Krise als Form gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und historiographischer Beschreibung (in) der frühen Neuzeit

Krise als Form gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und historiographischer Beschreibung (in) der frühen Neuzeit

Organisatoren
Teilprojekt A6 „Zeitdiagnosen im 17. Jahrhundert“ des SFB 485 „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration“, Universität Konstanz
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.07.2007 - 14.07.2007
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Von
Ina Dietzsch, Department of Anthropology, Durham University

Ganz gleich ob man die Tagespresse, Diskussionen im Alltag oder in der Wissenschaftspolitik betrachtet, es lassen sich gegenwärtig unendliche Beispiele finden, in denen Krisen diagnostiziert werden. Ist dies ein neues Phänomen oder wie weit lässt sich die Krise als ein Instrument von gesellschaftlicher Selbstbeschreibung zurückverfolgen? Das waren die Fragen, die mich als Europäische Ethnologin, die sich mit Krisenrhetorik in der Gegenwart beschäftigt, auf diese Tagung von HistorikerInnen der frühen Neuzeit geführt hat.

Das 17. Jahrhundert gilt bekanntlich aufgrund vielschichtiger Verwerfungen und Umbrüche als das Krisenjahrhundert – und dies erstaunlicherweise obwohl, wie man sich auf dieser Tagung einig wurde, der Terminus der Krise unter den Zeitgenossen noch gar nicht verwendet wurde. Zur Beschreibung gesellschaftlicher Zustände bzw. Entwicklungen diente er erst seit dem Ende des 17. oder Anfang des 18. Jahrhunderts. Doch, wie Rudolf Schlögl es in seinem Resümee am Ende der Tagung treffend formulierte, waren die Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts offensichtlich bereits auf der Suche nach diesem Begriff. Sie experimentierten, wie in den einzelnen Vorträgen deutlich wurde, noch mit ambivalenteren Vorläufern wie Katastrophe, Niedergang, Verfall, Untergang, Ruin, Tumult, Revolte, Absurda und artikulierten damit Ohnmacht ob der erlebten Ereignisse und des Auseinanderfallens von Erfahrung und (heilsgeschichtlicher) Erwartung.

Die Tagung wurde eröffnet durch Beiträge aus dem einladenden Projekt. Rudolf Schlögl und die beiden Mitarbeiterinnen des Projektes „Zeitdiagnosen im 17. Jahrhundert. Die Medien gesellschaftlicher Selbstbeobachtung im Zeichen der Krise“ am SFB 485 „Norm und Symbol“, Eva Wiebel und Eva Schnadenberger stellten einige Ausgangsüberlegungen zum Thema vor, die sie zur Organisation dieser Tagung veranlasst hatten.1 Dabei wurde als zentrales Ziel das Interesse hervorgehoben, Krise als ein Beschreibungsinstrument des Sozialen in Abhängigkeit von den zeitgenössischen Beobachtungsverhältnissen und den vorhandenen Medien der Weltwahrnehmung zu untersuchen.

Die Tagung war in drei inhaltliche Schwerpunkte gegliedert. Unter der Rubrik „Krisen beobachten“ folgten zwei Beiträge. BENEDIKT MAUER zeigte am Beispiel der Darstellung des Augsburger Kalenderstreites in der zeitgenössischen Chronik, wie sich prozesshaft eine Wahrnehmung des Kalenderstreits als Krise herausbildete. Krise setzte er dabei gleich mit Kontingenzerfahrung, dem Verlust struktureller Sicherheit, korporativem Versagen und erfahrener Ohnmacht, die schließlich in einen Konflikt mündeten. Zugleich beschrieb er das Verfassen einer Chronik im Falle seiner Quellen als individuellen Verarbeitungsmodus, der zur Herausbildung einer „individuellen, aber nicht singulären“ Krisenwahrnehmung führte.

ANDRÉ KRISCHER argumentierte am Beispiel des englischen Rechtssystems, dass dessen Zustand im 17. Jahrhundert erst rückblickend im 18. Jahrhundert in den narrativen Kontext der Krise gestellt wurde, und dies dann in rhetorischer Form als Wahrnehmung einer bereits überwundenen Krise. Er zeigte, wie unterschiedlich sie von verschiedenen Parteien wahrgenommen worden war und dass sie außerhalb der sie beschreibenden Medien nicht greifbar gewesen sei. In der anschließenden Diskussion wurde noch stärker präzisiert, dass der Krisenbegriff hier rhetorisch im Kontext des Aufbaus neuer Verfahren und Regelmechanismen im Rechtssystem aufkam und in Absetzung zu als nicht mehr funktionierenden bzw. nicht mehr ausreichend legitimierten Verfahren eingesetzt wurde.

Der zweite inhaltliche Schwerpunkt war mit „In Krisen handeln“ überschrieben.
Noch weitaus deutlicher als die Referenten bis dahin legte THOMAS BROCKMANN die narrative Struktur der Krise von außen an die zeitgenössischen Ereignisse an. Sein Vortrag über den böhmischen Aufstand war gegliedert in Krisenbewusstsein, -deutung und -bewältigung. Ein Krisenbewusstsein sah er im „dynastischen Bedrohtheitsgefühl“ der Habsburger, der Deutung der Krise im böhmischen Aufstand als vorläufigen Endpunkt eines Niedergangs und als Ergebnis göttlicher Regie sowie der Chance auf grundlegenden Wandel der Verfassungsrevision oder auf die Rückkehr zu alten Verhältnissen. Die Praxis der Krisenbewältigung beschrieb er in der Erkenntnis liegend, dass es keine Einigung mit den Aufständischen mehr geben konnte und somit gehandelt werden musste. Militärisches Eingreifen wurde damit unumgänglich und zugleich als eine Chance gesehen, die schon länger labilen Verhältnisse zu stabilisieren. Das Handeln der Habsburger in der Krise war von Konzessionen und Flexibilität auf Landes- und Reichsebene geprägt, die auf den ersten Blick als erfolgreiches Krisenmanagement erscheinen mögen. Mit der „Krise als Trauma“ stellte Brockmann schließlich jedoch in der longue durée einen Zusammenhang zwischen dieser Erfahrung existenzieller Bedrohung und der Politik der Habsburger im 30jährigen Krieg her, mit dessen Hilfe deutlich werde, dass die akute Krise zwar als überstanden galt, aber nicht als generell überwunden. An dieser Stelle stellt sich m.E. eine Frage nach den zeitlichen Determinanten des Krisenkonzeptes, die auf der Tagung leider nur andiskutiert wurde: Kann es langfristige oder gar Dauerkrisen geben oder beschreibt das Deutungskonzept der Krise lediglich prekäre Übergangszustände?
In der Diskussion von Brockmanns Beitrag kam noch eine weitere interessante Frage auf, die sich auf die Prozesshaftigkeit von Krise bezieht, m.E. der Präzisierung des Begriffs sehr dienlich ist und auch immer wieder neu gestellt werden muss: Inwieweit bleibt die Krise im Prozess ihrer Deutung gleich oder verändert sie sich durch beständige Reformulierung in Abhängigkeit von dem Verlauf der Ereignisse?

In dem Beitrag von ANDREAS PEČAR, der Fastenpredigten zu Beginn des englischen Bürgerkrieges zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nahm, erschien der Krisenbegriff vor allem als an biblischen moralischen Beurteilungskriterien und heilsgeschichtlichen Szenarien orientierter Ablaufplan: Sprachlosigkeit, offene Entscheidungssituation, Handeln, Aufbrechen eines offenen Konfliktes, verbunden mit der Gewissheit, dass ein Ende bevorsteht. Pečar plädierte noch einmal ausdrücklich für die Untersuchung von Krisen im Sinne kritischer Zustände ohne expliziten zeitgenössischen Krisenbegriff. Er formulierte als typische Kriterien einer Krisensituation eine offene Handlungssituation, Entscheidungszwang und Zukunftsperspektive und betonte dabei, dass es nicht nur um die Deutung von Gegenwart oder Vergangenheit ginge, sondern auch um die Verhandlung von Fragen gesellschaftlicher Zukunft. Neben der Produktion von Zukunftswissen sei mit der Krisenerzählung auch die Reduktion von Kontingenzerfahrung sowie die Reduzierung politischer Spielräume verbunden: Mit der Erwartung von Gottes Strafe werde die Offenheit des Kommenden in einer Entweder-Oder-Entscheidungssituation gerahmt und damit zwischen Heil und Verdammnis ein politischer Handlungsrahmen diktiert, der allerdings auch keine Möglichkeit zu Kompromiss und Ausgleich mehr lasse. An diesen Beitrag schloss sich eine lebhafte Diskussion um offenere Darstellungen und eine alternative politische Rhetorik zur gleichen Zeit und um Fragen der spezifischen Gattung der Fastenpredigt an, die eine Verknüpfung mit biblischen Untergangsszenarien, binärem Denken und appellativer Sprechweise nahe lege. Zudem wurde gegen die Komplexitätsreduzierung das Argument eingebracht, dass gerade in England unter dem Verdikt der Laientheologie viele verschiedene Varianten der Auslegung dieser Predigten durch Laien möglich gewesen seien, die die Komplexität und Variabilität in den Wahrnehmungen der Krise eher erhöht haben dürften.

Im folgenden Vortrag diskutierte PHILIP R. HOFFMANN Niedergang als ein zentrales Konzept zeitgenössischer Selbstbeobachtung vor allem in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts am Beispiel von Akten der Lübecker Wirtschaftspolicey. Er wies darauf hin, dass erst in den 1970er Jahren der Begriff der Krise in der Historiografie frühneuzeitlicher Städte auftauche und argumentierte für eine klare Unterscheidung von Krise und Niedergang, die er vor allem mit Unterschieden in der Zeitstruktur beider Konzepte begründete. Krise impliziere einen begrenzten Horizont, eine Ausnahmezeit, eine beschleunigte Zeitstruktur, einen Bruch und eine Situation, in der Erwartungen nur noch eine begrenzte Gültigkeit besitzen. Niedergang hingegen habe einen kontinuierlichen Charakter, begründe sich auf einem linearen Zeitverständnis, denn er vollziehe sich allmählich und sukzessive und lasse Zeit für Entscheidungen. Dies wiederum sei aber mit dem Problem verbunden, dass Niedergänge aufgrund ihres langfristigen Zeithorizontes für Zeitgenossen schwieriger zu erkennen und politisch zu managen seien. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung von Krise und Niedergang lasse sich eine Verknüpfung von beidem denken, in der Niedergang als Abfolge verschiedener Krisen verstanden wird, die allmählich Kräfte und Ressourcen erschöpfe.
Die Diskussion brachte die Frage nach der rhetorischen Dimension von Untergangsszenarien als gezielter Außendarstellung und Argumentation des (städtischen) Rates auf und es wurden Zweifel geäußert, ob die Lage, die hier vor allem in Bezug auf die wirtschaftliche Situation konstatiert wurde, auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene bereits so komplex wahrgenommen worden sein konnte. Darüber hinaus wurde im Zusammenhang der zeitgenössischen Wahrnehmung, in der die kleinste Belastung zum Chaos und zum Untergang führen konnte, der Begriff der Verwundbarkeit eingebracht.
Und schließlich wurde hier noch einmal an eine Dimension der Krisen- und Niedergangswahrnehmung angeschlossen, die in den Einführungsvorträgen der OrganisatorInnen angesprochen, aber bis dahin nur am Rande wieder aufgenommen worden war, – ihre Medialität und die Abhängigkeit von entsprechend vorhandenen Wissensformaten. Während die Krisen aufgrund ihres relativ kurzfristigen Zeithorizontes in Ereignismedien darstellbar sind, braucht es für die Wahrnehmung eines längerfristigen Niedergangs Zahlenvergleichsreihen, Statistiken usw.

ANDREAS SUTER bezog sich in seinem Vortrag über eine Fallstudie zum schweizerischen Bauernkrieg 1653 auf einen Krisenbegriff von Jürgen Habermas und Anthony Giddens, in dessen Zentrum die Überlastung gesellschaftlicher Selbststeuerungskapazitäten steht. Sprach- und Handlungsroutinen führen nicht mehr zu den erwarteten Resultaten, Erwartung und Erfahrung fallen auseinander. Krisenrhetorik, so Suters Argumentation, könne nur vor dem Hintergrund der Erfahrung von Krisensituationen funktionieren. In seinem Fallbeispiel wurde die Krise personalisiert und noch nicht als komplexer Zusammenhang verschiedener Prozesse begriffen. Suter stellte in seinem Vortrag die Kommunikationsprozesse in den Vordergrund, mit deren Hilfe sich eine Verdichtung und zugleich Veröffentlichung der Ereignisse von der konspirativen Kommunikation unter den Bauern zu einer zumindest soweit öffentlichen vollzog, dass sie von den Obrigkeiten benutzt und unterlaufen werden konnte.
In der Diskussion wurde vor allem die Rolle der Geschichte von Wilhelm Tell und damit der aufkommenden fiktionalen Literatur aufgegriffen und diskutiert, inwieweit sie möglicherweise Handlungs- oder Deutungsschablonen geliefert haben könnte.

Der dritte und umfangreichste inhaltliche Schwerpunkt der Tagung war überschrieben mit „Geschichte als Krise?“ Im ersten Vortrag ging HANS MEDICK anhand von Selbstzeugnissen aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Art und Weise nach, wie der 30jährige Krieg im Vergleich zu anderen Ereignissen als singulär und als Katastrophe wahrgenommen und später erinnert wurde. Er konnte zeigen, dass, sicherlich unterstützt durch die Deutung der Kometenerscheinungen als prophetische Erscheinung, die sich vor allem in den Selbstzeugnissen der akademischen Oberschicht finden ließen, bereits in der zeitgenössischen Wahrnehmung die verschiedenen Geschehnisse in einem Zusammenhang gesehen wurden. Der Krieg wurde bereits als „Großer Krieg“ benannt - als etwas, das an Grausamkeit und Leiden die Vorstellung „normaler Kriege“ übertraf. Dieser Erfahrungsbruch wurde damals in eine Linie mit den Peloponnesischen Kriegen als das historisch einzig Vergleichbare gestellt. In der Nachkriegserinnerung wurde er dann schließlich in seiner Einzigartigkeit auf Dauer gestellt, die erst durch die Erfahrungen der I.Weltkrieges wieder relativiert wurde. In der anschließenden Debatte kristallisierte sich noch einmal die soziale Schichtspezifik der retrospektiven Deutungen prägnanter heraus. Während offensichtlich eine akademische Oberschicht für Rituale sorgte, die die Erinnerung an eine überstandene Katastrophe in das kollektive Gedächtnis einschrieb, gäbe es ebenso Hinweise darauf, dass andere Teile der Bevölkerung mehr Skepsis und Zweifel über ein Ende des Krieges hegten. Auch im klerikalen Umfeld, so wurde angemerkt, lasse sich z.B. an Bußpredigten ersehen, dass der Krieg im Nachhinein als nicht wahrgenommene Chance zur Umkehr gedeutet wurde und somit die Nachkriegszeit als noch unmoralischer als das biblische Zeitalter oder die Zeit vor dem Krieg galt.

In den folgenden beiden Vorträgen zeigten Literaturwissenschaftler an Beispielen der zeitgenössischen Literatur auf, inwieweit dort krisenartige Wahrnehmungen im Kontext von ersten modernen Subjektkonstitutionen verhandelt wurden. Das erste Beispiel - PETER HESS sprach über Grimmelshausens Simplicissimus – verwies auf eine Krise sowohl der vertrauten Narrationen als auch auf die Krise des Individuums als ein Thema in der Geschichte des Simplicissimus, an deren Ende jedoch noch ein Scheitern steht. Der Protagonist stellt aufgrund seiner mangelnden Selbsterkenntnis eine Bedrohung für die herrschende Ordnung dar, die der Erzähler disziplinieren muss, indem er ihm mit einer zweiten Erzählfigur die Selbstkontrolle entzieht und den ethischen Erzählmodus wiederherstellt. Das Erzählmuster ist insgesamt weniger disparat als die darin beschriebene Persönlichkeitsentwicklung. Hess argumentierte hier, dass es trotz der episodenhaften Form durchaus schon einen narrativen Spannungsbogen gäbe, in dem diese Episoden zusammengebunden werden. Die Diskussion hielt sich vor allem an der Gattungsfrage fest und es wurde schließlich konstatiert, dass im Simplicissimus das Genre des Schelmenromans mit dem der religiösen Bekehrungsgeschichte zusammentrifft.

DIRK NIEFANGER stellte Paratexte von Geschichtsdramen vor, die als zeitgenössische Rezeptionsanleitungen dieser Dramen gelesen werden könnten und betonte im Gegensatz zu den bis dahin gebräuchlichen Fürstenspiegeln vor allem deren anthropologische Ausrichtung. Das Drama sollte Parallelen zur eigenen Situation des Individuums aufzeigen, beides affektiv miteinander verknüpfen und so am Ende Lernsituationen erzeugen. Im Theater sollte das Individuum stellvertretend Krisen durchleben und gestärkt werden für die des Alltags. Niefanger sah im Geschichtsdrama des 17. Jahrhundert deshalb einen Ort, an dem Historiografie und Literatur zusammentreffen. In der Diskussion machte er dann noch einmal deutlich, dass die „säkulare Anthropologie“ (Medick) in den Paratexten nicht zwangsläufig auch für die Dramen selbst festzustellen sei.
Auch an dieser Stelle kam wieder die Frage nach der Gattungsspezifik auf, so dass der Referent am Schluss noch einmal deutlich die Ähnlichkeiten zwischen Tragödie und Krisenverlauf im dramaturgischen Ablauf hervorhob: Aufstauung der Angst/ Spannung, die daraus entsteht/ Katharsis – Auflösung.

Der Beitrag von KONRAD PETROVSZKY führte an die räumlichen Grenzen der westlichen Hemisphäre in das Fürstentum Moldau, das heute einen Teil des rumänischen Nationalstaates ausmacht. Die Zeit zwischen 1500 und 1700 war dort die Hochphase des osmanischen Reiches. Petrovszky argumentierte, dass für den christlichen Kontext im osmanischen Reich, zu dem Moldau gezählt werden kann, das 17. Jahrhundert eine Übergangsphase darstellte von biblischen Heilsbeschreibungen zu säkularer, partikularnationaler Geschichtsschreibung, in der auch die ersten rumänischsprachigen Chroniken auftauchen, die ihm als Quelle dienten. Die rumänische Sprache verfügte zu jener Zeit jedoch ebenfalls noch nicht über ein Konzept der Krise. Somit legte auch dieses Referat den Krisenbegriff analytisch von außen an. Eigentlich müsse für diese Region von einer Dauerkrise gesprochen werden – verursacht durch die ständigen polnisch-osmanisch-österreichischen Kriegsauseinandersetzungen, den Sprachwechsel, die massive Landflucht – und dies alles festgehalten in den in der Regel sehr drastischen Bildern einer noch kirchlich orthodoxen Rhetorik. Doch der Referent argumentierte, dass ab 1620 im Kontext einer Krise der Oberschicht, die sich durch zuwandernde Griechen herausgefordert sah, eine besondere Krisenwahrnehmung einsetzte, und er betonte, dass diese mit einer Neujustierung der zeitlichen Horizonte einherging: Zeit tauchte als Begriff häufiger auf, es sei eine Dramatisierung des Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse zu beobachten, in der Gewohnheitsrecht und Nation als erschüttert dargestellt und mit der Herkunft verknüpft wurden – ein Kontext, in dem nun die Rumänen mit lateinischen Wurzeln ausgestattet wurden. In der Diskussion kam immer wieder die Frage auf, wo genau hier der Krisenbegriff ansetzen kann und wie, zuvor schon angesprochen, die Frage nach der Gattungsspezifik und der Rolle der Autoren bei der Beschreibung der Krise zu definieren wäre. Dabei kristallisierte sich ein deutlicher Unterschied zur Herausbildung von ersten modernen Subjektpositionen heraus – die Autoren in Petrovszkys Quellen blieben noch stark in die byzantinischen Gattungskonventionen eingebunden und nach Auskunft des Referenten sind für diesen Zeitraum auch kaum Ego-Dokumente vorhanden.

Besonders wichtig für die analytische Schärfung des Krisenbegriffes waren noch einmal die letzten beiden Vorträge von JAN MARCO SAWILLA und GÜNTHER LOTTES, der zwar kurzfristig verhindert war, der aber den TagungsteilnehmerInnen freundlicherweise sein Manuskript zur Verfügung stellte. Sawillas Beitrag setzte sich kritisch mit der von Historikern konstatierten „Krise der Historiografie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts“ auseinander. Sein Plädoyer lässt sich provozierend zusammenfassen in der Aussage, dass das Ablaufschema der Krise ein zu vereinfachendes, auf eine Ursache-Wirkung-Beziehung zulaufendes Prinzip ist, um die komplexen Probleme und Veränderungen der Historiographie des 17. Jahrhunderts zu fassen. Sein Resümee: „Die Krisendiagnose hat nicht wirklich zur Klärung beigetragen.“ In der darauf folgenden Diskussion wurde der Wandel der Medien im 17. Jahrhundert noch einmal hervorgehoben und damit die Veränderung der Wissensordnungen. Außerdem wurde noch einmal auf die Funktion der Krise als rhetorisches Mittel hingewiesen, das zeitlich oft aus einem „Danach“ eingesetzt wird, um das „Davor“ klarer abzusetzen. Mit diesem Vortrag, der, ähnlich wie auch das Papier von Lottes, eine kritische Position gegenüber dem Krisenbegriff als Instrumentarium einnahm, offenbarte sich noch einmal das gesamte Dilemma des Begriffs selbst. Wenn das Krisenablaufmodell eines ist, das eher zu Vereinfachungen führt – wie kann es dann Gewinn bringend als analytisches Instrument eingesetzt werden? Besteht hier nicht ein grundsätzlicher Widerspruch?

Der Begriff der Krise impliziert viele verschiedene und zum Teil auch widerstrebende Bedeutungen, die in ihrer Heterogenität von den Referenten insgesamt unterschiedlich betont wurden. Dabei wurde jedoch ein ganz prinzipielles Problem des Begriffs für die wissenschaftliche Analyse deutlich. Die von Eva Wiebel im Eingang der Tagung betonte synthetisierende Kraft des Begriffes ermöglicht einerseits eine periodenübergreifende Kommunikation von HistorikerInnen, ja sogar eine interdisziplinäre. Zugleich macht er nur dann Sinn, wenn er ausreichend kontextualisiert wird. Anderenfalls trägt er in seiner vielfältigen Verwendbarkeit auch ein kommunikatives Risiko: das des Missverständnisses und der „Verwässerung“. Wenn alle KommunikationsteilnehmerInnen davon überzeugt sind, zu wissen, wovon die Rede ist, wenn von Krise gesprochen wird, verleitet dies auch schnell dazu, am Einzelfall weniger zu konkretisieren. Dass unter den TeilnehmerInnen der Tagung ein deutliches Bewusstsein dafür vorhanden war, zeigte in der Diskussion das beständige Auftauchen der Frage, ob man im gegebenen Falle wirklich von einer Krise sprechen könne, da doch diese oder jene Bedingung nicht erfüllt sei. Zugleich kann dies aber auch als Zeichen für eine Art Kanonisierungsbestreben gelesen werden, mit dem der Begriff in seiner Vielfalt gebändigt und damit als analytisches Instrument geschärft werden sollte. Als Schlüsselelemente eines solchen Kanons für den Krisenbegriff, der sich während der Tagung herausschälte, können gelten: eine vorgängige Normalität, die in Frage steht; das Auseinanderstreben von Erfahrung und Erwartung; Kontingenzerfahrung; Zusammenbinden von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen narrativen Zusammenhang; Entscheidungssituation und Reduktion von Entscheidungslasten; Verbindung mit Niedergangsgeschichten; Ohnmacht/Handlungsunfähigkeit gegenüber einem komplexer werdendem Umfeld – Produktion von Übersichtlichkeit.

Die immer wieder gestellte Frage, ob man denn in diesem oder jenem Fall wirklich von Krise sprechen könne, kann sowohl als Aushandlung der Grenzen dieses Kanons verstanden werden als auch als Irritation darüber, dass die Beobachterposition bei der Verwendung des Begriffes in den einzelnen Beiträgen häufig zu implizit geblieben war. Bis auf die Einführungsvorträge und die beiden letzten Referate bezogen sich die Teilnehmer der Tagung alle mehr oder weniger ausdrücklich auf die Krise als ein analytisches Instrumentarium, das von außen angelegt worden war, oder wenn man es in Luhmannscher Terminologie ausdrücken möchte, als Beobachter zweiter Ordnung. Gleichzeitig wurde einhellig für das 17. Jahrhundert konstatiert, dass Krise als Konzept der Selbstbeobachtung noch nicht zur Verfügung stand, sich aber in einem semantischen Feld Termini verdichteten, die später in den Begriff der Krise eingegangen sind. Hier besteht meines Erachtens noch theoretischer Klärungsbedarf.

Welche Antworten aber konnte ich nun im Bezug auf meine Eingangsfragen und für den Gebrauch des Krisenbegriffs in der Gegenwart finden, die mich eigentlich auf diese Tagung geführt hatten? Oder anders gefragt, welchen Gewinn kann diese Debatte unter HistorikerInnen und historisch arbeitenden Literaturwissenschaftlern über deren disziplinäre Kontexte hinaus bringen? Zwei zentrale Erkenntnisse konnte ich von dieser Tagung mitnehmen: Erstens offenbarte sich mir eine sehr weite Palette der Deutungskontexte, die als kulturelles Repertoire gegenwärtig noch immer mit dem Krisenbegriff verbunden sind und für eine Gegenwartsanalyse ein reiches Interpretationswissen zur Verfügung stellen. Zum zweiten wurde sehr deutlich, dass Krise als ein Beobachtungsinstrument des Sozialen anzusehen ist, das modernen Gesellschaften als konstitutiv zugeschrieben werden muss und sich, mit Vorläufern im 17. Jahrhundert, erst unter den Bedingungen von modernen Wissensmodellen (z.B. das der Entwicklung), der Zugänglichkeit bestimmter Wissensformen (Langzeituntersuchungen, Tabellen etc.), medialer Erfahrung (Druck und Verbreitung vervielfältigter Schriften) und Wissenspraxen und -verfahren (Vergleich) verstetigen konnte, so dass es heute als Beobachtungsinstrument sowohl erster als auch zweiter Ordnung zur Verfügung steht. Gerade deshalb müssen aber beide in der Verwendung auch sorgfältig auseinander gehalten werden. Wie das genau theoretisch möglich ist, das wird zukünftig in weiterer interdisziplinärer Auseinandersetzung noch zu klären sein. Ein produktiver Anfang jedoch ist mit dieser Tagung gemacht, auf der in einer sehr angenehmen Atmosphäre (leider allerdings von fast ausschließlich männlichen Kollegen) sehr anregend und kritisch diskutiert wurde. Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass die OrganisatorInnen auch weiterhin den interdisziplinären Austausch suchen und sich möglicherweise in Zukunft auch noch einige kompetente weibliche Diskussionspartner angesprochen fühlen, sich daran zu beteiligen.

Anmerkung:
1 Zum Projekt: <http://www.uni-konstanz.de/FuF/sfb485/Arbeitsbereiche/A.htm> (12.10.2007)


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