle das volksnahe Verständnis des SED-Regimes mit der „unmenschlichen“ Ideologie des Nationalsozialismus. Abschließend postulierte Eberle, dass die Untersuchung von Führerbriefen keine Grundlage einer retrospektiven Meinungsforschung darstellen könne, da keine Gewissheit über genaue Maßstäbe der Selektion und somit keine objektive Quellenbasis vorhanden sei.

APOR BALÁZS (European University Institute Florence) lenkte mit seinem Exposé, „The Reception of Communist Leader Cults: A Reassessment“ den Blick auf Ungarn unter der Herrschaft Mátoyás Rákosis. Er erläuterte, dass trotz grundsätzlicher Schwierigkeiten historiographischer Rezeptionsforschung durch parteiinterne Untersuchungen grundsätzliche Mängel der Propaganda um Rákosi und das kommunistische System überliefert seien. Hierbei umriss Balázs zu Anfang die Gefahr von Missverständnissen durch die Bedeutung öffentlicher Dekrete innerhalb des Kultes sowie das aus materiellen Mängeln und einer unzulänglichen Eingebundenheit der Parteibasis resultierende politische Desinteresse der Bevölkerung. Weiterhin betonte er mit Verweis auf die Bedeutung von Multiplikatoren die schlechte Ausbildung der Parteifunktionäre, bzw. die schlechte Kommunikation und Propaganda theoretischer Thematiken. Es gelang die Präsentation des Falles Rákosis als eines verfehlten Versuchs der Installation eines Kultes. Im Konsens, dass ähnliche Probleme auch für andere Kulterscheinungen nachzuweisen seien, kristallisierte sich die Notwendigkeit einer Studie zum Weg der Kultidee von Zentrum zur Peripherie heraus.

Zur Eröffnung der dritten Sektion sprach ALEXEY TIKHOMIROV (Chemnitz) zum Thema „Stalin-Kult zwischen Zentrum und Peripherie (...)“. Hierbei erläuterte er, wie aus der Präsentation der Führerfigur Stalins eine Ehrung entwickelt worden war, die eben diesen als Hoffnungsträger für eine neue, stabile Friedensordnung aufgebaut hätte. Als Mittel hierzu legte Tikhomirov neben der Zensur auch die Einführung von Ritualen und Inszenierungen dar, beispielsweise die direkt übertragene Beerdigung Stalins. Anhand anschaulicher Quellen gelang es Tikhomirov auch eine ausgeprägte visuelle Vereinnahmung des öffentlichen Raumes zu belegen. Als besonderes Charakteristikum des Stalin-Kultes in der DDR sei letzterer zudem eng mit weiteren Anti-Kulten und Kulten verbunden gewesen, zum Beispiel der Beförderung Berlins als Zentrum des sozialistischen Deutschlands – im Dienste der Festigung einer sozialistischen Identität. Abschließend erörterte Tikhomirov die mit der Entstalinisierung gewachsene Lücke im ostdeutschen Bewusstsein, welche zu der Entwicklung zahlreicher kleinerer Kulte geführt habe.

Mit literaturwissenschaftlicher Ausrichtung widmete JOANNA FLINIK (Pommersche Akademie Slupsk) sich anschließend der Thematik „Zwischen Idylle und Ideologie. Das literarische Bild Hinterpommerns auf dem Weg zum Hitlerstaat in der deutschen Literatur nach 1945.“ Hierbei bemühte sie sich die Texte als Darstellung der Hintergründe des Aufstiegs des Nationalsozialismus auszulegen und betonte, dass die Hinwendung zu unmittelbaren Nöten, der Arbeitslosigkeit und dem Mangel an Stabilität, in den Romanen als ursächlich erscheine. Auch die Wirkungskraft der nationalsozialistischen Ideologie und des Charismas Hitlers als eines religiös behafteten Führers sei ein häufiges Motiv. Weiterhin erläuterte Flinik die große Spannbreite der meist tragischen Schicksale, welche von Tätern über Mitläufer bis hin zu Gegenspielern reiche und meist die Machtlosigkeit des Einzelnen thematisiere. In diesem Zusammenhang erscheine das Junkertum stets als der Träger von Moral und Intelligenz, das sich im Erkennen des Wandels sukzessive ins Private zurückziehe. In der Diskussion wurde der Nutzen weiterer Disziplinen für ein umfassendes Verständnis grundsätzlich gewürdigt. Gleichwohl erschien die Untersuchung als dem Tagungsthema nicht in vollem Maße angepasst. Kritisch zu bewerten ist, dass der Vortrag nicht deutlich genug zwischen den Romanen als später entstandener Prosa mit eigener Intention und einer zeitgenössischen Quelle zu trennen vermochte, was sich insbesondere in der unkommentierten Einbettung von Zitaten in eine geschichtliche Zustandsbeschreibung Hinterpommerns äußerte.

Im Anschluss referierte RALF MEINDL (Albert-Ludwigs Universität Freiburg) zum Thema „(...) Der ostpreußische Gauleiter Erich Koch als ´Führer der Provinz´“. Unter Zuhilfenahme zeitgenössischer Publikationen gelang es Meindl die herausgehobene Stellung Kochs in der öffentlichen Darstellung zu belegen – als Werkzeuge zu dieser medialen Inszenierung seien die durch Koch verlegte Preußische Zeitung und die spätere Erich-Koch Stiftung zu nennen. Die Grundlage für Kochs Popularität sah Meindl aber in der Propaganda um die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des Jahres 1933, im Zuge derer die Arbeitslosigkeit durch den so genannten Erich Koch-Plan getilgt worden war. Die hier einsetzende Darstellung Kochs als Messias sei als Beginn eines provinziellen Personenkults zu sehen. Das Auftreten Kochs als Inkarnation des ostpreußischen Nationalsozialismus erläuterte Meindl anhand der mit der Position des Gauleiters und dem Staatsamt des Preußischen Oberpräsidenten gegebenen doppelten Machtposition. Somit sei Koch in seiner Parteifunktion zwar grundsätzlich in Weisungsverhältnisse eingebunden, durch sein Amt aber in einer unabhängigen, reichs- und führerunmittelbaren Stellung gewesen. Meindl gelang die Verteidigung der These, dass das nationalsozialistische Deutschland trotz aller Strahlkraft Hitlers nicht als rein zentralistisches System verstanden werden könne und Führerpersonen an der Peripherie mehr Aufmerksamkeit zu widmen sei.

Anhand zweier Witze, die Brežnews Defizite humoristisch verzerren, eröffnete ANDREAS OBERENDER (Humboldt-Universität zu Berlin) den Eröffnungsvortrag der vierten Sektion, „(...) Führerherrschaft und Führer-kult unter Leonid Brežnev“. Diese respektlose Stimme des Volkes setzte er in Kontrast zum Einsetzen des Aufbaus eines Brežnew-Kultes in den Jahren 1970/71, im Rahmen dessen der Versuch unternommen worden sei, Brežnew zu einem vielfältig begabten Sowjetführer zu stilisieren. Zum Beweis führte Oberender zahlreiche Beispiele an, darunter die Verleihung des Siegesordens und die Verbreitung theoretischer Schriften Brežnews. Es gelang die Verteidigung der These, dass der Fall Brežnews als der geplante Versuch der Konstruktion eines Führerkultes, bzw. der zentralen Elemente eines solchen zu verstehen ist. Des Weiteren steche dies in der Genese jenes Kultes insbesondere deshalb hervor, als Brežnew doch weder eine besonders charismatische Erscheinung, noch rhetorische Begabung aufweisen hätte können. So zeigte sich auch im Plenum Einigkeit, dass dieser Kult unter den zahlreichen Kulten des 20. Jahrhunderts zweifellos einen Sonderfall darstelle. Dies wurde des Weiteren als Beleg dafür herangezogen, dass die Kultproduktion weniger an die Bevölkerung als an die Führung gerichtet war, Brežnew also als einende Figur des Zentralkomitees gedacht war.

ANDREA ORZOFF (New Mexico State University Las Cruces) erörterte nachfolgend das Thema “State Saint: Creating The Masaryk Cult in Interwar Czechoslovakia“. Nach Orzoffs Ansicht bestand der Hintergrund der Produktion des Kultes um Masaryk in der innenpolitischen, integrativen Funktion der Einung der zahlreichen Ethnien des tschechoslowakischen Vielvölkerstaates. Bezüglich der Mittel der Kultproduktion hob Orzoff insbesondere visuelle Inszenierungen in Malerei, Film und Photo und die Kontrolle der Massenmedien hervor. Es wurde deutlich, dass der Kult um Masaryk im Dienste einer Assimilation der Republik an westeuropäische Vorbilder initiiert worden war. Der Kult um Masaryk habe hierbei als Instrument eine – im Vergleich mit anderen Kulterscheinungen – herausgehobene Rolle in der Legitimation eines modernen Staates dargestellt und sei als demokratischer Kult zu bezeichnen. Nichtsdestotrotz seien zentrale Elemente des Kultes rückwärtsgewandt gewesen, beispielsweise der an Kaiser Franz Josef I. angelehnte militärische Personenkult um Masaryk.

OLAF MERTELSMANN (University of Tartu) beschloss hiernach den zweiten Veranstaltungstag mit seinem Vortrag „Führerkulte im Ausverkauf. Estland 1939-1945“. Im Gegensatz zum bisherigen Tagungsprogramm bemühte Mertelsmann sich im Rahmen seines Vortrages sechs eigenständige Kulterscheinungen zu diskutieren. Es gelang ihm die unterschiedlichen Charakteristika sowie die zugrunde liegenden Absichten der nationalen Kulte um Päts, Vares, Mäe und Karotamm zu erläutern und jene in Kontrast zu den oktroyierten Personenkulten um Stalin und Hitler zu setzen. Mertelsmann bemühte sich um den Beleg der Annahme, dass den Kultproduktionen in ihrer chronologischen Abfolge ein abnehmender Erfolg beizumessen sei. Unter anderem zeige sich dies darin, dass nur Päts – insbesondere durch den ihm zugeschriebenen Wirtschaftsaufschwung – eine aus heutiger estnischer Sicht gute Beurteilung erhalte. Nach der Ansicht des Verfassers ist positiv hervorzuheben, dass durch die thematische Bandbreite des Vortrags eine Bündelung zentraler analytischer Kategorien erreicht wurde, darunter beispielsweise die nach Ursprung, Produzent und Realität von Kulterscheinungen.

Zum Abschluss des regulären Tagungsprogramms widmete sich WERNER SUPPANZ (Karl-Franzens-Universität Graz) dem Thema „(...) Der austrofaschistische Dollfuß-Kult zwischen Konkurrenz-Faschismus und Rekatholisierung“. In der Erläuterung Dollfuß´ Aufstieg betonte Suppanz insbesondere die nach dem Staatstreich der Exekutive initiierte Einung der atomisierten österreichischen Gesellschaft unter Einbeziehung der katholischen Kirche und einer österreichisch-deutschen Ideologie. Als außergewöhnliche Eigenschaft jener im Vergleich mit anderen Kulterscheinungen hob Suppanz das religiöse Moment der Verehrung Dollfuß´ als Sendbote Gottes hervor, welches sich auch nach dessen Tod in einer Beurteilung als Märtyrer und Heiland geäußert habe. Ein ebenfalls singuläres Element sei der durch die körperliche Erscheinung Dollfuß´ gegebene Verzicht auf einen Männlichkeitskult, wie im Falle Mussolinis ausgeprägt umgesetzt. Die nachfolgende Diskussion erörterte die Problematik, ob durch das Phänomen des Konkurrenzfaschismus, der Imitation des nationalsozialistischen Deutschlands, die Übernahme durch dasselbe ungewollt eingeleitet wurde.

Eine richtungsweisende Analyse schloss Behrends mit dem Thema „Duce – Führer – Vožd’ – Überlegungen zu einer vergleichenden Geschichte des Führerkultes in Europa“ an. Von besonderer Bedeutung für den Vergleich von Kulterscheinungen würdigte er die nationalen, historisch-kulturellen Kontexte, welche er letztlich sogar als maßgeblich für den Erfolg einer Kultproduktion festhielt. Demnach seien Führerkulte dann erfolgreich gewesen, wenn sie an weit im öffentlichen Bewusstsein zurückreichende Mythen, religiöse Bestände und Narrative angeknüpft hätten. Demgegenüber formulierte er die offene Frage nach den Ursachen der Kernzeit des europäischen Führerkultes von 1915 bis 1955, sei hierin doch ein Beleg dafür zu sehen, dass auch der Zeitgeist in der Beurteilung von Kultentwicklungen zu berücksichtigen sei. Als Basis für eine vergleichende Untersuchung von Führerkulten regte Behrends weiter die Untersuchung derselben bezüglich ihrer chronologischen Veränderungsprozesse an, beispielsweise der durch die Alterung der Kultperson vorgegebenen.

Nach einer kurzen Zusammenfassung des Tagungsprogramms, eröffneten Hein-Kircher und Ennker die abschließende Diskussion im Plenum. So wurden in Bezug auf die „Produktionsweisen der Führerkulte“ eventuelle Gender-Aspekte fokussiert, wobei Suppanz das Phänomen der hegemonialen Männlichkeit im Führerbild und Wechselbeziehungen desselben mit weiblichen Bevölkerungsteilen als Forschungsfeld empfahl. Die Rezeptionsforschung erschien nach Hein-Kircher und Eberle im Rückblick problematisch, da die tatsächliche Wirkung eines Führerkultes nie scharf von den Absichten der Kultproduktion abzugrenzen und weiter nicht durch einen umfassenden Quellenfundus zu untersuchen sei. Im Rückblick auf die Sektion der „Kulte an der Peripherie“ wurde, insbesondere mit Verweis auf den Vortrag Meindls, das Forschungsfeld des Abgleichs und der Interaktion von regionalen und übergeordneten Kulterscheinungen problematisiert, bzw. das Bedürfnis nach einer diesbezüglichen Arbeit unter komparativen Gesichtspunkten geäußert. Als weitere Fragestellung zeigte sich die nach kultischen, bzw. kultähnlichen populistischen Verehrungen in modernen demokratischen Staaten. Diesbezüglich zeigte sich die Notwendigkeit einer gültigen Definition und Typologie von Führerkulten. Hieran anschließend verwies Hein-Kircher erneut auf die Anwendung der Kategorien Mythos, Ritual und Kult in künftigen Forschungsarbeiten. Mertelsmann bewertete die Diskussion als in zu hohem Maße kulturgeschichtlich ausgelegt und verwies auf wirtschafts- und sozialgeschichtliche Dimensionen, welche er vor allem für die Entstehung von Kulten als dominierend beurteilte.

Es ist zu resümieren, dass die Tagung in einer angenehmen Atmosphäre in der Lage war, zentrale Fragen und Probleme der Forschungen zu Führerkulten zu diskutieren und zahlreiche neue Kontroversen und Perspektiven für künftige Forschungsprojekte zu eröffnen. Wenngleich ihr Inhalt, wie auch von Hein-Kircher bemerkt, sich nicht immer streng an der Sektionseinteilung orientierte, fielen die Vorträge insgesamt durch eine große thematische und methodische Bandbreite in positiver Weise auf. Dass die Analyse und der Vergleich von Führerkulten als historiographische Disziplin einen wichtigen Beitrag zur Forschung des 20. Jahrhunderts leisten konnte ist unbestritten. Umso deutlicher wurde durch die Tagung gezeigt, dass aufgrund spürbarer Nachwirkungen und der bestehenden Aktualität jener Kulterscheinungen, weitere Arbeiten anzuregen, zu unterstützen und interessiert zu verfolgen sein werden. Eine Veröffentlichung der Tagungsergebnisse wurde durch das Herder-Institut Marburg e.V. angekündigt.

Konferenzübersicht

Benno Ennker, Heidi-Hein-Kircher: Einführung in die Tagung.

Sektion I: Die Produktionsweisen der Führerkulte

Sandra Dahlke: Personenkulte und Kultproduzenten. Emel’jan Jaroslavski (1878-1943), Stalin und der Stalinkult.
Daniel Ursprung: Herrschaftslegitimation im Bild. Der Führerkult um Ceauscescu im Vergleich mit Stalin und Enver Hoxha.
Nicola Hille: Der Führerkult im Bild. Die Darstellung von Stalin, Hitler und Mussolini in der politischen Sichtagitation der 1920er bis 1940er Jahre. Eine vergleichende Analyse der Visualisierung von Personenmythen in der Bildpropaganda dreier totalitärer Staaten.
Petru Weber: Der Mythos des Marschalls Antonescu im postkommunistischen Rumänien.

Sektion II: Die Rezeption und ihre Bedingungen

Stefan Dietrich: Ante Pavelic: Hitlers Statthalter im „Unabhängigen Staat Kroatien“ 1941-45.
Henrik Eberle: Drei Diktatoren: Bevölkerungspost an Hitler, Ulbricht und Honecker (1925 bis 1989) – empirische Untersuchungen und Ansätze zur Kompara-tistik.
Apor Balázs: The Reception of Communist Leader Cults: A Reassessment.

Sektion III: Kulte an der Peripherie

Alexey Tikhomirov: Stalin-Kult zwischen Zentrum und Peripherie: Rhetorik und Rituale einer Kult-Gemeinschaft im Sozialismus 1945-1956 (Fall Ostdeutschlands).
Joanna Flinik: Zwischen Idylle und Ideologie. Das literarische Bild Hinterpommerns auf dem Weg zum Hitlerstaat in der deutschen Literatur nach 1945.
Ralf Meindl: Der „Ostpreußen-Führer“. Der ostpreußische Gauleiter Erich Koch als „Führer der Provinz“.

Sektion IV: Führer in der Politischen Kultur

Andreas Oberender: „Das Haupt unserer Partei und unseres Staates“. Führerherrschaft und Führer-kult unter Leonid Brežnev.
Andrea Orzoff: State Saint: Creating The Masaryk Cult in Interwar Czechoslovakia.
Olaf Mertelsmann: Führerkulte im Ausverkauf. Estland 1939-1945.
Werner Suppanz: „Er gab für Österreich sein Blut, ein wahrer deutscher Mann“. Der austrofaschistische Dollfuß-Kult zwischen Konkurrenz-Faschismus und Rekatholisierung.
Jan Behrends: Duce – Führer – Vožd’ – Überlegungen zu einer vergleichenden Geschichte des Führerkultes in Europa.
Benno Ennker, Heidi Hein-Kircher: Zusammenfassung - Versuch einer Typologie.

Anmerkung:
1 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=7620> (30.10.2007)

Kontakt

Heidi Hein-Kircher

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