Kulturgeschichtetag 2007

Kulturgeschichtetag 2007

Organisatoren
Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Johannes Kepler Universität in Linz/Donau unter Leitung von Peter Becker
Ort
Linz
Land
Austria
Vom - Bis
09.09.2007 - 11.09.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Peter Becker, Johannes Kepler Universität, Linz; Alexander C.T. Geppert, Harvard University, Cambridge

Mit der Etablierung der Neuen Kulturgeschichte in den letzten zehn, fünfzehn Jahren ist die Geschichtswissenschaft bunter, vielfältiger und interessanter geworden. Neue Themenfelder sind erschlossen worden, breite Theoriedebatten und eigene Methodendiskussionen haben sich entwickelt. Während ihre Gegner der Kulturgeschichte immer wieder das Fehlen eines verbindlichen Kanons und mangelhafte Synthetisierbarkeit vorgehalten haben, ist ihre Konjunktur nach wie vor ungebrochen. Ist die Kulturgeschichte aber mit der Volljährigkeit zugleich auch in die Jahre gekommen? Den Versuch, eine Zwischenbilanz zu ziehen, stellte der Kulturgeschichtetag dar. Er fand vom 9. bis zum 11. September an der Johannes Kepler Universität in Linz/Donau statt und wurde organisiert vom Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte unter Leitung von Peter Becker und seinem Team. Während der drei Tage konnten die über 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus acht Ländern sich mit mehr als achtzig Vorträgen in zwanzig Sektionen auseinandersetzen. Für einzelne Veranstaltungen wurde darüber hinaus mit dem seit 1979 stattfindenden und weit über Linz hinaus bekannten Ars Electronica Festival, dem Oberösterreichischen Landesmuseum und der Stadt Linz kooperiert. Das umfangreiche Programm lässt sich unter http://www.kulturgeschichtetag.jku.at/news.php einsehen.

Für das Organisationsteam war die anregende Vielfalt der Neuen Kulturgeschichte der wesentliche Impuls, das erprobte Tagungsformat des Historikertages einmal auf dieses Feld zu übertragen, freilich in einem überschaubareren Rahmen. Dabei wurde von Beginn an größtmögliche Transparenz angestrebt: Ein breit ausgeschriebener Call for Papers hatte dazu eingeladen, entweder vollständige Sektionen inklusive eines Chairs oder aber Vorschläge für Einzelbeiträge einzureichen. Alle Einreichungen wurden vom Organisationsteam in enger Zusammenarbeit mit dem international besetzten Beirat gesichtet, ausgewählt und im Fall der Einzelreferate nach thematischen und methodischen Gesichtspunkten zu eigenen Panels zusammengestellt.

Der Kulturgeschichtetag wollte der Vielfalt der Neuen Kulturgeschichte gerecht werden, indem er allen Interessierten eine Plattform zur Diskussion von Forschungsergebnissen, zum Aufbau neuer Kooperationsformen und zum intensiven fachlichen Austausch bot. Diese drei Zielvorstellungen wurden bei der Gestaltung der Tagung konsequent umgesetzt: Die Zahl der gleichzeitig stattfindenden Sektionen wurde auf drei begrenzt. Durch die Bereitstellung von Zeitfenstern und Besprechungsräumen förderte das Organisationsteam informelle Gruppenbildungsprozesse. Präsentationen verschiedener künstlerischer Projekte und mehrere prominent besetzte Podiumsdiskussionen am Abend rundeten das Angebot ab.

Eine Veranstaltung dieser Größenordnung bringt es mit sich, dass der Tagungsbericht unmöglich eine Zusammenfassung aller Beiträge und Diskussionen bieten kann. An ihre Stelle soll ein knapper Überblick über zentrale Themen und Fragestellungen treten, die während der Veranstaltung diskutiert wurden und in der gemeinsamen Abschlussdiskussion auf besonderes Interesse stießen. Einzelne Referate werden dabei zur Illustration herangezogen, ohne damit eine Wertung vornehmen zu wollen.

Die achtzig Vorträge behandelten unterschiedliche Themen der europäischen und internationalen Geschichte und deckten dabei einen Zeitraum vom späten Mittelalter bis zur unmittelbaren Vergangenheit ab, mit einem gewissen Schwerpunkt auf dem Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Dabei spannten sie einen breiten thematischen Bogen, der von der Bildpolitik der deutschen Bundesregierung im Kampf gegen den Terrorismus im Herbst 1977 (CHARLOTTE KLONK) über die mediale Konstruktion heterosexueller Identität in der Jugendzeitschrift „Bravo“ (LUTZ SAUERTEIG), Klassifikationen von Arbeit und Nichtarbeit in der „Ordnung der Berufe“ (ALEXANDER MEJSTRIK) bis hin zu den Geständnissen eines Archivalienfetischisten (MARIO WIMMER) reichte. Die vier Beispiele lassen sich auf den ersten Blick den gängigen Trends der Neuen Kulturgeschichte zuordnen – der Auseinandersetzung mit Subjektivität, mit Medialität, mit Politik und Wirtschaft, aber auch mit sprachlicher und visueller Repräsentation, mit Klassifikationssystemen und Fremdbildern, sowie Praxisformen und Performanz. Gleichzeitig kann man bereits an den Titeln der Referate erkennen, dass diese Schwerpunkte in vielfältiger Kombination verhandelt wurden – nicht nur in beinahe schon klassischen Kopplungen wie Subjektivität und Medien oder Repräsentation und Performanz, sondern auch in neueren Verschränkungen, etwa von Wissenschaft, Wirtschaft und Subjektivität.

Jede als Gesamtpaket vorgeschlagene Sektion basierte auf einem gemeinsamen konzeptionellen Rahmen. Darunter konnten durchaus heterogene Forschungsgegenstände verhandelt werden. Exemplarisch lässt sich dies am Panel "Zwischen Disziplinierung und Selbstentwurf: Das Subjekt der modernen Therapeutik" am ersten Konferenztag aufzeigen. Diese Sektion vereinigte Beiträge zur Sexualmedizin und Psychoanalyse der Jahrhundertwende (CHRISTA PUTZ), zur Verschränkung von Rechts- und Medizinreformen in der Schweiz (BRIGITTA BERNET), zur Ratgeberkommunikation in den 1980er- und 1990er-Jahren (PETER-PAUL BÄNZIGER) sowie zur Rolle und Bedeutung der Fotografie in gegenwärtigen therapeutischen Prozessen (FRANZISKA LAMOTT/KATHRIN MÖRTL). In dieser Zusammenstellung wurde die Reflexion über konkurrierende Diagnose- und Therapieformen aus der konzeptuellen Verengung auf den medizinisch-therapeutischen Bereich herausgenommen und durch Fragen über die Austauschbeziehungen zwischen Medizin und Recht sowie mit der Reflexion über die Anwendung therapeutischer Beratungskonzepte im massenmedialen Raum erweitert. Die Kohärenz der aus Einzelvorschlägen zusammengesetzten Sektionen war im Vergleich etwas geringer, aber auch hier entstand in den Diskussionen eine produktive und kreative Dynamik, die sich aus der Konfrontation unterschiedlicher Perspektiven auf der Grundlage gemeinsamer Fragestellungen und Methodenprobleme ergab.

Ließen sich neue Trends, Tendenzen, Entwicklungen beobachten? Der Kulturgeschichtetag bot hier ein uneindeutiges Bild, scheint damit aber den Stand der Kulturgeschichtsschreibung insgesamt recht präzise zu spiegeln: Zugänge und Fragestellungen erweitern sich stetig, Grenzen eines solchen Zugriffs sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erkennbar. Kulturgeschichtlich inspirierte Herangehensweisen sind selbst in der Zeitgeschichte keine Seltenheit mehr, wie etwa die "1977" überschriebene Sektion zum deutschen Herbst zeigte. Die doppelte – historische wie konzeptionelle – Herausforderung der Globalisierung und die damit verbundene Erschließung neuer Forschungsobjekte ist programmatisch längst angenommen, selbst wenn die empirische Umsetzung noch wie üblich hinterher hinkt. Allerdings wurde in persönlichen Gesprächen am Rande der offiziellen Tagung immer wieder ein Unbehagen laut über das zunehmende Auseinanderdriften zwischen kulturwissenschaftlichen Forschungsclustern und der sich in absehbarer Zeit wohl kaum verändernden disziplinären Organisation der Universität.

Die Präsentationen und Diskussionen am Kulturgeschichtetag zeigten deutlich, dass besondere Innovationsschübe vor allem von den Debatten um Transnationalität und Transdisziplinarität ausgehen. Explizit transferhistorisch vorgehenden und transnational operierenden Arbeiten kommt inzwischen eine sehr viel größere Bedeutung zu als noch vor wenigen Jahren; explizit vergleichend angelegte Projekte wurden in Linz kaum mehr vorgestellt. Insbesondere die Transdisziplinarität hat als konstitutives Merkmal der kulturwissenschaftlichen Forschung erhebliche empirisch-praktische Konsequenzen. Die Neue Kulturgeschichte erfordert von ihren Autoren eine Vertrautheit mit theoretischen Grundlagen zur Analyse von Subjektivität, Praxisformen, Diskursen und Medien. Zusätzlich benötigen derartig arbeitende Historikerinnen und Historiker selbstverständlich eine solide empirische Fachkenntnis jener Objektbereiche, mit denen sie sich auseinandersetzen. Das zeigte sich beispielsweise in den verschiedenen wissenschafts- und wirtschaftshistorischen Projekten, die in Linz vorgestellt wurden, sehr deutlich – etwa in den Vorträgen zum Spannungsfeld von Arbeit und Arbeitswissenschaft (IRENE RAEHLMANN), der Bedeutung von Prothesen für die Körper-Bilder der Weimarer Republik (BOAZ NEUMANN) sowie den unterschiedlichen Stilen visueller Kommunikation von Wissen und Wissenschaft in den 1960er- und 1970er-Jahren (INA HEUMANN).

Auf diesen Beobachtungen aufbauend lassen sich drei weiterführende Überlegungen zur Struktur der Neuen Kulturgeschichte anstellen: zum Stellenwert von 'Geschichte' innerhalb dieses neuen Feldes geschichtswissenschaftlichen Arbeitens, zum Begriff des Dilettantismus sowie zum Komplex der Übersetzung. Erstens war allen Projekten eine historische Dimension gemeinsam, die sich nicht darauf beschränkte, dass ihre Forschungsobjekte in der Vergangenheit liegen. Sie kam vielmehr im Interesse an Transformationen über Zeit und den spezifischen Konstellationen zum Ausdruck, in denen sich die analysierten Praxisformen, Diskurse und Subjektivitäten ausbildeten und veränderten. Diese Historisierung stellte die kulturwissenschaftlichen Forschungsresultate in einen geschichtswissenschaftlichen Bezugsrahmen und ermöglichte eine breitere Diskussion.

Die zweite Überlegung bezieht sich auf eine Besonderheit der Neuen Kulturgeschichte, die in der Schlussdiskussion mit dem Begriff des Dilettantismus provokant auf den Punkt gebracht wurde. Die Nutzung unterschiedlicher theoretischer und methodischer Instrumente, ihre Anwendung auf spezialisierte und ausdifferenzierte Bereiche des Sozialen, der Wirtschaft sowie der Politik und Wissenschaft erfordert die Bereitschaft, sich mit diesen Forschungsobjekten auseinanderzusetzen, ohne jedoch den überkommenen Kanon an Fragen, Methoden und Konzepten der entsprechenden Disziplin in aller Vollständigkeit mit übernehmen zu können bzw. auch nicht übernehmen zu wollen. Aus der Perspektive des Fachwissenschaftlers, etwa des Verwaltungsexperten, des Mediziners oder des Naturwissenschaftlers, mag ein solcher Zugang dilettantisch scheinen. Aus der Sicht kulturwissenschaftlich arbeitender Historikerinnen und Historiker handelt es sich jedoch um eine notwendige Bewegung, die Überführung 'fremden' Wissens und der damit verbundenen Logiken in den eigenen Argumentations- und Referenzrahmen.

Damit ist drittens der Komplex der Übersetzung angesprochen. Begriff und Problem wurden im Eröffnungsvortrag von PETER BURKE – der selbst leider verhindert war, in Brendan Dooley jedoch ein glänzendes Alter Ego fand – als analytische Kategorie eingeführt. Für Burke ist Übersetzung ein wesentliches Werkzeug für die Auseinandersetzung mit Aneignungs- und Kommunikationsprozessen in der Moderne. Die mediale Vermittlung von Informationen und Orientierungswissen, der Austausch zwischen sozial und ethnisch definierten Gruppen, aber auch die wissenschaftliche Aneignung der physikalischen und sozialen Welt – sie alle beruhen auf vielfachen Übersetzungsleistungen aller beteiligten Akteure. Übersetzung ist zugleich eine alltägliche Erfordernis der transdisziplinären Praxis und als solche Kulturhistorikerinnen und Kulturhistorikern nur allzu vertraut. Es handelt sich um eine notwendige, wenn auch, Derrida zufolge, letztlich unmögliche Aufgabe, deren Lösung Kreativität nachgerade erzwingt.

In der lebhaften Schlussdiskussion wurden weitere grundlegende Fragen aufgeworfen: Benötigt die Kulturgeschichte eine gemeinsame Programmatik? Soll sie darin dem Beispiel der Sozialgeschichte folgen, die so vor Jahrzehnten die Geschichtsforschung umgestalten konnte? Wäre eine vergleichbare Geschlossenheit überhaupt erstrebenswert – oder liefe jede Art von Kanonisierungsversuch ihrem Anliegen diametral entgegen? Wie lässt sich dieses Anliegen präzise fassen, welcher kritische Impetus steht hinter der Kulturgeschichte? Und: Wer ist ihr anvisiertes Publikum? Für wen schreibt man eine Kulturgeschichte des Konsums, der medizinischen Therapie, der öffentlichen Verwaltung? Es wäre vermessen gewesen, konsensuelle Antworten auf so grundsätzliche Fragen von einer Veranstaltung dieser Größenordnung zu erwarten. Dass sie gestellt wurden, belegt jedoch das Bedürfnis der Kulturhistorikerinnen und -historiker, ihren Platz innerhalb der fachwissenschaftlichen Disziplinen und der öffentlichen Diskussion selbst zu bestimmen.

Die Neue Kulturgeschichte fasziniert durch methodische Innovation und argumentative Komplexität. Um Zielgruppen jenseits des engen fachwissenschaftlichen Bereichs anzusprechen, kann man Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler nur dazu ermuntern, sich vor allem um Klarheit zu bemühen: konzeptuell und analytisch, aber auch sprachlich. Denn für ein breiteres Publikum sind die Resultate der kulturgeschichtlichen Forschungen grundsätzlich von großer Bedeutung und Relevanz – nicht zuletzt zur Ausbildung von Kritikfähigkeit und als Motivation, sich auf die faszinierende Komplexität von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Vergangenheit und Gegenwart einzulassen.

Die Tagung wurde ermöglicht durch die großzügige Unterstützung der Johannes Kepler Universität, des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, des Landes Oberösterreich und der Stadt Linz. Auf Vorschlag der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist eine Wiederholung des Kulturgeschichtetages in zwei Jahren fest anvisiert. Zeit und Ort bieten sich gleichsam von selbst an: 2009 ist Linz Europäische Kulturhauptstadt.


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