60 Jahre Stalingrader Schlacht

60 Jahre Stalingrader Schlacht

Organisatoren
Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung, Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst, Militärgeschichtliches Forschungsamt und Universität Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.01.2003 -
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Von
Ulrike Winkler, Marburger Forschungsprojekt "Zwangsarbeit in Evangelischer Kirche und ihrer Diakonie, 1939-1945", Berlin

Keine Schlacht des Zweiten Weltkrieges ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen und der Russen nach wie vor so verankert wie die von Stalingrad. Wochenlang nahmen sich Presse, Funk und Fernsehen der Niederlage der deutschen Wehrmacht an der Wolga dokumentarisch und darstellerisch an. Im Wissenschaftsbetrieb hingegen stellte die von der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung initiierte und in Kooperation mit dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt Potsdam und dem Lehrstuhl für Militärgeschichte an der Universität Potsdam (Prof. Dr. Bernhard R. Kroener) durchgeführte Veranstaltung zum 60. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad eine Ausnahme dar.

Vor rund 140 Teilnehmerinnen und Teilnehmern legten russische und deutsche Wissenschaftler in der Aula der Universität Potsdam neue Erkenntnisse und Interpretationen dieser Schlacht vor. Zunächst sprach Prof. Dr. Bernd Wegner (Hamburg) über Fragen der deutschen Strategie seit dem Sommer 1942. Den Schwerpunkt seines Vortrags bildeten die Ursachen der Zerschlagung der 6. Armee im Winter 1942/43. Nach dem Stillstand vor Moskau 1941, so Wegner, veränderte sich das Ziel der weiteren Kriegsführung. Im Mittelpunkt standen nicht mehr die völlige Niederringung der Roten Armee, die Eroberung von "Lebensraum" und der "Kampf gegen den Bolschewismus", sondern die Eroberung der Ölreserven im Kaukasus, die als Rohstoffbasis einen langen und letztendlich siegreichen Krieg für Deutschland sichern sollten. Trotz dieser gewandelten Zielsetzung blieben der "rasseideologische Impetus" und "antibolschewistische Phantasien" jedoch der Motor der "Operation Blau".

Nach der sowjetischen Gegenoffensive, die am 19.11.1942 begann, wurde die Stadt Stalingrad für deutsche und verbündete Truppen, aber auch für sowjetische Soldaten zum Massengrab. Wie Dr. Michail Mjagkov (Moskau) erläuterte, fielen die Rotarmisten nicht immer im Kampf. Stalins Weisung Nr. 227 "Keinen Schritt zurück" hatten keineswegs alle Sowjetsoldaten verinnerlicht. Etwa 13.000 von ihnen wurden im Stalingrader Kessel wegen sogenannter "Panikmacherei" und versuchter Desertion verhaftet, erschossen oder in Strafkompanien versetzt. Dieses Kapitel des "Großen Vaterländischen Krieges" bedürfe weiterer Aufklärung. Andererseits betonte Mjagkov aber, daß Stalins Befehl vom 28.7.1942 bei den allermeisten Soldaten und insbesondere bei der sowjetischen Zivilbevölkerung größten Rückhalt gefunden und ihren Glauben an den Sieg gestärkt habe. Nur aufgrund der Geschlossenheit der Sowjetbevölkerung und der Roten Armee, zu welcher der genannte Befehl maßgeblich beigetragen habe, und dank erheblicher Material- und Truppenreserven konnte schließlich die "Operation Uranus" - die Einkesselung der 6. Armee und ihrer rumänischen, ungarischen und italienischen Verbündeten - gelingen. In diesem Zusammenhang wurde einmal mehr der Stellenwert der "Operation Mars", die Einkreisung der 9. deutschen Armee bei Rzhev und Belyi, diskutiert, die von November bis Dezember 1942 stattfand. War "Mars" ein Ablenkungsmanöver, oder zählte es zu einer Folge wohlüberlegter militärischer Schritte des sowjetischen Oberkommandos? Die Fesselung der deutschen Kräfte im mittleren sowjetischen Frontabschnitt verringerte zwar die deutsche Schlagkraft im Bereich der Stalingrader Front. Allerdings stellt sich laut Mjagkov nach wie vor die Frage, ob "Mars" mit seinen erheblichen Verlusten auf Seiten der Roten Armee unabdingbare Voraussetzung gewesen sei, um Stalingrad zu halten bzw. von der deutschen Wehrmacht zu befreien.

Unstrittig bleibe, daß die Schlacht von Stalingrad für die damalige Bevölkerung der UdSSR und deren Führung ein Symbol der Standhaftigkeit der Roten Armee gewesen sei und daß mit Stalingrad der Anfang vom Ende Deutschlands begonnen habe.

Um die Frage, ob Stalingrad tatsächlich die Wende des Krieges eingeleitet habe, rankten sich indes zahlreiche Diskussionsbeiträge. Darin wurde betont, daß es nach Stalingrad erheblich blutigere Schlachten mit sehr viel mehr gefallenen Soldaten gegeben habe und daß bereits vor Stalingrad klar gewesen sei, daß das Deutsche Reich im Ostfeldzug nicht zu einem Gesamterfolg kommen würde. Deutschland, so Bernd Wegner, habe sich nicht auf einer Siegesstraße befunden, von der es erst mit Stalingrad abgekommen sei. Stalingrad sei eher ein Höhepunkt der Wende im "Ostkrieg" gewesen, die bei Smolensk begonnen und sich über Moskau bis schließlich zur Stadt an der Wolga fortgesetzt habe.

Dr. Jürgen Förster (Freiburg) knüpfte in seinem Vortrag daran an: Auch wenn Stalingrad keine klare militärische Zäsur gewesen sei, habe die Schlacht die Führung der Wehrmacht stark beeinflußt. "Offiziere für wehrgeistige Erziehung" bemühten sich um die "seelische Mobilmachung" der deutschen Truppen, die, so ein Offizier in seinem Bericht von der Ostfront im Februar 1943, "weder Haltung noch Stimmung" aufwiesen, sondern sich "mit sich selbst beschäftigten". "Frontrednerkurse" für politische Offiziere sollten die demoralisierten Truppen "geistig neu ausrichten". Diese "weltanschauliche Durchknetung" (so Hitler im Herbst 1943) wurde in allen Wehrmachtsteilen - Heer, Marine und Luftwaffe - praktiziert. Überraschenderweise war diese ideologische Aufbauarbeit insbesondere bei dem "echten Kind des 3. Reiches", der Luftwaffe, nötig. Dort habe zwar die Leistungstrias "gehorchen, verzichten, kämpfen" funktioniert; gleichwohl seien die Offiziere der Luftwaffe keine "politischen Führer" gewesen, die ihren Untergebenen ein "weltanschauliches Vorbild" zu sein vermochten.

Daß die deutsche Bevölkerung Stalingrad als Wende wahrnahm, verdeutlichten die Ausführungen von Prof. Dr. Kurt Pätzold (Berlin), der krankheitsbedingt nicht selbst vortragen konnte. Das Geschehen im "Kessel" ließ die Mehrheit der Deutschen zunächst nach den Ursachen für die Niederlage fragen. Später versuchten die Deutschen, sich ein realistisches Bild von der Lage an der Ostfront zu machen. Dabei fand auch eine Neubewertung der Roten Armee statt, vor der man nun Respekt und gesteigerte Furcht empfand. Diese psychologische Disposition bildete schließlich ein Moment der "totalen Kriegführung", die verhieß, daß durch vermehrte Anstrengungen der Deutschen wieder militärische Erfolge möglich seien. Allerdings funktionierte die Bildung eines neuen totalen "Volksgemeinschaftsbewußtseins" nicht so erfolgreich, wie Führung und Eliten es wünschten. "Höflichkeitskampagnen" sollten den rauhen Umgangston untereinander glätten.

Wie Stalingrad seinen Niederschlag in der deutschsprachigen Literatur fand, beschrieb Dr. Leonore Krenzlin (Berlin). An den Arbeiten von Theodor Plievier, Gerhard Schumann, Franz Fühmann und Heinz Konsalik illustrierte die Literaturwissenschaftlerin den unterschiedlichen Umgang mit der Schlacht an der Wolga. Plieviers Werk erschien bereits im November 1943 in der Moskauer "Internationalen Literatur". Filmisch geschnittene Gespräche mit deutschen Kriegsgefangenen und Zitate aus Feldpostbriefen, angereichert mit expressiven Zwischentexten, verleihen diesem Buch bis heute einen sinnlich-packenden Charakter. Stalingrad erscheint als selbstverschuldet, bleibt letztlich aber unverstanden. Schumanns Bühnenstück "Gudruns Tod", am 14.2.1943 uraufgeführt, liest sich wie ein Aufruf zum Widerstand gegen Hitler und seine Anhänger. Der Verfasser, ein ehemaliger Soldat der Ostfront und bekennender Nationalsozialist, läßt die Heldin seines Stücks am Ende sagen, daß es keine "unveränderliche Treue" gebe, sondern daß diese jederzeit kündbar sei - ebenso wie der Treueschwur der deutschen Soldaten auf die Person Hitlers. Der DDR-Bürger Fühmann schrieb über Stalingrad aus dreifacher Perspektive: als Eroberer, als Kriegsgefangener der UdSSR und schließlich als Gast, der noch oft - als Geläuterter - nach Stalingrad zurückkehren sollte. In Westdeutschland leitete Heinz Konsalik mit seinem 1956 erschienenen Buch "Der Arzt von Stalingrad" die belletristische Beschäftigung mit Stalingrad ein. Die Schlacht an der Wolga zum "deutschen Opfergang" verklärend, bestimmte es das historische Bewußtsein mehrerer Generationen.

Das Kolloquium profitierte von seiner Interdisziplinarität und dem Zusammenwirken russischer und deutscher Wissenschaftler. Insbesondere durch die von Michail Mjagkov ausgewerteten und erst seit kurzem zugänglichen Geheimdokumente des Generalstabs und des NKWD konnten Lücken in der "Stalingrad-Geschichtsschreibung" geschlossen werden. Das Interesse der vielen Studierenden, die am Kolloquium teilnahmen, läßt darauf schließen, daß "Stalingrad" auch in den nächsten Jahrzehnten nicht in Vergessenheit geraten wird.

Die Beiträge des Kolloquiums können eingesehen werden auf www.berliner-gesellschaft.org.

Kontakt

Ulrike Winkler
E-Mail: <aragon@emailone.de>

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