Räume, Grenzen, Identitäten – Westfalen als Gegenstand landes- und regionalgeschichtlicher Forschung

Räume, Grenzen, Identitäten – Westfalen als Gegenstand landes- und regionalgeschichtlicher Forschung

Organisatoren
LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, die Historische Kommission für Westfalen und die Abteilung für Westfälische Landesgeschichte der Universität Münster
Ort
Soest
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2007 - 14.09.2007
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Von
Martin Dröge

Die Aktualität der Begriffe „Raum“, „Grenze“ und „Identität“ eröffnet sich bei einem Blick in die geschichtswissenschaftliche Forschung: Der Historikertag 2004 in Kiel mit dem Schwerpunktthema „Kommunikation und Raum“ unterstrich die Relevanz raumbezogener Fragestellungen. Ebenso ist in der Diskussion um die Globalisierung seit längerem eine Gegenbewegung zurück zur Region festzustellen. Ein verstärktes Bewusstsein für den Raum und dessen Grenzen kann auch insgesamt für die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften festgestellt werden, das entsprechende Schlagwort lautet: „spatial turn“. Dieser „turn“ bringt nach einer langen Zeit der Raumvergessenheit eine verstärkte Hinwendung zu Raumfragen.1 Was aber bedeutet das konkret für die landes- und regionalgeschichtliche Forschung, die sich schon per defitionem mit Raumfragen, begrenzten Räumen und Regionen befasst? Sagen Raumvorstellungen nur etwas über die Perspektive und die Fähigkeit von Raumkonstrukteuren oder auch etwas über die tatsächlichen Einflüsse von Räumen und deren Eigenschaften aus? Wie prägen bestimmte Raumfaktoren die unterschiedlichen Raumkonstruktionen? Für die Tagung „Räume, Grenzen, Identitäten – Westfalen als Gegenstand landes- und regionalgeschichtlicher Forschung“ am 13./14. September 2007 in Soest konnten die drei Veranstalter – das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, die Historische Kommission für Westfalen und die Abteilung für Westfälische Landesgeschichte der Universität Münster – Experten aus der Geschichtswissenschaft, der Sprachwissenschaft und der Geographie zur Erörterung dieser Fragen zusammenführen.

BERND WALTER (Münster) eröffnete die von EVA LABOUVIE (Magdeburg) moderierte Sektion „Tendenzen und Probleme der Forschung“. Er bilanzierte die „Geschichtsforschung und -schreibung aus regionaler Perspektive“ und fragte nach neuen Herausforderungen für die Regional- und die Landesgeschichte. Für die regionale Geschichtsforschung sei das Verhältnis von partikularer und allgemeiner Geschichte konstitutiv. Walter äußerte zu diesem Verhältnis theoretische Überlegungen auf gesellschaftspolitischer, erkenntnistheoretischer und methodischer Ebene, um diese auf die historische Perspektive zu beziehen. Der Nationalstaat von 1871 habe in räumlicher Hinsicht für verfestigte Raumstrukturen und starre Grenzen gestanden; eine derartige staatliche und räumliche Konstruktion beschreibe die Soziologie mit dem ‚Container-Konzept’. Im Gegensatz dazu habe sich seit den 1920er-Jahren das Konzept der Kulturraumforschung entwickelt, das nicht länger die politische Geschichte im Fokus gehabt und zu teils diffusen, teils flexiblen Grenzen geführt habe. Walter ging auf die Kontroverse zwischen Landes- und Regionalgeschichte ein und wies daraufhin, dass für ihn die Definition der Regionalgeschichte allein über die Methode kein hinreichendes Kriterium mehr zu sein scheint. Er sah in der kritischen Reflexion über das wissenschaftliche und gesellschaftliche Selbstverständnis der Landes- und Regionalgeschichte eine ständige Herausforderung. Heute würden vor allem die erkenntnistheoretischen Herausforderungen der allgemeinen Geschichtswissenschaft und deren Transfer auf die regionale Ebene interessieren. Daher müssten die Landes- sowie die Regionalgeschichte in gleicher Weise um eine gegenstandsadäquate Anwendung neuer Konzepte bemüht sein.

GERD SCHWERHOFF (Dresden) referierte über „Historische Raumpflege. Der ‚spatial turn’ und die Praxis der Geschichtswissenschaften“. Schwerhoff prüfte im ersten Teil seiner Ausführungen die Behauptung eines „spatial turn“ vor dem Hintergrund der geschichtswissenschaftlichen Traditionen. Wichtiger als die Erklärung des neuen „turn“ seien die methodischen Schlussfolgerungen. Es gehe keineswegs um die Wiederentdeckung des Raumes schlechthin, sondern um eine sensiblere, systematischere, konzeptuell reflektierte und theoretisch informierte Umgangsweise mit der Kategorie „Raum“. Schwerhoff beschrieb den absolutistischen Raumbegriff und das relationale bzw. relativistische Raumkonzept und führte abschließend mehrere Raum-Typologien an. Einen anderen Zugang zur heterogenen Raumdiskussion sah Schwerhoff darin, diejenigen konkreten historischen Forschungsfelder und Leitthemen der letzten Jahre zu benennen und zu systematisieren, die eine besondere Nähe zu den programmatischen Diskussionen erkennen lasse. So wären etwa verschiedene Modi im Umgang mit dem Raum zu unterscheiden: die Bewegung im Raum, das Unterteilen des Raumes in Form von Grenzziehungen und das Ordnen des Raumes in Form von schriftlichen und visuellen Repräsentationen.

URSULA BRAASCH-SCHWERSMANN (Marburg) moderierte die Sektion „Wahrnehmung Westfalens als Raum und das Raumbewusstsein“ in der zunächst GUNNAR TESKE (Münster) über „Westfalen im Verständnis westfälischer Eliten“ referierte. Ausgehend von Raumvorstellungen Westfalens aus dem 16. und 18. Jahrhundert stellte er heraus, dass sich damals ein noch unspezifischer Raumbegriff gezeigt habe; Westfalen war mehr ein historischer als ein geographischer Begriff. Obwohl die Grenzen mit der Bildung der Provinz Westfalen 1815 festgelegt waren, habe sich in der ersten Zeit noch ein historisches Westfalenbild gehalten. Im Bewusstsein der Oberschicht habe sich die Verwaltungseinheit ‚Provinz’ dennoch rasch verankert. Der Bildung eines inneren Einheitsbewusstseins hätten die räumlichen, ökonomischen, sozialen, vor allem aber die territorialen (Alt-/Neupreußen) und konfessionellen Unterschiede und Gegensätze entgegenstanden. Aus der Finanzierung von Denkmälern und Repräsentationsbauten versuchte Teske auf die Existenz eines Westfalenbewusstsein geldgebender Eliten während des 19. Jahrhunderts zu schließen. So konnte er regionale Unterschiede des Westfalenbewusstseins festmachen, die mit einer weltanschaulich-politischen Gesinnung korrespondierten. Für die heutigen Verhältnisse befand Teske, dass sich ein Westfalenbewusstsein am deutlichsten im Münsterland artikuliere; er sprach sogar von einem Münsterzentrismus, während die anderen Subregionen kritisch auf die Rolle Münsters als westfälischer Verwaltungszentrale blickten.

WERNER FREITAG (Münster) wandte sich der Bedeutung der Religiosität für eine westfälische Identität zu. Sein Vortrag „Fromme Traditionen, konfessionelle Abgrenzung und kirchliche Strukturen: Religiosität als Faktor westfälischer Identität (16.-18. Jahrhundert)?“ gliederte sich in zwei Teile: Zunächst prüfte er die Hypothese, inwieweit der Faktor Religion ein einheits- und identitätsstiftendes mentales oder kartierbares Phänomen abgeben konnte. Im zweiten Teil ging er der Frage nach, welche Elemente der vormodernen frommen Westfalenbilder in der Moderne neu konturiert und welche erfunden wurden. Freitag kam zu dem Schluss, dass Religion als raumprägendes Moment für ein ‚Gesamtwestfalen’ zunächst ausschied. Seiner Ansicht nach trugen verschiedene konfessionell bedingte Abgrenzungsstrategien nicht nur in den heißen Phasen der Reformation zu einer Selbstverortung ohne Westfalenbezug bei. Das Trennende, sprich die Konfession und die bekenntnismäßig differenzierten Kultformen, habe mehr Gewicht erhalten als das Gemeinsame, etwa Sprache und Herkunft. Nach dem Kulturkampf sei jedoch ein vor- und überkonfessionelles frommes Westfalenbild entstanden: Die traditionell behauptete Beharrlichkeit der Westfalen wurde mit dem Attribut der Frömmigkeit gekoppelt. Daraus habe sich nach 1900 eine westfälische Treugläubigkeit als Klammer zwischen den Konfessionen ergeben; Westfalen wurde zunehmend überkonfessionell wahrgenommen.

WILFRIED REININGHAUS (Düsseldorf) sprach über „Die räumlichen Dimensionen der Wirtschaft zwischen Rhein und Weser (1700-1918)“. Zusammenfassend kam er zu dem Ergebnis, dass Westfalen um 1800 keinen zusammenhängenden Wirtschaftsraum gebildet habe, sondern in einzelne Wirtschaftsregionen zerfallen sei, die untereinander vernetzt waren. Westfalen sei nicht in den Fabriken entstanden, sondern vielmehr in den Köpfen von Verwaltung und Politik: Die Wirtschaft habe Westfalen nicht integriert. Er beschrieb Westfalen aus wirtschaftshistorischer Sicht als Summe von mehreren wirtschaftlich unterschiedlich geprägten Kleineinheiten und forderte, bei der weiteren wirtschaftshistorischen Erforschung nicht an den Provinzgrenzen halt zu machen und die Wirtschaft Westfalens in größere räumliche Zusammenhänge einzuordnen.

„Herrschaft, Verwaltung und Recht als Faktoren der Raumbildung in Westfalen“ nahm NICOLAS RÜGGE (Osnabrück) im nächsten Vortrag in den Blick. In der Frühen Neuzeit habe sich die Ausbildung von Flächenherrschaften in intensiver Weise fortgesetzt: Die Thematisierung von Grenzen habe geboomt, Grenzstreitigkeiten hätten Territorialvorstellungen verdeutlicht. Die äußeren Grenzen seien stärker markiert worden, und auch die innere Staatsbildung habe eine herrschaftliche Durchdringung des Raumes zur Voraussetzung gehabt. Nach einem chronologischen Durchgang, der vorwiegend den Aspekten „Herrschaft“ und „Verwaltung“ gewidmet war, stellte Rügge abschließend einige rechtsbezogene Forschungsansätze für das Städtewesen und die ländliche Güterverfassung vor. Westfalen sei städtisch geprägt gewesen und habe sich als eine selbstbewusste Stadtregion gezeigt. Dabei hätten die Städte die Region nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch-herrschaftlich und vor allem als Verwaltungsebene strukturiert. Das vom Anerbenrecht geprägte ländliche Westfalen habe im 19. Jahrhundert intensive Diskussionen um das Güter- und Erbrecht erlebt, die geholfen hätten, auf diesem Rechtsgebiet eine besondere Identität der Provinz innerhalb Preußens auszubilden.

Im letzten Vortrag der Sektion befasste sich der Sprachwissenschaftler JÜRGEN MACHA (Münster) mit „Sprachbewusstsein in Westfalen“. Er machte deutlich, dass der Aspekt „Sprache“ bei der Bildung räumlicher Strukturen eine wichtige Position einnimmt. Er näherte sich diesem Aspekt über zwei Zugriffsweisen, die er vorstellte und kritisch diskutierte. Im Mittelpunkt seines Vortrages stand der Zusammenhang zwischen Dialekt und Raum, wobei ein Schwergewicht auf den historischen westfälischen Verhältnissen lag. Die erste Untersuchungsmethode, die er ansprach, nähere sich dem Forschungsgegenstand objektiv, indem sie auf empirische Daten des Deutschen Sprachatlas und regionaler Wörterbücher gestützt eine sprachliche Raumgliederung Westfalens vornehme. Das zweite Verfahren beruhe auf Urteilen und Aussagen von sprachwissenschaftlichen Laien. Dieses „volkslinguistische“ Verfahren, dass in der Zunft eine spürbare Konjunktur erfahre, ermögliche bei aller Problematik einen zum Teil neuen, jedenfalls ergänzenden Zugriff auf die sprachliche Konstitution des Raumes. Macha stellte den Pionier Heinrich Büld vor, der diese Methode schon in den 1930er-Jahren angewandt habe und zu Unrecht in Vergessenheit geraten sei. Im Schlussteil erörterte er, inwieweit Prinzipien und Untersuchungspraktiken zur Frage „Sprache und Raum“ auch im Blick auf heutige Konstellationen tragfähig seien.

KARL DITT (Münster) hielt den öffentlichen Abendvortrag zum Thema „Der Raum als Gegenstand der Kulturpolitik. Westfalen im 19. und 20. Jahrhundert“. Ditt bot einen kritischen Überblick zur Geschichte der Kulturpolitik des Provinzial- bzw. Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe im 19. und 20. Jahrhundert. Das elementare Eigeninteresse des Verbandes bestehe in der Erhaltung und Ausdehnung seiner Kompetenzen. Auf diese Weise könne er am besten seine Existenz, Entfaltungsmöglichkeiten und seinen räumlichen Geltungsbereich sichern. Die Kulturpolitik, die auf der Grundlage der Kulturraumideologie erfolgt sei, habe ein mehrgliederiges Organisations- und Institutionensystem aufgebaut. Sie habe sich nicht im Sinne ihres ursprünglichen Auftrages auf Subventionen und Beratungen beschränkt, sondern darüber hinaus auch weitere Aufgabenbereiche erschlossen. Ditt skizzierte die Reaktionen der Kulturpolitik des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe seit den 1970er-Jahren auf die Infragestellung ihrer ideologischen Grundlagen und die Relativierung ihrer Alleinzuständigkeit. Von Bedeutung erschien ihm letztlich das Grundsatzproblem, welches der Rückblick auf die Geschichte der landschaftlichen Kulturpolitik in Westfalen deutlich macht: Wie können traditionelle Räume mittlerer Größenordnung jenseits der alten Stereotypen wissenschaftlich neu definiert werden?

Die von JÖRG ENGELBRECHT (Essen) moderierte dritte Sektion befasste sich mit „Westfalens Teilräume, Grenzräume, Westfalen aus der Sicht der Nachbarn“. Erster Referent war der Geograph und Raumplaner HANS HEINRICH BLOTEVOGEL (Dortmund). Blotevogel referierte über „’Geographische Grundlagen’ oder ‚räumliche Konstrukte’? Westfälische Räume und Grenzen aus geographischer Sicht“ und stellte alte und neue raumkonzeptionelle Ansätze aus der Geographie vor. Zunächst wandte sich Blotevogel dem klassischen holistischen Ansatz zu, der Räume als gegliederte Ganzheiten betrachtet. Hierzu referierte er die Kerngedanken von Wilhelm Müller-Wille, die dieser 1952 in seinem Buch geäußert hat. Die Definition der Außengrenzen Westfalens von Müller-Wille sei politisch motiviert gewesen, die Grenzziehung der Teilräume hingegen sei in ihrer Grobgliederung anerkannt. Blotevogel stellte anschließend den raumanalytischen Ansatz vor, der nicht Ganzheiten betrachtet, sondern eine flächendeckende räumliche Gliederung unter verschiedenen Kategorien – naturräumlich, wirtschaftlich und zentralörtlich – vornimmt, wobei die zentralörtliche Perspektive eine große praktische Wirkung erlangt habe. Blotevogel hielt fest, dass Räume und Grenzen als kulturelle Konstrukte zu gelten hätten, die auch wieder dekonstruiert werden könnten. Jedoch sei eine Region nicht beliebig konstruierbar, denn reale geographische Anknüpfungspunkte seien nötig; eine Verbindung zwischen Realraum und den Diskursen müsse berücksichtigt werden.

Unter dem Titel „Rheinland und Westfalen. Regionale Identitäten im südlichen Westfalen im 18. und frühen 19. Jahrhundert“ konkretisierte STEPHAN GORIßEN (Bielefeld) die Frage nach regionalen Identitäten als Frage nach einem spezifischen Raumbewusstsein, wie es sich in räumlichen Handlungsorientierungen und Selbstbeschreibungen einer entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit greifen lässt. In einem ersten Schritt fragte Gorißen, ob sich in Handlungsmustern und Interaktionskreisen eine auf „Westfalen“ bezogene räumliche Orientierung feststellen lasse. Er betrachtete die konfessionelle Struktur des bergisch-märkischen Grenzraums, die räumliche Ausrichtung der Wirtschaftsbeziehungen in den südwestfälischen Gewerberegionen sowie die Reichweite von Heiratskreisen der bürgerlichen Schichten. Die Bedeutsamkeit eines „Raumes Westfalen“ ließ sich nicht belegen. In einem zweiten Schritt untersuchte Gorißen die Relevanz des Westfalenbegriffs für die Selbstbeschreibung der bürgerlichen Öffentlichkeit im Spiegel der aufgeklärten Zeitschriften des bergisch-märkischen Raumes. Regionale Identitäten seien gegen alle Versuche einer Essentialisierung von Raumkonzepten nur als Ergebnisse einer konkreten kommunikativen Praxis zu verstehen, die ihrerseits sozialhistorisch präzise verortet werden müssen, will man ihre Bedeutung und Reichweite ermessen. Als Aufgabe bleibe somit, die Kommunikationsmuster der Menschen weiter zu erforschen und nach deren Wirkung zu fragen.

„Die nordwestfälischen Stiftsgebiete Münster und Osnabrück. Politische Grenzen und mentale Orientierungen“ waren das Thema von ALWIN HANSCHMIDT (Vechta). Er zeichnete kenntnisreich die politische Geschichte und die mentalen Ausrichtungen – darunter spielte die Konfession eine wichtige Rolle – verschiedener Teilregionen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart nach: Niederstift Münster, Emsland, Oldenburger Münsterland und den Weg vom Hochstift Osnabrück zum Osnabrücker Land. Bemerkenswert ist, dass in der jüngeren Geschichte einige der behandelten Regionen aus wirtschaftlichen Gründen oder regionalem Marketing entstanden sind bzw. konstruiert wurden. Hanschmidt fragte nach künftigen Haltepunkten einer mentalen Orientierung und Identität und stellte dazu die These auf, dass an die Stelle der früheren staatlichen und administrativen Zugehörigkeiten neue, nunmehr ökonomisch bestimmte treten könnten. Alternativ weise aber einiges darauf hin, dass die kleinräumige Identität wegen ihrer Überschaubarkeit umso wichtiger und auch widerstandsfähiger werde, je mehr es den politischen und wirtschaftlichen Großräumen daran fehle.

GUILLAUME VAN GEMERT (Nijmegen) betrachtete „Westfalen aus der Sicht der Niederlande“ unter dem Fokus von Kontinuitäten und Diskontinuitäten kollektiver Fremd- und Selbstwahrnehmungen. Wahrnehmung setze Identität voraus, die sich in einem Wechselspiel von Fremdbild und Selbstbild konstituiere. Stereotype über Völker seien in erster Linie Konstrukte, die der Abgrenzung und Selbstpositionierung von Völkern im Umgang mit Nachbarvölkern dienen würden. Die Niederlande habe ein Fremdbild zunächst auf alle deutschen Länder bezogen, darunter sei das Westfalenbild subsumiert worden. Etwa um 1700 sei Westfalen zunehmend als eigenständige Einheit verstanden worden. Seit dem 18. Jahrhundert hätten sich die Belege für eine negative Kontextualisierung von Westfalen und Westfälischem im niederländischen Sprachgebrauch gehäuft; bis weit ins 19. Jahrhundert habe man Westfalen in abfälliger Konnotation gebraucht. Seit etwa den 1960er-Jahren sei Westfalen als Tourismusziel attraktiv geworden und wieder positiver betrachtet worden. Generell sei zu beachten, dass es den Niederländer und den Westfalen nicht gebe; eine Pauschalisierung sei fiktional, denn in den Niederlanden habe man sich nicht überall in der gleichen Weise mit Westfalen befasst, nur der östliche Teil habe sich aufgrund der geographischen Nähe intensiver mit der Nachbarregion beschäftigt.

Den letzten Vortrag der Tagung hielt DIETMAR VON REEKEN (Oldenburg). Er befasste sich mit „Regionalismen im Konflikt. Auseinandersetzungen zwischen ‚Niedersachsen’ und ‚Westfalen’ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. Von Reeken ging zunächst auf die Genese eines Niedersachsenbewusstseins ein, dessen räumliche Basis als Raumkonstrukt im 19. Jahrhundert erfunden worden ist: Die entstehenden Heimatvereine und die dazugehörigen Zeitschriften trugen den Begriff „Niedersachsen“ bzw. „niedersächsisch“ als Programmatik im Namen. Ende der 1920er-Jahre habe im Kontext der Diskussionen um eine Reichsreform und forciert durch die sich verbreitenden Heimatbewegungen eine fünfundzwanzigjährige Auseinandersetzung zwischen ‚Niedersachsen’ und ‚Westfalen’ begonnen. Träger dieser Auseinandersetzung seien Verwaltungsbeamte und Politiker gewesen; regional arbeitende Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen hätten die Argumente geliefert. In den 1930er-Jahren habe ein reales Niedersachsen noch nicht existiert, jedoch eine Fülle von Institutionen, die sich niedersächsisch genannt hätten. Nach 1946 sei die innerniedersächsische Integration ein wichtigeres Thema als das Interesse an Westfalen gewesen. Die Motive und Argumente bei den Auseinandersetzungen seien auf beiden Seiten sehr ähnlich gewesen; hier nannte von Reeken als Kategorien: ökonomische Interessen, politische Zielsetzungen, kulturelle Interessen und historische Aspekte.

Die einzelnen Tagungsbeiträge zeigten aus ihren verschiedenen, auf den Raum Westfalen blickenden Perspektiven, dass dieser ein konstruiertes Gebilde darstellt. Die Tagung ist jedoch nicht nur bei den Fragen, wer in welcher Zeit zu welchem Zweck mit welcher Ideologie Westfalen konstruiert hat, stehen geblieben; nach der Dekonstruktion der „Einheit“ Westfalens richtete sich der Blick zwangsläufig auf die Teilräume. Die Frage nach der Verwurzelung und Wirkungsmächtigkeit eines westfälischen Raumbewusstseins ist sicher noch weiterzuverfolgen, gleiches gilt für die westfälischen Teilräume und deren Identitäten. Zudem brachten die interdisziplinären Aspekte der Tagung interessante Ergebnisse.

Konferenzübersicht:

Sektion I – Tendenzen und Probleme der Forschung
Moderation: Eva Labouvie (Magdeburg)

Bernd Walter (Münster)
Geschichtsforschung und -schreibung aus regionaler Perspektive. Bilanz und neue Herausforderungen

Gerd Schwerhoff (Dresden)
Historische Raumpflege. Der „spatial turn“ und die Praxis der Geschichtswissenschaften

Sektion II – Die Wahrnehmung Westfalens als Raum und das Raumbewusstsein
Moderation: Ursula Braasch-Schwersmann (Marburg)

Gunnar Teske (Münster)
Westfalen im Verständnis westfälischer Eliten

Werner Freitag (Münster)
Fromme Traditionen, konfessionelle Abgrenzung und kirchliche Strukturen: Religiosität als Faktor westfälischer Identität (16.-18. Jahrhundert)?

Wilfried Reininghaus (Düsseldorf)
Die räumlichen Dimensionen der Wirtschaft zwischen Rhein und Weser (1700-1918)

Nicolas Rügge (Osnabrück)
Herrschaft, Verwaltung und Recht als Faktoren der Raumbildung in Westfalen

Jürgen Macha (Münster)
Sprachbewusstsein in Westfalen

Sektion III – Westfalens Teilräume, Grenzräume, Westfalen aus der Sicht der Nachbarn
Moderation: Jörg Engelbrecht (Essen)

Hans H. Blotevogel (Dortmund)
‚Geographische Grundlagen’ oder ‚räumliche Konstrukte’? Westfälische Räume und Grenzen aus geographischer Sicht

Stefan Gorißen (Bielefeld)
Zwischen Rheinland und Westfalen. Regionale Identitäten im südlichen Westfalen im 18. und frühen 19. Jahrhundert

Alwin Hanschmidt (Vechta)
Die nordwestfälischen Stiftsgebiete Münster und Osnabrück. Politische Grenzen und mentale Orientierungen

Guillaume van Gemert (Nijmegen)
Westfalen aus der Sicht der Niederlande

Dietmar von Reeken (Oldenburg)
Regionalismen im Konflikt. Auseinandersetzungen zwischen „Niedersachsen“ und „Westfalen“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Anmerkung:
1 Vgl. Bavaj, Riccardo, Was bringt der „spatial turn“ der Regionalgeschichte? Ein Beitrag zur Methodendiskussion, in: Westfälische Forschungen 56 (2006), S. 457-484, hier S. 457.


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