Genese und Profil des europäischen Humanismus im 18. Jahrhundert

Genese und Profil des europäischen Humanismus im 18. Jahrhundert

Organisatoren
Martin Vöhler; Hubert Cancik; Projekt C 2 „Antike Konzepte ästhetischer Erfahrung und ihre moderne Rezeption“ (Sfb 626, „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“); Projekt „Humanismus in der Epoche der Globalisierung. Ein interkultureller Dialog über Kultur, Menschheit und Werte“ des Essener Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2007 - 07.10.2007
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Von
Anna-Maria Kanthak, FU Berlin; Eva María Mateo Decabo, FU Berlin

„O Humanität! O Blödsinn!“ Dieser Ausruf Nietzsches in „Jenseits von Gut und Böse“ könnte auch über einhundert Jahre nach dessen Tod angesichts der humanitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts seine Berechtigung haben. Warum der Humanismus diese sowenig wie Christentum und Sozialismus, Bildungswesen, Philosophen oder Künstler hatte verhindern können, ist eine oft gestellte Frage. Wie könnte ein zukunftsfähiger Humanismus aussehen, der solcher Inhumanität Rechnung trägt? Eine Antwort auf diese Frage erfordert zuvörderst eine Bestimmung der „Genese und [des] Profil[s] des europäischen Humanismus im 18. Jahrhundert“.

Zu diesem Zweck fand vom 5. bis 7. Oktober ein Symposium in der Freien Universität Berlin statt, das der Berliner Germanist Martin Vöhler in Zusammenarbeit mit dem Tübinger Philologen Hubert Cancik konzipiert hatte. Die Tagung ist eine Kooperation des Teilprojekts C 2 „Antike Konzepte ästhetischer Erfahrung und ihre moderne Rezeption“ des Sfb 626, „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“, und des von dem Historiker Jörn Rüsen geleiteten Projekts „Humanismus in der Epoche der Globalisierung. Ein interkultureller Dialog über Kultur, Menschheit und Werte“ des Essener Kulturwissenschaftlichen Instituts (KWI).

Nach einer Begrüßung durch den Kunsthistoriker und Sprecher des Sfb 626 WERNER BUSCH und einer Einführung durch HUBERT CANCIK führte die Berliner Kunsthistorikerin SUSANNE LEEB durch den ersten Teil der Tagung, der die Voraussetzungen des europäischen Humanismus im 18. Jahrhundert zu bestimmen versuchte. „Prolegomena“ zu einem Humanismus des Willens Rousseauischer Provenienz als Gegensatz zum Humanismus der raison in der französischen Aufklärung legte der Heidelberger Romanist Gerhard Poppenberg dar. Er zeichnete die Querelle des Anciens et des Modernes nach, in der die Antike als universales Paradigma durch Theorien vom Fortschritt als Vervollkommnung in Frage gestellt wurde. Über Fontenelles Metapher, nach der die Entwicklung einer Kultur der eines Menschen entspreche, ging er zu einer Entlarvung Rousseaus als Anti-Rousseauisten über, der immerhin neben der Korruptibilität dem Menschen auch die Perfektibilität zubilligt, die jenen am meisten vom Tier unterscheide. Als weiteres Unterscheidungsmerkmal zum Tier betone Rousseau den menschlichen Willen im Sinne seiner Wahlfreiheit: Er reinthronisierte die voluntas als drittes Seelenvermögen im Baum des Wissens der Enzyklopädisten, die an deren Stelle die Imagination gesetzt hatten.

Einen der Rousseauischen Wahlfreiheit zu Gut oder Böse nicht unähnlichen Ansatz fand der Osnabrücker Germanist MARK-GEORG DEHRMANN in dem englischen Philosophen Shaftesbury, dessen Grundsatz „virtue ist the good and vice the ill of everyone“ entgegen der christlichen Einheit von Religion und Tugend die Religion der Tugend unterordnete. Danach sei die Tugend allen Menschen auch ohne Gnade und Offenbarung zugänglich. Shaftesbury nutze die universal, aus der geistigen Würde des Menschen heraus konzipierte, Tugend als Maßstab, um die übernatürlichen Momente von der christlichen Religion abzutrennen. Sein Bezugssystem sei dabei die römische Stoa, besonders Marc Aurels und Epiktets. Allerdings beweise er in privaten Schriften ein deutliches Bewusstsein vom problematischen Charakter eines solchen universalen Tugendbegriffs. Er ruhe auf der Gefährdung des Menschen, der allein durch die private stoische Praxis eines die Vorstellungen und Affekte kontrollierenden Dialogs mit sich selbst abgeholfen werden könne.

In seinem Beitrag zum ästhetischen Humanismusbegriff des 18. Jahrhunderts veranschaulichte WERNER BUSCH die Definition des Idealkörpers dieser Zeit anhand verschiedener Antinoos-Skulpturen: Er sei die Mitte zwischen zwei Extremen, eines muskelbepackten Körpers des Atlas einerseits und eines schmalen Merkur andererseits. Deswegen hätten sich Rode und andere Maler und Radierer des 18. Jahrhunderts bei ihrer Darstellung von Jünglingen an deren Muster orientiert und auch deren emotionslosen Gesichtsausdruck aufgegriffen: Unmittelbare Sinnlichkeit durfte nur im Alter noch unvollständigen Geisteszustandes abgebildet werden. Busch verwies auch auf den englischen Maler Hogarth und seine „Analysis of Beauty“, der anhand der Antinoos-Skulpturen eine aufklärerische Ästhetik entwickelte, in der die Form von ihrem Träger abstrahiert wird und Schönheit eine berechenbare reine Form ist. Auch Winckelmann, für den die Antike normativ war, entwickelte anhand der Antinoos-Skulpturen gegen das klassische Ideal der Frührenaissance ein rein ästhetisches Ideal: Winckelmann habe am Antinoos die Abwesenheit von Leidenschaften geschätzt, weil diese dadurch dem Betrachter umso mehr das Fühlen dieser Leidenschaften und so das Begreifen der allgemeinen menschlichen Natur ermögliche.

Der Abendvortrag von JÖRN RÜSEN zu „Traditionsprobleme[n] eines zukunftsfähigen Humanismus“ wurde von Jutta Scherrer moderiert, Professorin für Russische Geschichte an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Seine Überlegungen nahmen ihren Ausgang von folgender Definition: ‚Humanismus‘ sei eine bestimmte Deutung des Menschen, die auf der Annahme beruhe, dass sich bestimmte Grundfragen der kulturellen Orientierung nur beantworten lassen, wenn sie in Bezug auf den Menschen gestellt werden. Deswegen müsse dieses Konzept zukunftsfähig sein, könne es aber nur sein, wenn folgende Traditionen des Humanismus des 18. Jahrhunderts aufgegeben würden: seine Verdrängung der Unmenschlichkeit, seine illusionäre Fiktionalisierung der Antike, sein innerer Ethnozentrismus, sein unzureichender Vernunftsbegriff und sein prekäres Verhältnis zur Natur. Stattdessen müsste sich ein zukunftsfähiger Humanismus folgenden Bedingungen stellen: einer Einbeziehung der Inhumanität in die Anthropologie, einer Historisierung bzw. Dynamisierung der Anthropozität, einer Überwindung der ethnozentrischen Elemente, einer Humanisierung der Vernunft und einer Reintegration der Natur. An Rüsens ambitionierten Vortrag schloss sich eine fruchtbare Diskussion mit stark divergierenden Meinungen über das Verhältnis des 18. Jahrhunderts zur Antike und zum Problem des Eurozentrismus an; vor allem zu letzterem Punkt brachte Rüsen seine Erfahrungen aus dem Essener Humanismus-Projekt ein.

Die zweite Sektion beschäftigte sich unter der Leitung von JUTTA SCHERRER mit politischen und rechtlichen Konzeptionen von Humanismus. Hierbei wurden die Menschenrechte als Voraussetzung des politischen Humanismus in zwei Vorträgen von ganz unterschiedlichen Blickpunkten betrachtet. Den Anfang bildete der Historiker Günther Lottes (Potsdam), der die Herausbildung der Menschenrechtsidee der Aufklärung im Spannungsfeld der politischen Sprachen des Naturrechts und des politischem Humanismus (civic humanism) skizzierte. Zunächst beschäftigte er sich mit den historischen Schichten des Freiheitsbegriffs von der Erlangung der religiösen Selbstbestimmungsfreiheit im 16. Jahrhundert bis zum Freiheitsbegriff der Französischen Revolution. In einem zweiten Schritt wurde die politische Semantik des Eigentumsbegriffs von der schottischen Sozialwissenschaft über den politischen Humanismus bis in den Sansculottismus untersucht. Abschließend behandelte Lottes die Verfassungsidee und den Tugendbegriff des politischen Humanismus in dem großen Umbruch des Herrschaftsverständnisses am Ende des 18. Jahrhunderts, der von der Herrschaft als Besitz zur Herrschaft als Konsens und Mandat führte.

Im Gegensatz zu Lottes, der das Bewusstsein für die Menschenrechte innerhalb des Kampfes um die Bürgerrechte situierte, sah der Greifswalder Althistoriker EGON FLAIG die Durchsetzung der Menschenrechte in einem Zusammenhang mit der Abschaffung der Sklaverei. Dem Eurozentrismus des Humanitätsgedankens, den Jörn Rüsen kritisiert hatte, konnte er auf dieser Grundlage einen positiven Aspekt abgewinnen: Einzig die europäisch-westliche Kultur habe sich dem Kampf gegen die Sklaverei gestellt, folglich seien nur hier die Menschenrechte entstanden. Schon Papst Paul III. habe jegliche Versklavung untersagt, woraufhin sie in Amerika zurückging; 1552 habe der Dominikaner Bartolomé de Las Casas den Begriff der Menschenrechte geprägt. Der Gedanke führte Flaig zu einer ungewohnten Perspektive auf die von eurozentrischem Denken geprägte Kolonialisierung Afrikas, die – so die zugespitzte These – bei aller Gewaltsamkeit auch eine menschenrechtliche Dimension gehabt habe. Im Gegensatz zu Poppenberg, der den Humanitätsgedanken mit der Aufklärung nachgerade gleichsetzte, nannte Flaig die Aufklärung, angesichts ihres Einsatzes für die Lehre von der Polygenese, einen „unfruchtbaren“ Nährboden für die Humanitätsidee. Vielmehr seien es – entgegen der communis opinio – die evangelikalen Minderheiten, so etwa die aus Europa nach Amerika emigrierten Puritaner, gewesen, die den Abolitionismus, also die Abschaffung der Sklaverei, maßgeblich vorangetrieben hätten. Schließlich argumentierte er gegen freiwillige Versklavung, weil mit William Wallace alle Menschen nicht nur sich selbst, sondern ihrer Gemeinschaft gehörten und damit „Selbstverstümmelung auch Verbrechen an der Gemeinschaft“ sei.

Unter der Leitung der Berliner Klassischen Philologin ANTJE WESSELS befasste sich der dritte Teil der Tagung mit der humanistischen Theoriebildung. Die antiken Voraussetzungen von Herders Humanitätsauffassung stellte HUBERT CANCIK vor, wobei sein Fokus auf der dritten und sechsten Sammlung der „Briefe zur Beförderung der Humanität“ lag. Herders Begriff der Humanität entspreche dem antiken Wortfeld von humanitas, die gedanklichen Wurzeln der Humanitätsidee seien nicht im Christentum zu suchen. Vielmehr seien die verschiedenen Bedeutungsschichten ebenso wie der ethische Kern seines Humanitätsbegriffs auf stoische Konzepte zurückzuführen. In der antiken Plastik finde Herder „anschauliche Kategorien“ von Humanität. Wie die offensichtlichen Übel dieser Welt und die verschiedenen Ausprägungen des Inhumanen innerhalb der Humanitätsidee zu verstehen und zu verorten sind, bleibt ein Problem, das der von Cancik beschriebene Rekurs auf ein Weltbild, das wie das stoische das Schlechte nur als Perversion, nicht aber als einen Teil des Menschseins begreift, in besonderer Weise offenlegen konnte.

Mit „Kein Mensch muß müssen“ eröffnete UWE STEINER, Germanist an der Rice University in Houston, Texas, seine Analyse von Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“. Das Zitat stammt aus dem „Nathan“. Beide Schriften galten lange Zeit als Lessings „humanistische Schriften“ und wurden unter diesem Titel wiederholt gemeinsam in einem Buch gedruckt. Ihr Zusammenhang ist aber nicht nur inhaltlicher Natur. Während man dem „Nathan“ vorwarf, ein unpoetisches Drama zu sein, irritierten die theoretischen Texte dadurch, dass sie eine allzu poetische Sprache pflegten. Als Eigenart von Lessings Schriften ist jedenfalls festzuhalten, dass sie die Grenze zwischen theoretischem und poetischem Diskurs offenbar vorsätzlich missachten. Wie Steiner zeigte, ist dies in Lessings Überzeugung begründet, dass die Wahrheit sich dem menschlichen Verstand nicht in begrifflicher, sondern vielmehr in bildhaft-verhüllter, metaphorischer Form präsentiere. Die Verhüllungsmetaphorik spielt nicht nur im poetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle, sondern blickt auf eine lange Tradition in der christlichen Exegese des Alten Testaments zurück. Hier knüpft die Figuraldeutung an, die das Alte Testament als Prophezeiung auf das Neue liest und in diesem die noch ausstehende endgültige Erfüllung, das Kommen des Gottesreiches, lebendig hält. Indem Steiner die Erziehungsschrift in diesen Kontext stellte, machte er zugleich darauf aufmerksam, dass Lessing die Denkfigur der Figuraldeutung auf diese selbst anwendet und sie so über ihren theologischen Kontext hinausführt. Das, so Steiner, sei der wörtliche Sinn von Lessings Hinweis, dass er seine Bibelexegese an der Erziehung als dem „Gegenbilde der Offenbarung“ erkläre. Dem Grimmschen Wörterbuch gemäß ist Gegenbild das deutsche Wort für antitypus, also figura.

Anschließend referierte der Bochumer Religionswissenschaftler VOLKHARD KRECH über „Menschheitsreligion“. Diese sei entweder eine positive Religion mit universalem Geltungsanspruch oder aber eine Synthese aus verschiedenen positiven Religionen, wie sie z. B. in der Theosophie zu finden sei. Ein drittes Verständnis sei das einer „Religion der Humanität“, die den Menschen ins Zentrum der Verehrung stelle. Krech explizierte letzteres an Herder, der als erster diesen Begriff in abgewandelter Form prägte und von einer „Religion der Menschheit“ sprach. Darunter verstand er eine Universalisierung des Christentums, das für ihn die höchste Religion darstellte, allerdings ohne einen persönlichen außerweltlichen Gott, aber mit den konstitutiven christlichen Gesinnungen. Als Hintergrund eines anthropozentrischen Religionsverständnisses machte Krech zwei Entwicklungen aus: Über die anthropologisch-psychologische Perspektive auf Menschheitsreligion, die in dem Motto „homo homini deus est“ (Feuerbach) gipfelte, kam Krech zweitens auf die funktionale Perspektive zu sprechen, deren Ursprung er in der Antike festmachte und deren Ausprägungen er im Positivismus eines Auguste Comte und im Marxismus verfolgte. In der anschließenden Diskussion verwies Jutta Scherrer auf das Gotterbauertum, eine marxistische Strömung, die in der Synthese aus Religion und Marxismus den einzigen Weg sah, dem zumeist aus orthodoxen Bauern bestehenden russischen Volke letzteren zugänglich zu machen.

Im Anschluss stellte MARTIN VÖHLER drei Beispiele aus der Konstituierungsphase des so genannten „Neuhumanismus“ (etwa 1790-1840) vor. Vergleichend betrachtete er die Humanitätsauffassungen Herders, Abeggs und Niethammers. Das von Johann Heinrich Meyer in Herders Auftrag gestaltete Titelkupfer zu dessen „Briefe[n] zur Beförderung der Humanität“ eigne sich als ein Schlüssel für Herders Humanitäts-Verständnis: Eine weibliche Figur sitzt auf einem den Tierkreis darstellenden und die Erdkugel umschließenden Halbbogen und hält in der rechten Hand eine zu einer Rolle gebundene Sammlung von Blättern. Sie verweise auf einen anderen Kupferstich Meyers, eine Aurora, die dem Sonnenaufgang vorausgehende personifizierte Morgenröte: So wie Aurora den Tag vorbereite, erscheine die Humanitas als Morgenröte der Menschheit. Über der Erdkugel sitzend, deute sie auf ein universalistisches, multikulturell-inklusives Humanitätsverständnis Herders. Die Sammlung von Blättern in ihrer rechten Hand deute darauf, dass Herder keine geschlossene Theorie entwerfe, sondern, eine Fülle von Autoren ganz unterschiedlicher Provenienz verbindend, vielmehr eine Heuristik von Humanitätskonzeptionen vortrage. Das Reisetagebuch von Johann Friedrich Abegg (1765–1840) verhalte sich zu Herders Briefen wie die Probe auf das Exempel. Die Notate seiner Bildungsreise liefern ein Bild der deutschen Humanitätsdiskussion im Frühsommer 1798 und den bislang frühesten Beleg für den Gebrauch des Wortes ‚Humanismus‘, dessen Prägung gewöhnlich erst Niethammer zugeschrieben wird. Aber nicht nur lexikalisch, sondern auch konzeptuell kommt Abeggs Aufzeichnungen eine herausragende Bedeutung zu. Abeggs Notate nehmen die Antithese von Humanismus und Philanthropinismus vorweg, die Niethammer in seiner Streitschrift von 1808 pointieren wird, indem sie den Philanthropen zu starken Utilitarismus vorwerfen. Niethammer entwickele sein pädagogisches Konzept der Allgemeinbildung, in dessen Zentrum die Vermittlung von Vernunft und Kultur stehe.

Die letzte Sektion des Symposiums widmete sich unter der Leitung der Berliner Religionswissenschaftlerin SUSANNE GÖDDE dem Zusammenhang von Antike und Europäischer Identität. Zunächst sprach der Kölner Archäologe Alfred Schäfer über „Antike Grenzen und Denkmäler und die Formierung des politischen Raums“ und eröffnete seinen Beitrag mit der These: „Grenzen können Staaten miteinander verbinden.“ Dies erörterte er am Beispiel der Regionalisierung der Antikerezeption in Siebenbürgen (bzw. der römischen Provinz Dacia). Luigi Ferdinando Marsigli (1658-1730) leitete einen epochalen Paradigmenwechsel ein, indem er die Beobachtung der eigenen Umwelt im Kabinett und die antiquarische Sammlung der Ergebnisse durch naturwissenschaftliches Experiment und Dokumentation vor Ort ersetzte. So entdeckte er Überreste des römischen Limes an der Donau, wertete die Befunde für die Habsburger aus und rekonstruierte eine Brücke am Ort und nach Art der antiken Trajansbrücke. Hier nahm die Instrumentalisierung des Römischen Imperiums als identitätsstiftendes Merkmal ihren Anfang, die sich bis zur Stiftung mehrerer Nachbildungen der Kapitolinischen Wölfin durch Mussolini fortsetzte.

Der Jenaer Latinist VOLKER RIEDEL, der sich vornehmlich mit Antikerezeption beschäftigt, griff mit dem Problem der Antike-Verherrlichung im 18. Jahrhundert ein vieldiskutiertes Thema der Tagung auf und wies nach, dass es auch im 18. Jahrhundert kein „monolithisches“ Bild der Antike gegeben habe. Neben dem die Antike idealisierenden Winckelmann („edle Einfalt, stille Größe“) und Humboldt stellte Riedel differenzierende zeitgenössische Kritik vor: Klopstock meinte, dass die antike Kunst von modernen vaterländischen und christlichen Darstellungen übertroffen werden könne. Wieland, der Griechen-Enthusiast der 1750er und 60er Jahre, distanzierte sich seit den 70er Jahren von dem griechischen „luftigen Lumpengesindel“. Herder konstatierte eine Projizierung des jeweils eigenen Humanitätsbegriffs auf die Griechen. Ähnlich argumentierte Friedrich Schlegel, wenn er sagt: „Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte, oder wünschte; vorzüglich sich selbst.“ Der späte Schiller schließlich relativierte den zuvor propagierten Gegensatz vom zerrissenen modernen und ganzheitlichen griechischen Menschen. Die Idealisierung der Antike im 18. Jahrhundert bleibe also – wie der Referent ausführte – ein widersprüchliches Phänomen.

Den Abschluss des Symposiums bildete der Vortrag des Jenaer Philosophen HELMUT HÜHN über „Denkformen der Humanität“. Hühn zeigte Perspektiven einer Humanismusforschung auf, die die modernen Erfahrungen geschichtlicher Zivilisationsbrüche ernst nimmt. Gegen die bewussten Entwertungsversuche in der Tradition des Anti-Humanismus komme es darauf an, die theoretischen Potenziale des klassischen Humanismus neu zu entfalten. In dieser Absicht vergegenwärtigte Hühn Denkformen kultureller Humanität von Herder über Hölderlin bis zu Goethe. Herder denke bereits im Frühwerk von der Erfahrung kultureller Alterität her. Es gelinge ihm, das Verhältnis von kultureller Besonderheit und menschheitlicher Allgemeinheit produktiv zu vermitteln. Humanität, historisch gedacht, bezeichne den Weg zur Einheit des Menschengeschlechts als einer Einheit, in der die ‚ineffable’ Individualität in vielfältiger Weise gelebt wird. Das Selbstwerden des Individuums wie der menschlichen Gattung finde, und diese Einsicht zeichne Herder als einen ‚Denker der Moderne’ aus, im Raum der Inter-Subjektivität wie der Inter-Kulturalität statt. Herders wie auch Hölderlins und Goethes Begriffe von Humanität seien von vornherein auf Verständigung hin angelegt, auf die Verständigung des Menschen mit sich selbst und mit seinesgleichen. Deren Basis sei das nicht abreißende Bemühen um Übersetzung, des Fremden in das Eigene wie des Eigenen in das Fremde.

Den Referenten und dem Publikum wenigstens, die im Sinne einer solchen Verständigung „immer strebend sich bemüht[en]“ – um mit dem hier ausnahmsweise nicht überstrapazierten Goethe zu sprechen – ist dies in ertragreichen Diskussionen gelungen. Im Zeichen der Alterität ist auch ein anderes Fazit gar nicht denkbar, weil ja ein freier Gebrauch des Eigenen erst in der Auseinandersetzung mit dem immer wieder anderen erworben werden kann.

Konferenzübersicht:

Genese und Profil des europäischen Humanismus im 18. Jahrhundert

Freitag, den 5.10.2007

Begrüßung (Werner Busch, Berlin)
Einführung (Huber Cancik, Tübingen/Berlin)

I. Voraussetzungen des europäischen Humanismus im 18. Jhd. (Leitung: Susanne Leeb, Berlin)
- Gerhard Poppenberg, Heidelberg: Zurück zu Rousseau. Prologomena zu einem Humanismus des Willens
- Mark-Georg Dehrmann, Osnabrück: „Virtue is the Good, and Vice the Ill of everyone“. Shaftesburys Humanismus und die Stoa.
- Werner Busch, Berlin: Der Idealkörper des Heiligen Antinoos
- Jörn Rüsen, Essen: Traditionsprobleme eines zukunftsfähigen Humanismus (Einführung: Jutta Scherrer, Paris)

Samstag, den 6.10.2007

II. Politische und rechtliche Konzeptionen (Leitung: Jutta Scherrer, Paris)
- Günther Lottes, Potsdam: Die Menschenrechtsidee der Aufklärung zwischen Naturrecht und politischen Humanismus
- Egon Flaig, Greifswald: Sklaverei und Menschrechte

III. Humanistische Theoriebildung (Leitung: Ante Wessels, Berlin)
- Hubert Cancik, Tübingen/Berlin: Die Begründung der ‚Humanität’ bei Herder
- Uwe Steiner, Houston, Texas: Das Gegenbild der Offenbarung. Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“
- Volkhard Krech, Bochum: Menschheitsreligion
- Martin Vöhler, Berlin: Von der ‚Humanität’ zum ‚Humanismus’, Herder bis Niethammer

Sonntag, den 7.10.2007

IV. Antike und Europäische Identität (Leitung: Susanne Gödde, Berlin)
- Alfred Schäfer, Köln/Rom: Antike Grenzen und Denkmäler und die Formierung des politischen Raums
- Volker Riedel, Jena: Zur Problematisierung der Antike-Verherrlichung im 18. Jahrhundert
- Helmut Hühn, Jena: Denkformen der Humanität


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