Politische Predigten

Organisatoren
Joachim Eibach, Universität Bern; Thomas Kuhn, Universität Basel
Ort
Rheinfelden (Baden)
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.06.2007 - 30.06.2007
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Von
Christian Mack, Universität Basel

Zum Thema „Politische Predigten“ fand vom 28. bis 30. Juni 2007 eine interdisziplinäre Lehrveranstaltung auf Schloss Beuggen unter der Leitung von Joachim Eibach (Universität Bern) und Thomas Kuhn (Universität Basel) statt. Ziel der Tagung war die Untersuchung exemplarischer Predigten in ihrer politischen, religiösen, frömmigkeits- und ideengeschichtlichen Funktion. Um das innovative Potenzial der in ihrer Bedeutung bislang noch weitgehend unerkannten Gattung Predigt besser zu erforschen und fruchtbar machen zu können, war die Tagung disziplinenübergreifend gleichermaßen an das theologische und historische Publikum adressiert.

Den Schwerpunkt bildete der Zeitraum vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Inhaltlich behandelten die Referate, die sich mit Predigten in signifikanten historischen Schlüsselsituationen auseinander setzten, vor allem zwei Themenbereiche. Zum einen lag das Augenmerk auf dem Zusammenhang von „Predigt und Herrschaft“, vor allem vor dem Hintergrund, inwiefern Kritik und Lob für Obrigkeiten in den Predigten zur Sprache kommen. Einen zweiten Schwerpunkt bildete die Frage nach „Predigt und Krieg“, vor allem nach propagandistischer und theologischer Funktionalisierung.

ANNETTE FROMMER (Bern) und MANUELA JENNINGS (Bern) befassten sich mit Predigten, die während der türkischen Belagerungen 1529 und 1683 in Wien entstanden, exemplarisch dargestellt an den Predigern Jacobus Andreae (1528-1590) und Abraham a Sancta Clara (1644-1709). Zum einen diene die Türkengefahr als Aufruf an das Abendland, von seinen religiösen Spaltungen abzusehen. Prinzipientreue und Glaubenseifer der Türken seien zugleich Abschreckung und Vorbild. Zum anderen sehe man in der Türkengefahr auch die göttliche Bestrafung für die Sünden des christlichen Abendlandes und den Beginn des apokalyptischen Endkampfes. Hierin stecke zugleich die Zuversicht auf die Wiederkunft des Messias. Die abschließende Diskussionsrunde resümierte, dass die Türkenpredigten der frühen Neuzeit vor dem Hintergrund eines denkbaren EU-Beitritts der Türkei bemerkenswert aktuelle Einblicke in Mentalitätsstrukturen und Deutungsmuster der Erfahrung einer als fremd empfundenen Kultur eröffnen.

MARTINA SCHÜRCH (Bern) und FABIAN VETSCH (Bern) thematisierten die preußische Königskrönung 1701 und beleuchteten die Bedeutung der Predigt als politischem Kommunikationsmittel in Preußen. Gab es bereits eine Art kritische Öffentlichkeit oder standen Prediger und Predigt ausschließlich im Dienst des Herrschers mit dem Ziel, das Volk zu disziplinieren?1 Hierfür standen Predigten der Hofprediger Philipp Jakob Spener (1635-1705) und Daniel Ernst Jablonski (1660-1741) über Psalm 89 2 Modell. In der Deutung der Salbung und der Parallelisierung von Friedrich I. mit David weisen die Predigten Unterschiede auf. Während Jablonski die Salbungsverse direkt auf den König beziehe und ihn dadurch göttlich legitimiere, zöge Spener keine Parallele zwischen irdischer Königskrönung und himmlischer Herrschaft. Die übrigen Elemente seien mit Versatzstücken zeitgenössischer Predigtrhetorik durchzogen: Sie listen Pflichten eines gerechten und gottgewollten Herrschers auf. Versteckt sich darin Kritik? Oder wird dies von Hofpredigern nicht genau erwartet? Die Ausgangsfrage nach einer kritischen Öffentlichkeit blieb in der Diskussion unbeantwortet.

HARALD MATERN (Basel) besprach die „Jubelfeyer-Predigt“ von Caspar Zwicky zum vierhundertjährigen Jubiläums der Schlacht von Näfels über Psalm 147,12-14 3 von 1788. Zwicky identifiziere im Gedenken einer siegreichen Schlacht Glarus mit Zion und das Vaterland mit Jerusalem. Er fordere die Gemeinde angesichts der Wohltaten Gottes zum sittlichen Verhalten auf: Nur durch die Überwindung des inneren Feindes könne auch der äußere Wohlstand aufrechterhalten werden. Die Predigt sei vor allem darin typisch neuzeitlich-aufklärerisch zu bewerten, da die religiös-ethische Ermahnung auf eine vorgeschaltete Ebene der Subjektivität mit Tugenden und Lastern der Menschen rekurriere, so Matern. Der volksaufklärerische Charakter dieser Predigt wiederum liege in der Betonung der religiös-ethischen Dimension des Lebens und ihrer theologischen Koppelung an die Gegenwart, wenngleich ihr Bildungsinteresse politisch motiviert sei und damit unkritisch und tendenziös.

LEA REIMANN (Bern) und DANIELA RÖLLI (Bern) untersuchten eine Predigt von 1756 von August Friedrich Wilhelm Sack (1703-1786), Hofprediger Friedrichs II. Erneut dient ein Psalm (Ps 34, V. 4f 4) zur Illustration politischer Absichten. Hier verbänden sich Kriegspredigt und Herrscherpredigt, so die Referent(inn)en. Äußere Feindbilder würden konstruiert und stünden neben dem Herrscherlob Friedrichs II. Wie bei den Türkenpredigten werde versucht, durch die Theologisierung der eigenen Gegenwart Gemeinschaftsgefühl und Patriotismus zu konstruieren. Wie bei Zwicky mischten sich religiös-sittliche Elemente in die Predigten: Gute Patrioten sind gute Christen, gute Christen sind gute Patrioten. Offene Herrscherkritik käme in dieser Predigt nicht zum Ausdruck, befanden die Referentinnen. Möglicherweise könne man jedoch in der Hintanstellung des Herrscherlobs hinter das Gotteslob Kritik erkennen, desgleichen auch in der Funktionalisierung des Königs als ein von Gott gelenktes Werkzeug.

STEPHAN JÜTTE (Basel) besprach eine Predigt Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768-1834) über Eph 2,19 5 von 1807. Auch bei Schleiermacher werde die biblische Situation auf die zeitgenössische Situation übertragen. Schleiermacher kritisiere die mangelnde Vaterlandsliebe der Christen. Wer sein Vaterland nicht liebe, sei im Hause Gottes nutzlos. Der Mensch fände erst im (preußischen) Vaterland die Möglichkeiten, seine Begabungen einzubringen. Da Jesus sage „Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen“, müsse ein funktionierendes Gemeinwesen (das meint: Haus Gottes) zugleich aus verschiedenen Gruppen (das meint: viele Wohnungen) bestehen. Schleiermachers Predigt kann verstanden werden als kirchlicher Lösungsbeitrag zur Problemanalyse einer Krisensituation. Ausgehend von der inneren Erneuerung des Menschen könne die äußerliche Erneuerung und Modernisierung erfolgen, wobei er eine klare Rollenverteilung zwischen Kirche und Politik konzediere.

MAURO DI CIOCCIO (Bern) und DAVID PFAMMATTER (Bern) befassten sich mit dem Zeitraum der „Helvetik“ (1798-1803), einem auf Werten der Französischen Revolution basierenden republikanischen Zentralstaat, der heftig umstritten war. Politisches Predigen bedeutete deshalb eine große Herausforderung. Die Referenten analysierten Predigten von Jakob Christoph Nüscheler und Johann Jakob Hess von 1799, beide am Zürcher Großmünster tätig. Die Verschonung der Stadt Zürich vor Kriegsereignissen werde einerseits als Wunder interpretiert, hereinbrechende Krankheiten, Krieg und Unheil jedoch als direkte göttliche Mahnungen verstanden. Als Fazit, so die Referenten, könne gezogen werden, dass damalige Predigten vielfach politisch und politisierend wirkten, da die helvetische Regierung dem Klerus – reformiert wie katholisch – Rechte aberkannt hatte und sich daraufhin einem feindlichen Klima seitens der Pfarrerschaft ausgesetzt sah. Die Referenten wiesen darauf hin, dass der Ton der Predigten umso diplomatischer ausgefallen sei, je höherrangig der kirchliche Amtsträger gewesen sei. Die Frage, inwiefern sich diese Predigten als direkter Aufruf gegen die ohnehin umstrittene Helvetik verstünden, müsse offen bleiben.

CHRISTIAN MACK (Basel) machte deutlich, dass sich jede Predigt als öffentliches Geschehen, als Bildungsgeschehen und als Kommunikationsgeschehen automatisch als politische Predigt qualifiziere. Die Frage sei nicht ob, sondern wie eine Predigt politisch sei. Die Predigt sei in der heutigen pluralistischen Gesellschaft nur noch ein zivilgesellschaftlicher Faktor unter vielen. Möglicherweise lasse sich die Predigt nur im kirchlichen Raum, in der sie ihren Ort habe, beschreiben als eine aus anderen Zusammenhängen bekannte Gattung, die sich in einer gottesdienstlichen Situation als eigene Gattung „Predigt“ qualifiziere. Aus heutiger Sicht besonders bemerkenswert war für Mack die Erkenntnis, dass Predigt bei den Hörer(inne)n eine primär bestätigende Wirkung habe, wobei das Ausmaß der Bestätigung mit zunehmendem Alter und sinkendem Bildungsgrad zunähme.6 Hiervon ausgehend, sei die Rolle der Predigt als politisches Lenkungs- und Manipulationsinstrument zu hinterfragen. Mack resümierte, dass Predigt zwar stets als politische Predigt zu verstehen sei, ihre Einflussmöglichkeit als politisches Massenmedium jedoch beschränkt und wahrscheinlich schon immer beschränkt gewesen sei.

ANDREAS ZINGG (Bern) beschäftigte sich mit dem 300jährigen Reformationsjubiläum, als die Schweiz viele Restaurationsbestrebungen und Veränderungen unterschiedlicher Haltbarkeit durchlebte, dargestellt an einer Predigt von Johann Jakob Hess über Apg 18,9-11 7 von 1819. Romantisierend und pathetisch schildere Hess die Zeit der urchristlichen Gemeinde zu Zeiten des Apostels Paulus, die Hess als Vorbild für die Reformation und letztlich für die eigene Epoche diene, was Glaubenseifer und Einheit der Kirche betreffe, so Zingg. Zwar könne Hess Errungenschaften der Gegenwart positiv würdigen, doch eine echte historische, theologische oder konfessionelle Reflexion der Reformation werde bei Hess zugunsten eines unreflektierten Blicks in eine idealisierte Vergangenheit umgangen, resümierte Zingg. Dadurch versuche Hess, dem zeitgenössischen Protestantismus eine romantische, bürgerliche und konservative Prägung zu geben. Da die Kirche im Kanton Zürich Instrument des Staates gewesen sei, könne dieser konservativ-restaurative Zug bei einem exponierten Vertreter dieser Staatskirche kaum überraschen.

STEFAN HÄNNI (Bern) und ANJA MÄGLI (Bern) referierten über den Konflikt von katholisch-konservativen „Föderalisten“ und freisinnig-liberalen „Radikalen“ in der Schweiz, der 1847 im „Sonderbund-Krieg“ kulminierte und für die katholische Seite mit einem Fiasko endete. Als Quelle diente eine Predigt von Josef Burkard Leu von 1849. Einerseits mahne die Predigt zu Gehorsam und Staatstreue. Zum anderen leite Leu von Bibel und Naturrecht Religionsfreiheit ab. Leu versuche dadurch, die politische Marginalisierung des Katholizismus zu verhindern. Hierin finden sich bekannte Argumentationsmuster: gute Christen sind gute Staatsbürger; gute Staatsbürger sind gute Christen. Leu sei bestrebt gewesen, Kirche und Staat in ein Kooperationsverhältnisses mit dem Ziel eines „christlichen Staats“ zu bringen, so die Referent(inn)en. Daneben brachten die Referent(inn)en Jeremias Gotthelf ins Gespräch, an dem sich zeige, dass die Fronten zwischen Radikalen und Konservativen keineswegs nur an Konfessionsgrenzen, sondern auch innerhalb des protestantischen Spektrums verliefen, wie am Roman „Zeitgeist und Berner Geist“ exemplarisch deutlich werde.

Der Vortrag von MICHAEL SIEGENTHALER (Bern) und SIMON SIEGENTHALER (Bern) behandelte den Religiösen Sozialismus von Hermann Kutter (1863-1931) und Leonard Ragaz (1868-1945). Sie analysierten die in sozialistischen Predigten dargestellte Wirklichkeit anhand einer Predigt von 1912. Die gesellschaftlichen Verhältnisse würden als menschenunwürdig und unfrei dargestellt. Sozialistische Predigten seien aus homiletischer Sicht als Sonderform der liberalen Predigt einzuordnen, da es hier wie dort darum gehe, unter den jeweiligen Lebensumständen Glauben zu fassen und zu bewahren.8 Die Referenten legten dar, dass sozialistische Predigten als politische Predigten zu qualifizieren seien: als darstellende politische Predigt, als urteilsbildende politische Predigt und als auffordernde politische Predigt.9 Ihr treibendes Moment sei nicht die Bibelauslegung, sondern die empathische Wirklichkeitsdarstellung. Die religiös-soziale Predigt habe die Menschen in besonderer Weise mit sozialistischen Ideen konfrontiert und zur Auseinandersetzung mit ihnen angeregt.

RITA LECHLER (Basel) führte in die Problematik des deutschen „Kulturkampfs“ von 1871 bis 1887 ein. Der Kulturkampf sei kein konfessioneller Konflikt gewesen, eher ein Konflikt zwischen Konservativen und Liberalen, die Bismarck gegeneinander ausspielte. Quellengrundlage war ein Hirtenbrief des Eichstätter Bischofs Franz Leopold Leonrod von 1891, in dem tiefe Sorge angesichts zeitgenössischer Gefahren und Irrlehren wie Sozialismus, „Entchristlichung“, moderner Wissenschaft und Darwinismus, glaubens- und kirchenfeindlicher Presse, Schulaufsicht und Zivilehe zum Ausdruck kommt – bekannte Feindbilder aus dem „Syllabus Errorum“ von Pius IX. Bemerkenswert sei, dass Leonrod dem Staat „durchaus keine böse Absicht gegen die Kirche“ unterstelle. Die Plenumsdiskussion fragte, ob es sinnvoll sei, eine Vielzahl von Säkularisierungs- und Modernisierungsphänomenen des 19. Jahrhunderts unter dem Sammelbegriff „Kulturkampf“ zu subsumieren. Möglicherweise müßten diese Einzelphänomene in ihrer jeweiligen Eigenheit gesondert oder unabhängig voneinander untersucht und benannt werden, um ihrem unterschiedlichen Charakter angemessen Rechnung zu tragen.

NOËMI RUI (Bern) und SASKIA WEIDMANN (Bern) führten in die kirchlichen Positionen vor und während der Kriegsereignisse 1914 ein. Der Weltkrieg sei in allen Ländern theologisch gerechtfertigt worden. Die Predigt des Berliner Pfarrers Le Seur mit dem Namen „Haß“ (1915) thematisiere die Hoffnung auf das Ende von Materialismus und Atheismus, rufe zu Vaterlandsliebe und Überwindung der Standesunterschiede auf. Tagungsteilnehmer(innen) bemerkten, dass die Predigt viele versöhnliche Aspekte enthalte. Die theologischen Motive hätten sich während der unterschiedlichen Kriegsphasen gewandelt, so die Referentinnen. Je länger der Krieg andauerte, umso stärker habe man den Krieg banalisiert und mit Durchhaltemotiven angereichert. Rui und Weidmann stellten die These auf, die gefüllten Kirchenbänke seien der entscheidende Motor zur Massenmobilisierung vor dem Kriegsausbruch gewesen. Andere Diskussionsteilnehmer(innen) entgegneten, die Kirchen hätten sich nachweislich erst nach Kriegsbeginn gefüllt, so dass die Predigt nicht mobilisiert, sondern Sorgen und Ängste des Kirchenvolks flankiert hätte. Zudem wurde auf den begrenzten politischen Einfluss von Predigten hingewiesen. Sie hätten keine agitatorische, sondern bestätigende Funktion. Die Kriegspredigt habe die Massen nur für etwas mobilisieren können, für was sie ohnehin bereits mobilisiert und überzeugt worden seien.

FABIENNE ROHR (Bern) und DÉSIRÉE MARIA STALDER (Bern) befassten sich mit der „Sportpalastkundgebung“ im November 1933. Textgrundlage bildete die Sportpalastrede „Gegen die Seelenverjudung“ von Reinhold Krause (1893-1980), in der zentrale Forderungen der Deutschen Christen zur Sprache kommen: Abschaffung des Alten Testaments, Ablehnung der „Sündenbock- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus“, Entfernung von „judenblütigen Menschen“ aus der Kirche, Loslösung der „Frohbotschaft“ aus ihrem jüdisch-hellenistischen Kontext. Statt „undeutscher“ Schuldbeladenheit und Gnadenbedürftigkeit sei ein „artgemäßes“ deutsches Christentum wichtig. Die Referentinnen resümierten, die Forderung nach einer Reinigung des Christentums von jüdischen Elementen, in deren Konsequenz eine völkische Kirche hätte entstehen sollen, sei selbst vielen Deutschen Christen zu weit gegangen. Die Sportpalastrede Krauses sei keine Predigt, sondern eine propagandistische Rede. Andere Diskussionsteilnehmer widersprachen dieser formal begründeten Ansicht und hielten die Rede Krauses inhaltlich-rhetorisch gesehen ebenfalls für eine politische Predigt.

THOMAS SCHEIWILER (Bern) und LARA SPINNLER (Bern) besprachen Dietrich Bonhoeffer (1906-1945), einen der bekanntesten oppositionellen Theologen der NS-Zeit. Textgrundlage bildete „Die Kirche vor der Judenfrage“ (1933) und eine Predigt über Ofg 14,6-13 (1935). Die Referent(inn)en betonten, dass sich Bonhoeffers Predigt hier um „Bekennen“ und „Nachfolge“ bewege. So sei auch nachzuvollziehen, warum er sich so stark für andere eingesetzt und den Einsatz für andere eingefordert habe. Dieser Einsatz für andere leite sich unmittelbar aus seinem berühmten Diktum von der „teuren Gnade“ ab, der zufolge die geschenkte Rechtfertigung Gottes nicht die passive Tatenlosigkeit, sondern die aktive Nachfolge nach sich ziehe. Mit dem Begriff „Nachfolge“ bemühe sich Bonhoeffer um eine Wiederbelebung der klassischen reformatorischen Rechtfertigungslehre. Hiervon sei auch seine entschiedene Haltung gegen den Krieg, sein Engagement im Widerstand und die Ablehnung des Arierparagraphen zu verstehen. Bonhoeffers theologische Aussagen brächten weitreichende politische Forderungen mit sich und müssten deshalb auch im Zusammenhang politischer Predigten angemessen gewürdigt werden, so die Referent(inn)en.

STEPHAN BÖSIGER (Bern) referierte über Kurt Marti (*1921), der Öffentlichkeit nicht nur als Theologe, sondern auch als Schriftsteller und durch seinen politischen Einsatz bekannt. Marti habe zur Akzeptanz des gesellschaftlichen Veränderungsdiskurses im Umfeld der sogenannten „68er“ beigetragen und könne als Bindeglied zwischen nonkonformistischer Gesellschaftskritik und Kirche betrachtet werden, befand Bösiger. Die Predigten, die Bösiger besprach, entstammten Martis Predigtsammlung „Aufgebot zum Frieden“ (1969). Hier werde Martis Friedensverständnis deutlich: Friede sei nicht Passivität, nicht „Alles-wie-bisher-belassen“, sondern Aufruf zum „Kampf für Recht und freies Mensch-Sein“, zur „Störung des Unrechts“, zur „Auflehnung gegen Unterdrückung“. Marti, so Bösigers Schlussthese, habe den Diskurs der 1960er-Jahre nicht nur in die Kirche hineingetragen, sondern vielmehr auch aus der Kirche heraus erklärt. Durch seinen vielfältigen gesellschaftlichen Einsatz erhielten Martis Publikationen „eine ungemeine Vielschichtigkeit“, so Bösiger.

Die Abschlussdiskussion griff vor allem die Frage auf, was unter einer „Politischen Predigt“ überhaupt zu verstehen sei. Joachim Eibach formulierte Ähnlichkeiten von Predigt und politischer Rede. Hierzu zähle die normative Sprechweise, der Appellcharakter zur Handlungsoptimierung und Verbesserung von Leben oder Zuständen, der Dialogcharakter und die Offenheit zum Zuhörer, des Weiteren auch das Exempel als Veranschaulichung und das binäre Denken. Eibach plädierte dafür, die „Politische Predigt“ weniger nach inhaltlichen, sondern nach formalen Gesichtspunkten zu betrachten. „Das Politische“ sei ein Kommunikationsraum, in dem über allgemein verbindliche Regelungen gestritten werde. In dieser kulturwissenschaftlichen Perspektive falle es schwer, den Begriff „Politische Predigt“ präzise zu definieren, so Eibach. Das Begriffspaar „Die Predigt und das Politische“ sei hierfür geeigneter. Auch der Begriff des „Religiösen“ sei denkbar unklar, befanden die Diskussionsteilnehmer(innen). In Anlehnung an Säkularisierungs- und Gesellschaftstheorien – beispielsweise bei Richard Rothe, Friedrich Gogarten oder Eric Voegelin – müsse erörtert werden, ob und inwiefern das Religiöse nicht immer zugleich das Politische sei und das Politische nicht zugleich immer das Religiöse. Dann werde eine präzise Definition des Begriffs der „Politischen Predigt“ aber nicht nur unmöglich, sondern auch unnötig. Ein Definitionsmerkmal für „Politische Predigt“ könne neben den formal-rhetorischen Kriterien der Textsorte darin liegen, nach dem spezifischen Kasus der Predigt zu suchen, so Joachim Eibach und Thomas Kuhn. Hierbei könnten Leitfragen hilfreich sein: An wen richtet sich die entsprechende Predigt? Was spricht die Predigt inhaltlich an? Dies sei jedoch bestenfalls ein Hilfskonstrukt. Letztlich, so die Diskussion, bleibe der Begriff „Politische Predigt“ schillernd und vielschichtig.

Konferenzübersicht:

Politische Predigten (17.-20. Jahrhundert)

JOACHIM EIBACH, Bern und THOMAS KUHN, Basel
Einführung und Abschlussdiskussion „Was ist eine politische Predigt?“

CHRISTIAN MACK, Basel
Homiletisch-methodische Überlegungen zur Predigt als historischer Quelle und als politisches Kommunikationsmedium

Themenbereich „Predigt und Krieg“

ANNETTE FROMMER und MANUELA JENNINGS, Bern
Türkenpredigt

LEA REIMANN und DANIELA RÖLLI, Bern
Siebenjähriger Krieg 1756-1763

STEPHAN JÜTTE, Basel
Die „Befreiungskriege“ in Deutschland

MAURO DI CIOCCIO und DAVID PFAMMATTER, Bern
Okkupation und „Modernisierung“ in der Helvetik (1798-1803)

NOËMI RUI und SASKIA WEIDMANN, Bern
Der Erste Weltkrieg

Themenbereich „Predigt und Herrschaft“

MARTINA SCHÜRCH und FABIAN VETSCH, Bern
Die preußische Königskrönung 1701

FABIENNE ROHR und DÉSIRÉE MARIA STALDER, Bern
„Deutsche Christen“

THOMAS SCHEIWILER und LARA SPINNLER, Bern
„Bekennende Kirche“

Themenbereich „Historische Schlüsselsituationen und gesellschaftlichen Veränderungsprozesse“

HARALD MATERN, Basel
Aufgeklärte patriotische Predigt (1788)

ANDREAS ZINGG, Bern
Reformation und bürgerliche Erinnerungskultur: Reformierte Reformationserinnerung in der Schweiz (1819)

STEFAN HÄNNI und ANJA MÄGLI, Bern
Die Revolution von 1848/49

MICHAEL SIEGENTHALER und SIMON SIEGENTHALER, Bern
Die Entdeckung der Armut als soziales Problem: Die Kirche und die soziale Frage im 19. Jahrhundert und der Religiöse Sozialismus

RITA LECHLER, Basel
„Kulturkampf“ in Deutschland

STEPHAN BÖSIGER, Bern
Nonkonformisten in der Schweiz

Anmerkungen:
1 Vgl. Braungart, Georg, Hofberedsamkeit, Tübingen 1988; Gestrich, Andreas, Absolutismus und Öffentlichkeit, Göttingen 1994.
2 V. 21: „Ich habe gefunden meinen Knecht David, ich habe ihn gesalbt mit meinem heiligen Öl.“
3 „Preise, Jerusalem, den HERRN; lobe, Zion, deinen Gott! Denn er macht fest die Riegel deiner Tore und segnet deine Kinder in deiner Mitte. Er schafft deinen Grenzen Frieden und sättigt dich mit dem besten Weizen.“
4 „Preiset mit mir den HERRN und laßt uns miteinander seinen Namen erhöhen! Als ich den HERRN suchte, antwortete er mir und errettete mich aus aller meiner Furcht.“
5 „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen.“
6 Vgl. Lämmermann, Godwin, Zeitgenössisch predigen, Stuttgart 1999.
7 „Der Herr sprach in der Nacht durch ein Gesicht zu Paulus: Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht, denn ich bin bey dir, und niemand wird sich unterstehen dir übels zu thun, darum dass ich viel Volk in dieser Stadt habe. Er hielt sich also daselbst auf und lehrte bey ihnen das Wort Gottes“; Zitat nach Hess.
8 Vgl. Deresch, Wolfgang, Predigt und Agitation der religiösen Sozialisten, Hamburg 1971.
9 Vgl. Daiber, Karl-Friedrich, Predigt als religiöse Rede, München 1991.


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