Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Bildungsarbeit am Übergang der Zeitgeschichte zur Geschichte

Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Bildungsarbeit am Übergang der Zeitgeschichte zur Geschichte

Organisatoren
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“; Stiftung Topographie des Terrors
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.08.2007 - 01.09.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Ulrike Petzold, Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft"

Mit dem Überfall Polens durch Hitlerdeutschland am 1. September 1939 begann die millionenfache Verschleppung von Polen, Ukrainern, Russen und vielen anderen Bürgern europäischer Länder nach Deutschland und ihre nachfolgende Ausbeutung durch Zwangsarbeit. Erst die internationale Debatte um die Entschädigung der Zwangsarbeiter in den 1990er-Jahren brachte diese lange vergessene Seite des NS-Unrechts wieder stärker in die öffentliche Aufmerksamkeit. Zahlreiche regionale Initiativen haben diesen Prozess in Deutschland von Anfang an begleitet und die Geschichte der NS-Zwangsarbeit vor Ort aufgearbeitet. Heute stehen wir mehr denn je vor der gesellschaftlichen Aufgabe, die Erinnerung auch an dieses NS-Unrecht zu bewahren. Denn die Bildungsarbeit konnte sich bisher auf die Erzählungen der überlebenden Opfer stützen. Besonders in persönlichen Begegnungen mit diesen Zeitzeugen war es Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland möglich, die Dimension nationalsozialistischen Unrechts zu begreifen und Empathie zu entwickeln. In Zukunft werden jedoch immer weniger Überlebende noch persönlich Zeugnis über ihr Schicksal ablegen können. Pädagogen, Bildungseinrichtungen und Gedenkstätten stehen vor der Herausforderung, das Vermächtnis der Zeitzeugen aufzunehmen und deren Erinnerungen weiterzugeben.

Dieser Herausforderung stellten sich Akteure der historischen Bildung auf einer Tagung, die durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ und die Stiftung Topographie des Terrors vom 30. August bis 1. September 2007 in Berlin durchgeführt wurde. Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ hat die Erinnerung an NS-Zwangsarbeit seit 2002 vielfach gefördert und u. a. mehr als 2.500 grenzüberschreitende Begegnungen mit ehemaligen Zwangsarbeitern und anderen Opfern des Nationalsozialismus ermöglicht. Die Tagung bot den Akteuren dieser Begegnungsarbeit eine Plattform, ihre Projekte vorzustellen und mit Wissenschaftlern, Experten und Zeitzeugen ins Gespräch zu kommen. In insgesamt neun Workshops wurden bewährte Methoden bei der Durchführung einer Zeitzeugenbegegnung, zum Einsatz lebensgeschichtlicher Zeitzeugeninterviews, zu regionalen und lokalen Gedenkinitiativen oder etwa in der Projektarbeit mit Neuen Medien diskutiert. In Verbindung mit der Frage nach guten Methoden geschichtlichen Lernens loteten die Teilnehmer aber auch die Chancen zukünftiger Projekte ohne Zeitzeugen aus: Wie kann man mit individuellen Zeugnissen Überlebender, wie etwa Tagebüchern, Zeichnungen und Familienfotos, arbeiten? Wie können Jugendliche in einer Einwanderungsgesellschaft für die Geschichte des Nationalsozialismus interessiert werden?

Die eindrucksvollen Projektberichte zeigten, dass erfolgreiches historisches Lernen nicht automatisch etwa durch die Errichtung von Mahnmalen erfolgt. Mahnmale und Gedenkorte, so auch LUTZ NIETHAMMER von der Schiller-Universität Jena, rufen zur Erinnerung auf und vermitteln eine künstlerische Botschaft. Die Bildungsarbeit jedoch muss noch geleistet werden durch die Entwicklung und Erprobung guter pädagogischer Methoden. So etwa zeigte VOLKER AHMELS, Jeunesses Musicales Mecklenburg-Vorpommern e.V., wie sich Schweriner Musikschüler und Musikstudenten mit der Musik NS-Verfolgter Komponisten beschäftigen, die Noten in vergessenen Nachlässen recherchieren und aufführen. Alte Aufnahmen auf Schellackplatten, die seit Jahrzehnten auf den Dachböden der Angehörigen liegen, waren der Ausgangspunkt für die Schüler, sich mit dem Leben jüdischer Künstler und ihrer Musik zu beschäftigen. Die Jugendlichen recherchierten anhand von Familiendokumenten wie Fotos und Tagebüchern, sie befragten aber auch noch lebende Künstler oder deren Nachkommen. Durch die Arbeit mit künstlerischen Zeugnissen wurde historisches Lernen emotionalisiert und zu einer subjektiven, persönlichen Erfahrung für jeden beteiligten Jugendlichen. Darüber hinaus konnten sich die Jugendlichen mit der Rezeptionsgeschichte eines Kunstwerks und damit den Mechanismen gesellschaftlicher Erinnerung auseinander setzen. Gerade diese komplexen Möglichkeiten von Kunst würden, so DAGI KNELLESSEN vom Berliner Arbeitskreis Konfrontationen, in der Bildungsarbeit noch zu wenig genutzt.

Auch die Arbeit mit autobiografischen Dokumenten wie Tagebüchern, Briefen oder Fotos ermöglicht Jugendlichen, sich mit eigenen Eindrücken, Fragen und Reflexionen einzubringen. Projekte, so LOTHAR DITTMER von der Körber-Stiftung Hamburg, dürften ihre Adressaten nicht mit Informationen und Botschaften zudecken, sondern sollten Reaktionen und Bearbeitungen zulassen. Sein Plädoyer für eine dialogische Projektarbeit mit Schülern bestätigten die Lehrer ANDREA BUSSE und BODO FÖRSTER von der Sophie-Scholl-Oberschule Berlin. Die Jugendlichen der von den Lehrern betreuten AG Geschichte/Kunst wollten sich ausdrücken und gestaltend tätig sein. Als die Schule ihre Geschichte als ehemaliges Zwangsarbeiterlager aufarbeitete, hat diese AG ein Konzept für die künstlerische Nutzung des Hochbunkers auf dem Gelände der Schule entworfen, der von Zwangsarbeitern errichtet wurde und Teil des authentischen Ortes ist. Die Schüler erstellten in diesem Bunker künstlerische Ausstellungen. In der kreativen Auseinandersetzung mit diesem Teil der Schulgeschichte schufen sie Installationen, Texte und Klangcollagen, mit denen sie ihr subjektives Verständnis des Themas präsentieren konnten. Voraussetzung für diese aktive, eigenständige Arbeit Jugendlicher ist jedoch die Schaffung von Rahmenbedingungen durch die betreuenden Pädagogen: Projekte müssen fächerübergreifend gestaltet sein, um überhaupt neue, alternative Zugänge schaffen zu können. Die Adressaten müssen auf die Projektarbeit vorbereitet werden – durch die Vermittlung von Hintergrundwissen zur Ereignisgeschichte, durch das Einbringen methodischer Arbeitsweisen, etwa bei der Interpretation von historischen Fotoaufnahmen.

Der Erziehungswissenschaftler BODO VON BORRIES, Universität Hamburg, betonte in seinem Vortrag die Notwendigkeit, historisches Lernen über die Verbrechen des Nationalsozialismus mit einer positiv konotierten Menschenrechtserziehung zu verbinden. Jugendliche reagierten auf dieses Thema vorwiegend mit Schuld-und Schamgefühlen. Ziel pädagogischer Arbeit müsse daher sein, den Jugendlichen eine positive Selbstidentifikation für ihre gegenwärtigen Lebenszusammenhänge zu vermitteln. Auch das Expertenpodium zu den zukünftigen Anforderungen an Bildungsarbeit berührte diese Problematik des Gegenwartsbezugs historischen Lernens. ELKE GRYGLEWSKI vom Haus der Wannsee-Konferenz Berlin, bezweifelte jedoch, ob Projekte zur NS-Geschichte Menschenrechtserziehung leisten könnten. Bildungsarbeit an historischen Orten und Gedenkstätten könne zunächst einmal nur Wissen vermitteln. Die Adressaten solcher Bildungsarbeit könnten für gegenwärtiges Unrecht höchstens sensibilisiert werden. Bildungsziel sei jedoch nicht, Moralurteile zu präjudizieren und Handlungsanweisungen für die Gegenwart zu produzieren. Die Frage, ob und wie Brücken in die heutigen Lebenswelten Jugendlicher geschlagen werden können, beantworteten einige Projektinitiatoren. Sie präsentierten Projekte, die an authentischen Orten stattfanden, in denen Schüler auf lokale Spurensuche gingen, einen Gedenkort initiierten und gestalteten oder gleichaltrigen Nachkommen von Zeitzeugen begegneten. In den Projekten der Marburger Geschichtswerkstatt e.V. zum Beispiel recherchierten Jugendliche die Geschichte der Zwangsarbeit ihrer Heimatstadt. Sie erstellten Interviews mit noch lebenden Zwangsarbeitern, die in Marburg eingesetzt waren, besichtigten deren ehemalige Arbeits-und Wohnstätten und erstellten aus ihren Rechercheergebnissen einen Stadtrundgang zum Thema.

Einer besonderen Herausforderung stellen sich Lehrer und außerschulische Pädagogen heute in der Arbeit mit Jugendlichen, die aus Einwandererfamilien stammen. So wies Bodo von Borries darauf hin, dass in Einwandererfamilien andere, abweichende Geschichtskulturen ohne Bezug zur NS-Geschichte bestimmend sind, die von der Mehrheitskultur in Deutschland nicht oder nur wenig wahrgenommen werden. Der Berliner Verein Miphgasch/Begegnungen e.V. konnte hier aus seinen Begegnungsprojekten zwischen Holocaust-Opfern und Migrantenjugendlichen berichten. FRANZISKA EHRICHT, die Projektleiterin, wies darauf hin, dass manche Teilnehmer persönliche oder familiäre Erfahrungen von Flucht und Bürgerkrieg gemacht hätten, die denen der Zeitzeugen ähnelten. Bei den Themen Jüdische Geschichte und Antisemitismus stellten Jugendliche z.B. libanesischer Herkunft den Gegenwartsbezug selbst her und sprachen den Nahostkonflikt an. In solchen Projekten gelte es, für diese Bedürfnisse der Jugendlichen offen zu sein und zusätzliche Projekttage etwa zum Nahostkonflikt anzubieten. Das führe dann auch spürbar zu Akzeptanz und Gesprächsbereitschaft seitens der Jugendlichen, für die eine solche Wertschätzung ihrer eigenen Erfahrungen offenbar nicht selbstverständlich sei. Die Diskussion, wie die Vielfalt der Erinnerungskulturen und der familiären Erzählungen in Deutschland in die Bildungsarbeit integriert werden könne, muss weiter geführt werden. So bleibt es eine Herausforderung, Jugendliche als Adressaten der Bildungsarbeit insgesamt stärker in den Entwicklungsprozess einzubeziehen.

Die Tagung bot den eingeladenen Akteuren die Möglichkeit, mit anderen Geschichtsinitiativen sowie mit den veranstaltenden Stiftungen in einen fachlichen Dialog zu treten, die Arbeit der anderen kennen zu lernen, sich auszutauschen und zu vernetzen. Die Stiftungen hatten Gelegenheit, ihre Arbeit vorzustellen. So lud das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide die Teilnehmer zu einer Exkursion und Besichtigung des dortigen ehemaligen Zwangsarbeiterlagers ein. Diese Bildungseinrichtung entstand durch eine bürgerschaftliche Initiative und ist heute Teil der Stiftung Topographie des Terrors. Die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ konnte die Ergebnisse ihres Zeitzeugeninterview-Programms präsentieren. ALEXANDER VON PLATO von der Fernuniversität Hagen (Kooperationspartner) berichtete, dass in Befragungen ehemaliger NS-Zwangs¬und Sklavenarbeiter aus 27 Ländern ca. 600 lebensgeschichtliche Interviews erstellt werden konnten. Eine wissenschaftliche Untersuchung dieses Materials ließe neuere Erkenntnisse über viele Aspekte des nationalsozialistischen Alltags zu, u. a. über das Ausmaß an Brutalität, mit dem etwa Mitglieder der HJ Zwangsarbeiter behandelt haben. Der Interviewbestand soll erschlossen werden und ab 2008 für wissenschaftliche und pädagogische Zwecke zur Verfügung stehen.

Historisches Lernen kommt, wie FALK PINGEL vom Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung Braunschweig abschließend resümierte, oft ohne die Erzählungen der Zeitzeugen aus. Wenn jedoch Projekte heute die Perspektive der Überlebenden einbeziehen, dann können Jugendliche erst nachvollziehen, welche Auswirkungen und Dimensionen etwa die nationalsozialistischen Judengesetze auf das Leben des Einzelnen hatten. In den während der Tagung präsentierten Projekten stand die Begegnung mit den Zeitzeugen noch im Mittelpunkt, oft ermöglichten Zeitzeugen erst die Projektarbeit durch ihre persönlichen Dokumente. Voraussetzung für erfolgreiches historisches Lernen sind jedoch, so Falk Pingel, die Professionalisierung der Bildungsarbeit, des weiteren aber auch die Gewinnung neuer methodischer Formate besonders in der Arbeit mit den Zeitzeugnissen. Pädagogen werden zukünftig verstärkt Antworten auf die Frage finden müssen, wie verstehendes historisches Lernen zum Nationalsozialismus möglich ist auch ohne die mündliche Überlieferung der Zeitzeugen. Der Auschwitz-Überlebende TADEUSZ SOBOLEWICZ aus Polen bekräftigte dieses Anliegen. Er übergab den Anwesenden symbolisch die Aufgabe, die bisher von den Überlebenden mitgetragen wurden – die Bewahrung der Erinnerung an die Opfererzählungen und die Weitergabe des Vermächtnisses der Opfer an die junge Generation. Voraussetzung für diese Vermittlungsarbeit ist jedoch die Sammlung und Erschließung der Zeitzeugeninterviews und aller sonstigen individuellen Dokumente, die uns die Zeitzeugen hinterlassen haben. So schlug der Historiker Lutz Niethammer vor, ein international angelegtes elektronisches Erschließungssystem zu Ego-Dokumenten über NS-Zwangsarbeit zu schaffen, das in mehreren Sprachen zugänglich ist.

Die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" wird die Tagung auswerten und prüfen, inwieweit die Arbeitsergebnisse in die weitere Fördertätigkeit einfließen können. Begegnungsprojekte mit Zeitzeugen werden auch in Zukunft gefördert werden. Vorstellbar ist es, den mit dieser Tagung begonnenen Austausch und die Vernetzung zwischen den Akteuren zukünftig weiter durch Workshops, Gesprächsforen oder andere Formate zu unterstützen. Der Impuls aus den Projekten, mit den Zeugnissen der Überlebenden zu arbeiten und hierbei dialogische Formen der Aneignung und Vermittlung durch Jugendliche zu initiieren, wird von der Stiftung aufgenommen und soll künftig bei der Förderung berücksichtigt werden.


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