Geschichtsdidaktik empirisch 07

Geschichtsdidaktik empirisch 07

Organisatoren
Institut Forschung und Entwicklung Pädagogische Hochschule FHNW
Ort
Basel
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.08.2007 - 25.08.2007
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Von
Bernhard Schär E-Mai:

Zwar etablierten sich die philosophisch-historischen Fakultäten an Schweizer Universitäten im 19. Jahrhundert mit der Absicht, Lehrpersonen für die Sekundarschulen und die Gymnasien auszubilden. Wie der Bildungshistoriker und Leiter des Instituts Forschung und Entwicklung der Pädagogischen Hochschule FHNW, Lucien Criblez, in seinem Eröffnungsreferat an der Basler Fachtagung für Forschende der Geschichtsdidaktik ausführte, blieb es bei der Absichtserklärung. An den Lehrstühlen für Geschichte blieb die Lehre von der schulgerechten Vermittlung von geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen – die Fachdidaktik – eine Randerscheinung. Sie begnügte sich weitgehend damit, angehenden Lehrpersonen Unterrichtsanleitungen auf den Weg zu geben, ohne Kenntnisse darüber, wie die normativen Vorstellungen in der Praxis umgesetzt wurden und welche Lernerfolge sie bewirkten.

Erst der 'PISA-Schock' und die Gründung von Pädagogischen Hochschulen haben in jüngerer Zeit den Fachdidaktiken - und damit auch der Geschichtsdidaktik - in der Schweiz zu einer empirisch-sozialwissenschaftlichen Blüte verholfen. Das bislang grösste Projekt bildete eine Untersuchung von Geschichtsdidaktikern und Erziehungswissenschaftlerinnen der Pädagogischen Hochschulen Bern, Zürich, Nordwestschweiz sowie der Universität Zürich. Sie haben zwischen 2003 und 2004 die „Black-Box“ Geschichtsunterricht empirisch ausgeleuchtet, indem sie Geschichtslektionen in 41 Deutschschweizer Sekundarschulklassen auf Video aufzeichneten. Zudem wurden Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler befragt. Erstmals im deutschen Sprachraum sind damit umfangreiche Einsichten in die gelebte Unterrichtspraxis möglich, sowie darüber wie Lehrpersonen und Jugendliche Unterricht wahrnehmen und erleben. Anlässlich der Publikation der Studie1 hat die Pädagogische Hochschule FHNW Forschende aus der Westschweiz und aus Deutschland, wo die empirische Geschichtsdidaktikforschung seit längerem an den Hochschulen verankert ist, zu einer Fachtagung eingeladen.

Die theoretische Prämisse der empirischen Geschichtsdidaktik lautet, dass ein entwickeltes "Geschichtsbewusstsein" eine Voraussetzung bildet für die Mündigkeit des Individuums. "Geschichtsbewusstsein"2 bezeichnet mit Jeismann die Art und Weise, wie Menschen und Gesellschaften Vergangenheitsvorstellungen benutzen, um sich in ihrer Gegenwart zu orientieren und damit Perspektiven für ihre Zukunft entwickeln. Insofern gehört Geschichtsbewusstsein zur Lebenswelt jedes Menschen. Mündige Individuen, mit einem reflektierten Geschichtsbewusstsein, zeichnen sich durch die Anwendung gewisser Kompetenzen aus, mit denen sie dominante Geschichtsdeutungen, die von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen an sie herangetragen werden, als solche erkennen, kritisieren, selbständig beurteilen und gegebenenfalls ersetzen können. In der (deutschsprachigen) geschichtsdidaktischen Debatte kursieren zurzeit verschiedene Vorschläge, wie man sich diese Kompetenzen, die Geschichtsbewusstsein konstituieren, vorzustellen hat.3 Einigkeit besteht darin, dass sich Geschichtsunterrichts nicht mit dem Vermitteln von Inhalten (Geschichte pauken) begnügen kann. Die Kernaufgabe des Geschichtsunterrichtes sei es viel mehr, Schülerinnen und Schüler beim Aufbau dieser Kompetenzen zu unterstützen (Geschichte denken). Die Aufgabe der empirischen Geschichtsdidaktik ist es, zu erforschen, wie historisches Lernen in der Praxis funktioniert, wie es optimiert werden kann, sowie welche Rückschlüsse für die Weiterentwicklung der Theorie des Geschichtsbewusstseins zu ziehen sind.

An der Basler Tagung präsentierten Forschende Ergebnisse aus laufenden Forschungsprojekten, darunter etlichen Promotionsvorhaben. Ein gemeinsames Grundanliegen, das von der Mehrheit der Referierenden angesprochen wurde, bildete dabei die Frage, welche Lernvoraussetzungen Schülerinnen und Schüler von aussen in den Unterricht hineintragen und wie sie Vergangenheit und Geschichte erleben. FRANÇOIS AUDIGIER, PHILIPPE HAEBERLI UND NADINE FINK (Genf) zeigten anhand einer Befragung von Genfer Sekundarschülerinnen und -schülern, dass etwa 30 Prozent der Befragten, mit einer steigenden Tendenz vom siebten bis zum zehnten Schuljahr, in der Geschichte weder eine persönliche noch eine gesellschaftliche Relevanz erkennt. Sie erlebt den Geschichtsunterricht als eine Zumutung. Mit welchen didaktischen Inszenierungen diese Gruppe für den Geschichtsunterricht motiviert werden könne, bilde – so Audigier – eine Herausforderung für die künftige Geschichtsdidaktik.

Grosse Unterschiede zeigten sich nicht nur in der Einstellung zu Geschichte, sondern auch bezüglich der spezifischen Kompetenzen, die historisches Denken konstituieren. Ulrike Kuhlmann (Göttingen) präsentierte Ergebnisse aus ihrem laufenden Dissertationsprojekt zur Kompetenz von Schülerinnen und Schülern bei der Analyse von historischen Ereignissen zwischen einer Gegenwarts- und einer Vergangenheitsperspektive unterscheiden zu können. MARKUS BERNHARDT (Kassel) und KRISTINA LANGE (Bochum) stellten Resultate vor zur Kompetenz von Jugendlichen, Fotografien nicht bloss als Abbildungen von Vergangenheit, sondern als Konstrukte mit einer Perspektive und einer Intention zu analysieren. Die laufenden Projekte von OLAF HARTUNG (Giessen), GERHARD HENKE BOCKSCHATZ (Kassel), MATTHIAS MARTENS (Göttingen), SABINA BRÄNDLI und STEPHAN HEDIGER (Zürich) thematisierten Erzähl-, Frage-, Begründungs- und De-Konstruktionskompetenzen. Sie lassen erkennen, dass es innerhalb der Jahrgangsgruppe grosse Unterschiede beim Kompetenzaufbau gibt. Und dass bei einem Teil der Jugendlichen der Geschichtsunterricht auf Sekundarschulstufe kaum Kompetenzsteigerungen bewirkt. Für die geschichtsdidaktische Forschung zeichnet sich damit ab, dass sie sich künftig verstärkt mit den Ursachen für diese Unterschiede befassen und entsprechende didaktische Antworten darauf entwickeln muss.

MICHELE BARRICELLI (Berlin), JOHANNES MEYER-HAMME (Hamburg) und CHRISTIAN MATHIS (Oldenburg) zogen den gesellschaftlichen Kontext von Unterricht – Migration und kulturelle Vielfalt – explizit in ihre Analyse mit ein. Darüber hinaus wählten sie eine dezidiert akteursorientierte Zugangsweise, die über die Konstatierung von Defiziten im historischen Lernen von Jugendlichen hinausgeht. So untersuchte Barricelli, wie Realschülerinnen und –schüler in Berliner Museen ausgehend von Familienerbstücken (z.B. eine alter Porzelanteller) eigene Ausstellungen konzipieren und dazu kurze Texte verfassen. Barricelli betonte: „Schüler können erzählen!“ Sie verknüpften ihre Familien- mit der allgemeinen Geschichte zu verschiedenen Formen von historischen Sinnbildungen. Sie entwickelten also eigene Darstellungen von Vergangenheit, um sich und ihre Familien in der gegenwärtigen deutschen (Migrations-)Gesellschaft zu positionieren. Mathis deutete anhand von Zwischenergebnissen aus Gruppeninterviews mit Deutsch- und Westschweizer Jugendlichen über Napoleon an, dass im Geschichtsunterricht der beiden Landesteile verschiedene Erinnerungskulturen wirksam werden. Während die Innerschweizer eher die „positiven“ Seiten Napoleons für die Schweiz hervorhoben, der den Weg von der Ständegesellschaft in die liberale Bürgergesellschaft geebnet habe, sahen die frankophonen Westschweizer Jugendlichen Napoleon eher als „Plünderer der Staatskasse“.

BETTINA ALAVI (Heidelberg) und JAN HODEL (Aarau) fragten nach dem Umgang von Jungendlichen mit digitalen Lernhilfen. Alavi rekonstruierte unterschiedliche Lernstrategien von Jugendlichen mit einer „historischen Selbstlernsoftware“ (CD-Rom). Hodel rekonstruiert in seiner Dissertation wie Jugendliche für ihre historische Sinnbildung mit so genannter "social software" (wikis, blogs etc.) umgehen, die sie nicht nur passiv nutzen, sondern auch gemeinschaftlich aktiv herstellen können.

Dem praktizierten Geschichtsunterricht war nur ein Referat gewidmet, das sich jedoch – wie sich auch in anderen Beiträgen zeigte – dem pièce de résistance des aktuellen Geschichtsunterrichts widmete: dem Unterricht über den Holocaust. Der Aufschwung der Neuen Rechten, der Israel-Palästina-Konflikt sowie die zunehmende Bedeutung des Islam in Europa heben das Thema im Stoffplan heraus. Dies scheint zu einer paradoxen Situation zu führen, wie MATTHIAS PROSKE (Frankfurt) analysierte. Obwohl, oder gerade weil das Thema so stark moralisch aufgeladen ist, findet im Unterricht offenbar keine Thematisierung der moralischen Einstellungen von Jugendlichen zu Antisemitismus und Holocaust statt. Proske bilanzierte, dass im Bemühen um einen möglichst „moralfreien“ Unterricht ein Hauptauftrag von schulischer Bildung untergehe – nämlich die „moralische Erziehung“.

MONIQUE ECKMANN (Genf) thematisierte den Umgang von Lehrkräften aus der französisch- und italienischsprachigen Schweiz mit dem Shoa-Unterricht. Demnach erleben alle Lehrkräfte das Thema als spezielle Herausforderung, zumal es Schülerinnen und Schüler – von Indifferenz bis Ablehnung – polarisiere. Die Strategien, mit denen Lehrkräfte dieser Herausforderung begegnen, lassen sich drei Typen zuordnen: 1) eine Identifizierung mit den Opfern; 2) in selbstauferlegter Mission die eigene moralische Empörung teilen; 3) gelassenes Engagement.

Zum Unterrichten braucht es entsprechende Instrumente. Das traditionell wichtigste Medium im Geschichtsunterricht ist das Geschichtslehrbuch. Diesem widmete sich eine Forschergruppe rund um WALTRAUD SCHREIBER (Eichstätt). Das Projekt analysierte die gängigen Geschichtslehrmittel im deutschen Sprachraum, um jene mit Lehraufträgen zu identifizieren, die sich für die Entwicklung von historischen Kompetenzen am besten eignen. Sabine Horn (Göttingen) plädierte für den stärkeren Einbezug von historischen Filmquellen für die Kompetenzentwicklung. Schülerinnen und Schüler könnten die voraussetzungsarmen und erprobten Methoden aus der kategorialen Filminhaltsanalyse im Unterricht selber anwenden, um ihre Analysekompetenz zu trainieren. MICHAEL STRUB (Basel) befasst sich in seinem laufenden Promotionsprojekt mit der Frage, wie Lehraufträge aus linguistischer Sicht verfasst werden müssen, damit sie von Schülerinnen und Schülern verstanden werden. Ebenfalls einer gleichermassen neuen wie praxisrelevanten Forschungsfrage widmen sich KARIN FUCHS und NADINE RITZER (Luzern): Wie konzipiert man eine gute Geschichtsprüfung? Geplant ist eine Erhebung über den Ist-Zustand in der Zentralschweiz, sowie die Identifikation von Prüfungen, die sich besonders eignen, um den Kompetenzzuwachs von Schülerinnen und Schüler zu prüfen.

Das Schlusswort der Tagung gehörte dem Doyen der empirischen Geschichtsdidaktikforschung, BODO VON BORRIES (Hamburg). Er bearbeitet das Feld seit den 1970er-Jahren und hat mit seinen grossen Untersuchungen ein Fundament gelegt, auf dem implizit oder explizit die meisten aktuellen Forschungen aufbauen. Er mahnte bei der gegenwärtig dominierenden Euphorie für Empirie in der Geschichtsdidaktik, die theoretisch-normative und vor allem pragmatische Arbeit nicht aus den Augen zu verlieren. Wie nämlich empirische Forschungsbefunde normativ an Lehrpersonen vermittelt werden könnten, damit diese sie im Unterricht wirksam werden lassen, sei theoretisch noch zu wenig geklärt.

Anmerkungen:
1 Gautschi, Peter/Moser, Daniel V./Reusser, Kurt/Wiher, Pit (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte, Bern 2007.
2 Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbewusstsein, in: Handbuch der Geschichtsdidaktik, hrsg. v. Bergmann, Klaus u.a., Düsseldorf 1979, S. 42-45.
3 Gautschi, Peter: Geschichtsunterricht erforschen - eine aktuelle Notwendigkeit, in: ders. et al. (Hrsg.): Geschichtsunterricht heute, Bern 2007, S. 21-60; Sauer, Michael: Kompetenzen für den Geschichtsunterricht - ein pragmatisches Modell als Basis für die Bildungsstandards des Verbands der Geschichtslehrer, in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer 72, 2006, S. 7-20; Schreiber, Waltraud et al.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell, Neuried 2006; Pandel, Hans-Jürgen: Geschichtsunterricht nach PISA: Kompetenzen, Bildungsstandards, Kerncurricula, Schwalbach 2005.

Kontakt

Daniela Prina
Schwerpunkt Individuum und Gesellschaft
Institut Forschung und Entwicklung
Pädagogische Hochschule FHNW
Kasernenstrasse 20
5000 Aarau

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