Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und Früher Neuzeit

Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und Früher Neuzeit

Organisatoren
Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte (Prof. Dr. Ulf Dirlmeier) der Universität Siegen
Ort
Siegen
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.11.2002 - 08.11.2002
Von
Jens Aspelmeier, Universität-Gesamthochschule Siegen; Sebastian Schmidt, Universität Trier

“... und ist hinfurter für gut angesehen den haimischen armen zu steuren” Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit am 7. und 8. November 2002 in Siegen.

Am 7. und 8. November 2002 fand am Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte (Prof. Dr. Ulf Dirlmeier) der Universität Siegen eine Tagung zur Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit statt. Zentrales Thema der Tagung bildete die Frage nach dem Verhältnis von Norm und Praxis der Armenfürsorge unter dem Eindruck zeitgenössischer Konzepte, breiten sozioökonomischen Veränderungen und gewandelter (Moral-)Vorstellungen. Die Referenten berichteten von neuen Ergebnissen universitärer Forschungsschwerpunkte sowie aus aktuellen Dissertations- und Habilitationsarbeiten. In seinen einleitenden Bemerkungen umriß Bernd Fuhrmann (Siegen) den Rahmen der bisherigen Forschungen zur Armenfürsorge, beleuchtete Forschungsschwerpunkte und verwies auf Forschungsdesiderate, wobei den Möglichkeiten der gegenseitigen Ergänzung von Makro- und Mikrohistorie mit ihren teilweisen Widersprüchen vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden Meta-Theorie der “Sozialdisziplinierung” bisher zuwenig Beachtung geschenkt wurden.

Die Reihe der Fachvorträge aus den Forschungsprojekten wurde entsprechend dem Anspruch der Tagung, sowohl die Normgebungsseite als auch die praktische Umsetzung herauszuarbeiten, zunächst mit einem Blick auf erstere eröffnet. Mit seinem Beitrag zu Rechtslehre und Rechtsordnungen der frühen Neuzeit legte der Rechtshistoriker Alexander Wagner (Trier) die juristische Basis, auf der die Dynamik der Formierungsprozesse und Diversität von Konzepten und Alltag der Armenfürsorge in den folgenden Referaten anhand von “Fallbeispielen” dargestellt werden konnte. Im Blickpunkt stand die Entwicklung der Normgebung auf dem Gebiet der Armenfürsorge und deren Wechselwirkung mit der theoretischen Durchdringung durch Theologen, Humanisten und Juristen. Dabei wurde unter anderem anhand der Beispiele territorialer Ordnungen und der Schriften von Juan Luis Vives und Ahasver Fritsch, der juristischen Legitimation von Normierungskompetenz sowie der Finanzierung von Fürsorgemaßnahmen und schließlich der Herleitung des Bettelverbotes nachgegangen.

An die vorangehende Thematik unmittelbar anschließend untersuchte Sebastian Schmidt in seinem Vortrag: “Glaube und Armut. Zu konfessionsspezifischen Unterschieden frühneuzeitlicher Armenfürsorge” den Fragenkomplex, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich in einem direkten Vergleich der beiden Reichsterritorien Kurtrier und Nassau-Dillenburg auf der Verordnungsebene und in der Praxis erkennen lassen. Schmidt führte dabei aus, daß entgegen älteren Vorstellungen zum Fürsorgewesen in katholischen Reichsterritorien bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt (in Kurtrier mit der Armenverordnung von 1533) Bettelverbote erlassen und “fremde” und “starke” Bettler von der Unterstützung ausgeschlossen wurden. Allein der kurtrierische Zusatz, daß die Gabe von Almosen der Tilgung der Sünden diene, unterschied die Verordnungen der beiden Reichsterritorien. Bei der Umsetzung der Verordnungen konnte Schmidt an einigen ausgewählten Beispielen belegen, daß weder in Kurtrier noch in Nassau-Dillenburg von einer geregelten Armenfürsorge geredet werden kann. Die “staatliche” Fürsorge war eher symbolischer Natur und konnte die Armut kaum wirksam bekämpfen. Dies galt auch für die in beiden Territorien im 18. Jahrhundert eingerichteten Spinn- und Arbeitshäuser. Die Veruntreuung und Zweckentfremdung, zumindest aber die mangelhafte Buchführung und Abrechnung von Stiftungsgeldern war eher die Regel als die Ausnahme. Ob man in den protestantischen Reichsterritorien mit den zentral organisierten Armenkästen ein effizienteres System der offenen Armenfürsorge besaß als die katholischen Territorien mit der Vielzahl unterschiedlicher Fürsorgeeinrichtungen, bleibt für Schmidt jedoch noch ein Forschungsdesiderat.

In ihrem Vortrag “Zwischen theologischen Konzepten, obrigkeitlichen Normsetzungen und städtischem Alltag: Johannes Geiler von Kaysersberg und das Strassburger Fürsorgewesen” stellte Rita Voltmer (Trier) heraus, daß Armut, Almosen und Bettelei zu jenen Themenkomplexen gehörten, die der Münsterprediger am häufigsten ansprach und die auf der seit Thomas von Aquin entwickelten scholastischen Almosenlehre fußten. Immer wieder setzte sich Geiler in Predigten, persönlichen Gesprächen, Briefen, Gutachten und Gravamina mit der Straßburger Bettel- und Fürsorgepraxis auseinander, forderte vom Rat durchgreifende Reformen und machte weitreichende Verbesserungsvorschläge. Zusammenfassend war Geiler der Ansicht, daß der Rat zwar nur einen auf die Laien begrenzten Herrschaftsanspruch habe, seine Fürsorgepflicht aber für alle Menschen innerhalb der Stadtmauer zu gelten habe, unabhängig von der Dauer ihres Aufenthaltes und ihres Standes. Teilerfolge waren Geiler beschieden. So wurden auf seine Initiativen hin 1503 ein festes Syphiliterhospiz in Straßburg eingerichtet, ein Jahr später die Verwaltung des Großen Hospitals verbessert und 1506 eine erneute Modifizierung der Bettlerordnung mit einer gründlichen Überprüfung aller Bedürftigen vorgenommen. Doch scheint der Rat angesichts akuter Krisenzeiten und beunruhigt durch Geilers öffentliche Ausfälle eher ad hoc reagiert zu haben. Trotz fester Kategorien von Bedürftigkeit, trotz Bettlerzählungen und Verordnungen entwickelte der Straßburger Magistrat kein längerfristiges Programm, um die Instrumente der Fürsorge aufeinanderabzustimmen und die Bettlerfrage in den Griff zu bekommen. Der streitbare Pater Pauperum Johannes Geiler von Kaysersberg zeigte in der Auseinandersetzung mit der städtischen Obrigkeit wenig pragmatisches Verständnis für die Politik der Ratsherren und resignierte am Ende seines Lebens angesichts der Ergebnisse der städtischen Armutspolitik.

Im Mittelpunkt der Betrachtung von Meike Hensel (Mainz) stand der “Fürsorgeauftrag und die Fürsorgepolitik im Spannungsfeld zwischen Stifterwillen, kommunalen Interessen und Alltagsrealität am Beispiel des St. Nikolaus-Hospitals zu Kues”. Zu Beginn skizzierte Hensel die besondere Verfassung und Struktur der Anstalt, die Nikolaus von Kues selbst 1458 erließ. Die nicht zuletzt durch die Person von Kues erreichte weitreichende Unabhängigkeit des Hospitals von Stadtherren und Territorialherren, die in der besonderen Stellung des Hospitalrektors und der erlangten Exemtion aus dem Diözesan- und Pfarrverband greifbar wird, sollte nach dem Tod Nikolaus von Kues immer wieder gefährdet werden. Das wirtschaftlich potente Hospital sah sich den wiederholten Versuchen einer territorialpolitschen Vereinnahmung durch den Erzbischof von Trier ausgesetzt. Im Verlauf de 16. Jahrhunderts gelang es dem Erzbischof, aber auch den Schöffen der Stadt, die ursprünglichen Bestimmungen des Stifters in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Dabei konnten sie auf ein mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattetem Visitatorengremium zurückgreifen. Dieser Eingriff in den Stifterwillen sollte auch für die innere Verfassung und den Alltag im Spital nicht ohne Folgen bleiben. Das Hospital entwickelte sich zu einer bürgerlichen Pfründneranstalt mit ausgeprägter Landwirtschaft, hier vor allem Weinbau. Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erfolgte unter dem Eindruck wirtschaftlicher Schwierigkeiten eine Rückbesinnung auf den Fürsorgeauftrag und Restituierung nach dem Stifterwillen Nikolaus von Kues.

Ausgehend von den konstitutiven Merkmalen des Normbegriffs untersuchte Fritz Dross (Düsseldorf) anhand “von neuen Konzepten, angestrengter Bemühungen zweier Medizinalräte zur Gründung eines Krankenhauses” die normale Praxis der Armenpflege im ausgehenden 18. Jahrhundert. Der zeitlich später angesetzte Rahmen dieser Untersuchung bot der Tagung die Möglichkeit, den Bruch innerhalb der Forschung zwischen der frühen Neuzeit und dem 19. und 20. Jahrhundert zu überwinden und eine vergleichende Perspektive im Hinblick auf Kontinuitätslinien oder divergierenden Entwicklungen innerhalb der Armenfürsorge zu berücksichtigen.
In seiner Darstellung gelang es Dross den Begriff und die Praxis des Medikalisierungsprozeß analytisch näher zu bestimmen, um im folgenden die politische Praxis des ausgehenden 18. Jahrhunderts am Beispiel der versuchten Krankenhausgründen in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Die Initiative ging in beiden Fällen von zwei Medizinalräten aus, deren Positionen als paradigmatisch für die unterschiedlichen Ansichten innerhalb des aufgeklärerisch-philanthropischen Armutsdiskurses genannt werden können. Der eine, ein aufgeklärter Arzt und ambitionierter Medizinalratsdirektor, versuchte dabei, seine guten Kontakte zum landesherrlichen Hof bei der Verwirklichung seiner Pläne einer Krankenhausgründung zu nutzen. Der andere, ein nicht weniger aufgeklärter Arzt und politisch aktiver – “mündiger”- Bürger bediente sich bei der Durchsetzung seiner Vorstellungen zahlreicher Sendschreiben und Zeitungsannoncen. Trotz aller Bemühungen scheiterten beide mit ihren überzogenen Idealvorstellungen an der politischen Realität und den lokalen Gegebenheiten vor Ort. Die Tatsache, dass hier die Normsetzung in der Praxis bei weitem verfehlt wurde, veranlasste Dross zu weiterführenden theoretischen Überlegungen. Da Normbegriffe auf allen Ebenen konfliktgeladen seien, d.h. grundsätzlich nicht der Praxis entsprächen, plädierte Dross dafür, anstatt immer wieder die Selbstverständlichkeit des Auseinandergehens von Norm und Praxis herauszuarbeiten, sich stärker mit der Darstellung der “normalen Praxis” zu beschäftigen.

In seinem Vortrag zu “Normbruch und Funktionswandel. Aspekte des Pfrundmißbrauchs in mittelalterlich-frühneuzeitlichen Hospitälern und Leprosorien” untersuchte Kay Peter Jankrift (Stuttgart) den ambivalenten Kreis von Mißbräuchen in der anstaltlichen Fürsorge. Es ließen sich dabei vier Hauptgruppen unterscheiden: 1.) die Simulanten, 2.) die sog. “starken Bettler”, 3.) die Pfründner und 4.) die vermögenden älteren Insassen. Nach diesem ersten strukturellen Zugriff und einer Begriffsklärung skizzierte Jankrift anhand von Beispielen die Vielfalt der Formen des Mißbrauchs und die Strategien der Akteure. Der Zweck im Falle der Simulanten war immer der gleiche: die Aufnahme ins Spital zu erreichen, um so in den Genuß der Versorgungsleistungen zu kommen. Die Gruppe der “starken Bettler” unterschied sich insofern von den drei anderen, als sie keinen normativen Anspruch auf eine Aufnahme in ein Hospital geltend machen konnte. Jankrift unterstrich, daß die Normbrüche sehr wohl registriert wurden und eine breite Skala von Gegenmaßnahmen hervorriefen. Dies gilt nicht zuletzt für den Sonderfall der Leprosenhäuser. Die Spezialisierung der Anstalten führte zu einer ebenso professionalisierten Aufnahmepraxis in eigens dafür anerkannten Leprazentren, die im Falle eines Mißbrauchsverdachts zu Rate gezogen wurden. Gleichwohl gab es auch immer wieder Versuche den weitgefächtern Prozeß der Lepraschau zu unterlaufen. Abschließend stellte Jankrift fest, daß jedoch der in der frühen Neuzeit festzustellende Funktionswandel der Spitäler nicht durch Betrüger, sondern allein durch die Einflußnahme der reichen Pfründner zu erklären ist.

Auf welcher wirtschaftlichen Basis landstädtische Hospitäler in Klein- und Mittelstädten in der Lage waren, den normativen Anspruch auf Versorgung der Armen, Alten, Waisen und Kranken zu übernehmen, legte Jens Aspelmeier (Siegen) in seinem Vortrag “...das beim haus nutz und kein unnutz geschehe. Norm und Praxis der Wirtschaftsführung in klein- und mittelstädtischen Hospitälern am Beispiel von Siegen und Meersburg” dar. Der normative Anspruch an Hospitäler – “der nutz” - ist dabei in den Hospitalordungen und Almosenordnungen sowie weiteren Instruktionen seitens der Ratsherrn oder Landesherrn für beide Anstalten in Spätmittelalter und früher Neuzeit vergleichsweise gut dokumentiert. Bei der Betrachtung der Praxis vor Ort anhand der beiden Fallbeispiele bürgerlicher Spitäler in Siegen und in Meersburg (am Bodensee) konnten einige der Strategien und Prozesse innerhalb der Wirtschaftsführung dieser Institutionen an Hand von drei zentralen Funktionen – der als landwirtschaftlicher Großbetrieb, der als Kreditinstitut sowie der als Fürsorgeanstalt – mittels der Rechnungsüberlieferung nicht nur quantitativ grob skizziert, sondern hinsichtlich der Ertragssituation im landwirtschaftlichen Bereich, der Kapitalgeschäfte, der Beschäftigungspolitik, der Versorgungsleistungen für die Insassen und der finanziellen Möglichkeiten qualitativ bewertet werden. Bei dem sich daraus ergebenden Bild drängt sich die Frage auf, ob Spitäler primär überhaupt der Armenfürsorge dienten.
Zumindest für Siegen und Meersburg läßt sich die Frage mit “nein” beantworten. Sicherlich war in beiden Anstalten die Versorgung der Bedürftigen eine zentrale Funktion, aber eben nicht die einzige und sowohl quantitativ als auch qualitativ bei weitem nicht die bedeutendste. Die wirtschaftlichen Betätigungen der Häuser – in Siegen verstärkt die Kapitalgeschäfte, im Falle Meersburgs der hochprofitable Weinbau - dominierten die Wirtschaftsführung. Vielmehr wird einmal mehr deutlich, daß bei genauerer Betrachtung der Wirtschaftsführung der Anstalten der Versorgungsauftrag in ganz unterschiedlicher Weise interpretiert und ausgefüllt wurde. Entscheidend waren dabei eben weit mehr die jeweiligen finanziellen Handlungsspielräume und Strukturen vor Ort als obrigkeitliche Konzepte zur Armenfürsorge, wie sie auf der Verordnungsebene greifbar sind. Versteht man allerdings angesichts der sekundären Armut weiter Teile der Stadtbevölkerung die Aktivitäten der Hospitäler als temporärer Arbeitgeber und städtische Kreditanstalt, dann erscheinen die Spitäler als das zentrale Steuerungsinstrument städtischer und landesherrlicher Armenfürsorge vor allem in den kleinen und mittleren Landstädten.

Martin Uhrmacher (Trier) referierte zum Thema: “Zu gutem Frieden und Eintracht strebend” – Norm und Praxis in rheinischen Leprosorien im Spiegel ihrer Statuten.” In einem ersten Teil skizzierte er die Ausbildung und Entwicklung eines speziellen Leprosenrechts im kirchlichen und weltlichen Bereich: von den ältesten normativen Zeugnissen im alten Testament über frühmittelalterliche Synoden und Konzilien sowie den langobardischen Edictus Rothari von 643 bis zum Sachsenspiegel und den Beschlüssen des dritten Laterankonzils von 1179, in dem den Leprakranken eigene Kirchen, Friedhöfe und Preister zugestanden wurden.
Vor dem Hintergrund dieses allgemeinen Leprosenrechts stellte er im folgenden drei Statuten von Trierer Leprosenhäusern aus der Mitte des 15. Jahrhunderts vor. Dabei ging er der Frage nach, ob die einzelnen Paragraphen Aspekte des allgemeinen Leprosenrechts widerspiegeln, oder ob die jeweilige Norm als Reaktion auf Probleme, die sich aus der Praxis des Zusammenlebens im Leprosorium ergeben hatten, gedeutet werden können.
Es zeigte sich, daß die Statuten keine grundlegende Ordnung der Lebensumstände in den Trierer Leprosorien enthielten, wie sie möglicherweise in einer Stiftungsurkunde festgeschrieben waren. Vielmehr wiesen die Bestimmungen einen deutlichen Praxisbezug auf. So wurden beispielsweise Streitfälle zwischen den Insassen und das Verhalten von Leprosen in der Stadt geregelt. Dort sollten sie keine Gerüchte verbreiten, durch die das Leprosorium ins Gerede hätte geraten können. Dies widersprach dem vielfach überlieferten Verbot für Leprose, eine Stadt zu betreten. In der Praxis galt diese Vorschrift – zumindest in Trier – demnach offensichtlich nicht.
Abschließend stellte Uhrmacher fest, daß die vorgestellten Statuten wegen ihres deutlichen Praxisbezuges mit consuetudines vergleichbar seien, die in einem Kloster die Ordensregel ergänzen. Gerade darin liege ihr besonderer Wert für die Forschung des Alltagslebens in Leprosorien.

Jutta Grimbach (Trier) referierte über Hospitalgründungen des 15. und 16. Jahrhunderts in den niederrheinischen Territorien und im Herzogtum Westfalen. Die in diesem Zeitraum bezeugten Fürsorgeeinrichtungen wurden jeweils nach ihrer Funktion und ihrer Verwaltungsstruktur untersucht, um vor dem Hintergrund der sich wandelnden Einstellung zu Armut und Armenfürsorge und der damit verbundenen obrigkeitlichen Normsetzungen mögliche wegweisende Veränderungen im Hospitalwesen aufzuzeigen. Dabei konnte als Ergebnis festgehalten werden, daß zwischen 1500 und 1600 kaum Gründungen allgemeiner Hospitäler, wie sie in die vorangegangenen Jahrhunderten vollzogen wurden, nachzuweisen sind. Neben kleinen, überwiegend von privater Hand getragener Armenhäusern treten im 16. Jahrhundert erstmals Waisenhäuser und Pesthäuser auf. Eine solcherart veränderte Fürsorgepolitik schlug sich jedoch nur in wenigen wirtschaftsstarken und in der Hospitalentwicklung bereits weit vorangeschrittenen Städten nieder, so daß man für den gesamten Untersuchungszeitraum nicht von einer konsequenten Umsetzung der obrigkeitlichen Normen in die Praxis der Armenfürsorge sprechen kann.

Einen kenntnisreichen Einblick in die frühneuzeitliche Armenfürsorge und Sozialbeziehungen in der Stadtrepublik Hamburg gab Frank Hatje mit seinem Vortrag “Dieser Stadt beste Maur undt Wälle”. Ausgangspunkt für seine Darstellungen war eine Kritik an etatistisch ausgerichteten Darstellungen der Fürsorgeregelungen, die nach nach Hatje zum einen die Möglichkeiten frühmoderner Staaten über-, zum anderen die Leistungsfähigkeiten der Kommunen jedoch unterschätzten. In Erweiterung des Kommunalismuskonzeptes Blickles erscheint es Hatje vielmehr sinnvoll, auf den komplexeren sozialwissenschaftlichen Institutionenbegriff bei der Analyse des Fürsorgesystems zurückzugreifen, da dieser Ansatz den Blick nicht nur auf das Verhältnis von Norm und Praxis lenke, sondern ebenso auf die Wertorientierungen und Sinnvorstellungen, aus denen heraus sich die Institutionalisierung vollzieht. Am Beispiel des Hamburger Gast- und Krankenhauses verdeutlichte Hatje wie sich in den Verhandlungen über neue Statuten im Jahr 1702 ein solcher Institutionalisierungsprozeß aus den Quellen herauslesen läßt. Der Gedanke des Herkommens, des “Gabentausches” sowie die Vorstellung der Stadt als Heilsgemeinschaft bildeten hier die drei zentralen Argumente für ein wohlgeordnetes Armenwesen. Die Einrichtung der hamburgischen Armenkästen war nicht Ergebnis städtischer Ratspolitik, sondern von den lutherischen Kirchspielgemeinden selbständig organisiert. Die Institutionalisierung der Gotteskästen war somit zugleich Vehikel, die politische Partizipation der Bürger gegenüber dem Rat zu stärken. Die Reformation bereitete damit den Boden für eine sukzessive Verdichtung der Armenfürsorge (fast alle 21 Armenhäuser wurden zwischen 1530-1630 gegründet, eine Vielzahl der Fundationen geht auf diese Zeit zurück, der Ausbau des Heilig-Geist-Hospitals 1559, die Gründung eines Waisenhausen nach 1595, die Einrichtung von Werk- und Zuchthäusern 1622). Die aus der Praxis heraus abgeleiteten Notwendigkeiten führten nach Hatje in viel stärkerem Maß zu dieser verdichteten Institutionalisierung als normative Erlasse. Des weiteren führte Hatje aus, daß es im weitesten Sinne Sozialbeziehungen waren, die auf der Geberseite die Armenfürsorge alltagspraktisch verankerten. Die Anwendung des Gemeindeprinzips nach der Reformation führte vor allem zu einer Ausgrenzung fremder Bettler. Am Beispiel der Verpflegung der Spitalarmen im Beisein der Spender wurde die Form und Praxis symbolischer Vergemeinschaftung via Armenfürsorge deutlich. Abschließend stellte Hatje fest, daß jedoch ein Großteil tatsächlich geleisteter Unterstützung quellenmäßig kaum zu erfassen sei, da die Almosengaben allenfalls subsidiären Charakter besaßen. Meist wurden die Fürsorgeleistungen erst nachgefragt bzw. vice versa erst dann gewährt, wenn alle Selbsthilfepotentiale erschöpft waren.

Im Verlauf der Abschlußdiskussion, die aus Zeitmangel leider etwas kürzer ausfallen mußte, konnte in angenehmer und entspannter Atmosphäre genau so engagiert diskutiert werden, wie dies schon während der gesamten Tagung der Fall gewesen war. Die Teilnehmer betonten die Notwendigkeit, bei weiteren Untersuchungen stärker die vergleichende Perspektive in den Blick zu nehmen. Trotz zahlreicher Ansätze bereiteten die Definitionen der Begriffe Arm und Bedürftig immer noch Schwierigkeiten und weitere Forschungen zur inhaltlichen Klärung seien ebenso wünschenswert, wie eine stärkere Betrachtung der unterschiedlichen Entwicklungen in Stadt und Land. Das im Titel der Tagung implizierte Spannungsfeld von Norm und Praxis erwies sich zwar als konstruiert, aber dennoch als konstruktiv. Sowohl die Norm als auch die Praxis sind als die zwei Seiten einer Medaille, die sich ergänzen und dabei die Komplexität gesellschaftlicher Realität auch im Bereich der Armenfürsorge widerspiegeln, zwar analytisch zu unterscheiden, aber bei allen Untersuchungen immer gleichsam zu berücksichtigen.

Eine Zusammenfassung der Tagungsbeiträge ist in einem Tagungsband geplant. Die Drucklegung des Bandes ist für Ende 2003 anvisiert.

Kontakt

Lehrstuhl Mittlere und Neuere Geschichte
Jens Aspelmeier
Adolf Reichwein Str. 2
57068 Siegen
Tel.: 0271/ 740-4522
e-mail: aspelmeier@fb1.uni-siegen.de

http://www.fb1.uni-siegen.de/history/ma/index.htm
Redaktion
Veröffentlicht am