Juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Strafprozessakten als historische Quelle

Juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Strafprozessakten als historische Quelle

Organisatoren
Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Augsburg; Andreas Wirsching; Jürgen Finger; Sven Keller
Ort
Augsburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.07.2007 - 04.07.2007
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Von
German Penzholz, Augsburg

Die Befürchtung, dass nach dem Zusammenbruch der DDR und der Überwindung der europäischen Teilung die Forschung zum Nationalsozialismus ihre Bedeutung verlieren könnte, hat sich, wie Andreas WIRSCHING in seinen Begrüßungsworten darlegte, nicht bewahrheitet – nicht zuletzt dank einer großen Menge neu zugänglicher und erstmals genutzter Quellenbestände. Zu letzteren zählen auch die Akten der Justiz, die das Ergebnis jahrzehntelanger Ermittlungsarbeit und Strafverfolgung in Sachen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen sind und die seit geraumer Zeit verstärkt das Interesse der historischen Forschung finden. Die Fragen, die an dieses Aktenmaterial gestellt werden, befassen sich dabei zum einen mit Aspekten der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, zum anderen mit dem die justizielle Tätigkeit auslösenden Grundereignis, mithin mit dem Verbrechen selbst. Letztere Perspektive und die damit verbundenen methodischen Chancen und Probleme standen im Mittelpunkt der Tagung, in deren Verlauf schnell deutlich wurde, dass die Beschäftigung mit Ermittlungs- und Verfahrensakten hohe Ansprüche an den Forscher hinsichtlich Quellenrezeption und -kritik stellt: Berücksichtigung finden müssen unter anderem das institutionelle Gefüge und die Rahmenbedingungen der Justizarbeit, die spezifische Sprache der Dokumente, die Denkmuster und Interessen der Akteure – auf Seiten der Ermittlungsbehörden ebenso wie auf Seiten der Angeklagten und Zeugen.

Mit dem institutionellen Gefüge der Justiz beschäftigten sich die beiden einführenden Referate der ersten Sektion unter der Leitung von Andreas WIRSCHING. Edith RAIM (München) und Annette WEINKE (Berlin) behandelten die Genese und institutionelle Ausformung der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen auf dem Gebiet der westdeutschen Länder in der Besatzungszeit bzw. in der SBZ und DDR.

Edith Raim zeichnete in ihrem Referat das Bild einer im Aufbau befindlichen Justiz, die mit Raum- und Personalmangel bei gleichzeitiger Arbeitsüberlastung zu kämpfen hatte. Der Justizapparat stand unter alliierter Kuratel, wobei sich Personal-, Kontroll- und allgemeine Justizpolitik zwischen den Besatzungszonen ebenso stark unterschieden wie Praxis und Ausmaße direkter Eingriffe ins Prozessgeschehen. Auch die Rechtsgrundlagen der Strafverfolgung wurden unterschiedlich gehandhabt, eine Vereinheitlichung brachte erst die Rechtsprechung des BGH seit 1950. Erschwerend hinzu kam die Überforderung und teils mangelnde Qualifikation der Polizei, fehlende Kommunikations- und Transportmittel und die kriegsbedingte Abwesenheit der Verdächtigen, die entweder interniert, gefangen oder untergetaucht waren. Vor diesem Hintergrund plädiert Raim für eine zumindest teilweise Revision des tradierten Urteils über die westdeutsche Justiz: Gerade in den ersten Nachkriegsjahren habe diese nicht dem Bild der „laschen“ und nachsichtigen Justiz entsprochen: Zu keinem späteren Zeitpunkt habe es so viele Ermittlungsverfahren und Prozesse gegeben, die durch Anzeigen aus der Bevölkerung angestoßen worden seien und vor allem regional zum Teil auf großes öffentliches Interesse trafen. Dieser Anstoß zu einer Neubewertung der justitiellen Tätigkeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde in der Diskussion mehrfach aufgegriffen und vor allem die Frage nach der Initiative gestellt: ging diese tatsächlich von der deutschen Justiz aus, oder war die rege Ermittlungstätigkeit eher das Ergebnis alliierten Drucks?

Auf eine ähnliche zeitliche Zäsur wies Annette WEINKE für die SBZ/DDR hin, die sowohl quantitativ als auch qualitativ die frühe Verfolgung nationalsozialistischer Straftaten von späteren Prozessen scheidet. Die Prozesse der Besatzungszeit und der Anfangsjahre der DDR, welche quantitativ mit 93% den Hauptteil ausmachten, seien noch nicht in dem Maße der propagandistischen Auswertung und ideologischen Vorgaben unterworfen gewesen, als dies ab Mitte der 1950er-Jahre der Fall gewesen sei. Nun wurden Ermittlungen und Verfahren zentral durch das Ministerium für Staatssicherheit gesteuert und politischem und ideologischem Kalkül unterworfen, das das Ziel einer Strafverfolgung von NS-Verbrechen in den Hintergrund drängte. Drei Perspektiven hätten die Historiker bei der Untersuchung der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechern in der SBZ/DDR bisher geleitet, so Weinke in einem kurzen Forschungsüberblick: eine herrschafts- und diktaturgeschichtliche, eine innerdeutsch-beziehungsgeschichtliche und eine gedächtnisgeschichtliche Dimension. Mit Blick auf Rechtsprechung und Strafverfolgung konstatierte sie, diese sei nicht statisch, sondern Veränderungen unterworfen gewesen, welche sowohl Spiegel als auch Teil des gesellschaftlich-politischen Wandels gewesen seien. Dementsprechend plädierte Weinke abschließend dafür, die Verfolgung von NS-Verbrechen als integralen Bestandteil des DDR-Geschichte aufzufassen und zu deren staatsoffiziellem Antifaschismus in – spannungsreiche – Beziehung zu setzen.

Die zweite Sektion der Tagung, moderiert von Jürgen FINGER (Augsburg), wandte sich der historischen Erschließung juristischer Archivbestände zu. Andreas EICHMÜLLER (München) stellte dabei ein Datenbankprojekt im Rahmen eines Forschungsprojekts des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin vor, welches alle Straf-, Ermittlungs- und Vorermittlungsverfahren westdeutscher Justizbehörden zu NS-Verbrechen erfasst.1 Die Datenbank soll Ende des Jahres für die fachöffentliche Nutzung im IfZ zur Verfügung stehen und umfasst rund 37.000 Verfahren mit 175.000 Beschuldigten. Neben einigen praktischen Anwendungsbeispielen erläuterte Eichmüller die Probleme der Ermittlung und Erfassung der Verfahren. Claudia Kuretsidis-Haider wies in der Diskussion auf ein vergleichbares Erfassungsprojekt bei der Zentralen Österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz hin, bei dem momentan die Verfahrensakten der Volksgerichte erfasst werden. 2

Einen wichtigen Ausgangspunkt der Münchner Datenbank bildeten die Unterlagen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, die sowohl die eigene Vorermittlungstätigkeit als auch einschlägige Aktenkopien regionaler Staatsanwaltschaften umfassen. Seit 2000 werden die Bestände von einer Außenstelle des Bundesarchivs betreut (Bestand B 162, ca. 100.000 Akteneinheiten). Deren Leiter, Andreas KUNZ, stellte im zweiten Sektionsreferat Aufbau, Entstehung und Aufgaben der Behörde und ihres Bestandes dar.3 Das durch die fortgesetzte Tätigkeit der Zentralen Stelle nach wie vor wachsende Archiv sei, so Kunz, ein wichtiger Anlaufpunkt für tiefgehende Recherchen zu NS-Verbrechen; dabei verwies er zum einen darauf, dass von der Zentralen Stelle vieles ermittelt und dokumentiert worden sei, das nicht zu einer Anklage geführt habe, und zum anderen auf die einzigartigen Findmittel in Gestalt verschiedener Karteien, die 700.000 Personen, 26.000 Orte und 4.200 Dienststellen, Ämter und Institutionen verzeichnen. Neben der praktischen Bedeutung als Parallel-, Ersatz- und Ergänzungsüberlieferung zu den Beständen der regionalen Staatsanwaltschaften betonte der Referent den Doppelcharakter seines Archivs als „Erinnerungsort“ und „Wissensspeicher“.

Inwieweit kultur- und erinnerungsgeschichtliche Fragestellungen mit Prozessakten bearbeitet werden können, wurde in der dritten Sektion unter der Leitung von Wolfgang E.J. WEBER (Augsburg) diskutiert. Stephan LEHNSTAEDT (München) wies dabei in einer Gegenüberstellung polnischer, westdeutscher und ostdeutscher Verfahrensakten auf die jeweils unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten hin, da in Verfahren im Osten hauptsächlich Opferzeugen zu Wort kamen, während in Westdeutschland seit den 1950er-Jahren eher täterzentriert ermittelt wurde. Vor allem die frühen polnischen Verfahren, hätten hohen Maßstäben hinsichtlich Ermittlungstätigkeit und Rechtsstaatlichkeit genügt. Das Erkenntnispotenzial der Justizquellen demonstrierte Lehnstaedt anhand der Geschichte der deutschen Besatzung im Osten: zu Dimensionen und Wahrnehmung der Gewalt, zur Alltags- und Erfahrungsgeschichte der Besatzer, zu Fragen der historischen Anthropologie (ihr Verhalten und Habitus, ihre Selbstwahrnehmung und -deutung), zu Diskursen und Sprachpraktiken, schließlich zu Problemen der gender history sei vor allem den Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen Informationen zu entnehmen. Auf dieser Basis ergebe sich zudem Einblick in die Handlungsmotive der Täter, insbesondere in das Zusammenspiel situativer Momente, ideologischer Überzeugungen, von Sozialisation, Habitus und Alltag. Dies gelte umso mehr, als andere Ego-Dokumente (Personalakten, Erinnerungen) nur sehr begrenzt zur Verfügung stünden.

Exemplarisch zeigte Katrin STOLL (Bielefeld) für den Bielfelder Bialystok-Prozess solche Erkenntnismöglichkeiten auf. Anhand von Tonbandmitschnitten der Vernehmungen verdeutlichte sie Strategien der Angeklagten und ihrer Verteidiger, sowie die partielle Aneignung der konstruierten Selbstbilder der Angeklagten durch das Gericht. Im Mittelpunkt stand dabei der Problemkomplex der Gehilfenrechtsprechung des BGH: Der Holocaust wurde – durchaus im Einklang mit der zeitgenössischen historischen Forschung – als arbeitsteiliger Vernichtungsprozess wahrgenommen; dies ließ wenig Raum für die adäquate Wahrnehmung und Bewertung individueller Initiative und Schuld. Ins Zentrum der Vernehmungen und der Verteidigungsstrategien der Angeklagten rückte die Frage nach Umfang und Zeitpunkt des Wissens um den mörderischen Zweck der vom Täter durchgeführten Deportationen. Die Problematik der Toposbildung durch gegenseitige Beeinflussung und Prägung von Angeklagten, Gericht und Verteidigung wurde in der folgenden Diskussion weiter hinterfragt. Andreas Kunz wies darüber hinaus darauf hin, dass auch die Aussagen der Opfer der Problematik konstruierter Erinnerung und der biographischen Sinnstiftung unterlägen.

Ausgehend vom Barbie-Prozesses in Frankreich diskutierte Claudia MOISEL (München) die Erfordernisse für einen genuin historischen Zugriff auf die Akten der Justiz, mit dem zwar Vergangenheitspolitik relativ problemlos rekonstruiert werden könne, Prozesse aber ungleich schwieriger darzustellen, zu „erzählen“ seien. Notwendig seien für den Historiker neben dem Verständnis von juristischer Sprache und Begrifflichkeiten insbesondere die Kenntnis der Prozessordnungen und der Spezifika der jeweiligen Rechtssysteme, die nicht nur die Verfahren, sondern auch die historische Erzählung strukturierten. Der Historiker müsse den juristischen Anspruch auf Objektivität hinterfragen und Vorerfahrungen der Staatsanwälte und Richter berücksichtigen, ebenso die personellen Netzwerke ehemaliger NS-Juristen. Erst eine Gesamtschau der Verfahren werde es schlussendlich ermöglichen, die Justiz als Objekt, Katalysator und Indikator eines langfristigen gesellschaftlichen Wandlungsprozesses in ihrer Bedeutung für das kollektive Gedächtnis zu erfassen.

Eine außerdeutsche – und damit weitere Vergleichsmöglichkeiten erschließende – Perspektive eröffnete die vierte Sektion der Tagung (Leitung: Thomas SCHLEMMER, München). Amedeo OSTI GUERRAZZI (Rom) stellte mit der juristischen Verfolgung von Kollaborateuren in Italien ein Thema vor, dass erst spät und in bisher geringem Umfang von der italienischen Geschichtswissenschaft bearbeitet wurde. Es sei bezeichnend, dass „linke“ Historiker in Italien sich auf die europäische Perspektive der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik konzentrierten, während ihre „rechten“ Kollegen im Bemühen um die Rechtfertigung des Faschismus die in Italien und an Italienern begangenen Verbrechen zu ignorieren suchten. So seien die von ihm verwendeten Verfahrensakten der örtlichen Spezialgerichte – obwohl bereits lange entsperrt und zugänglich – bisher nicht genutzt worden. Das Versagen bei der Verfolgung von ehemaligen Faschisten und Kollaborateuren durch die stark von lokalpolitischen Stimmungen beeinflussten Spezialgerichte, die schnelle Erledigung der Verfahren und die Reintegration der Täter sei schon zeitgenössisch verdrängt und erst in den letzten Jahren ansatzweise thematisiert worden. Ein breiter wissenschaftlicher Diskurs darüber lasse aber noch auf sich warten.

Im zweiten Vortrag der Sektion befasste sich Dieter POHL (München) mit den sowjetischen und polnischen Strafverfahren wegen NS-Verbrechen und verwies zunächst auf die noch während des Krieges durchgeführten Verfahren und Exekutionen gegen Kollaborateure und deutsche Kriegsverbrecher. Der größte Teil der Verfahren in Polen fand 1945 bis 1947 statt und war noch kaum vom kommunistischen Machtanspruch beeinflusst. Seit 1947 nahm die Zahl der Verfahren gegen Deutsche ab, später auch mit Rücksicht auf den sozialistischen „Bruderstaat“ DDR. Ab 1951 warb man zudem, ähnlich wie in Italien und der DDR, um die „kleineren“ Kollaborateure und bemühte sich um deren gesellschaftliche Integration. Der Vergleich zu den sowjetischen Verfahren, so Pohl, gestalte sich schwierig: Hier überwogen von Beginn an summarische Generalanklagen mit stark regionalen Bezugspunkten. Auch die Qualität der sowjetischen, durch den NKWD geleiteten Verfahren unterschied sich signifikant von den polnischen, in denen anfangs noch zivile Richter aus der Zwischenkriegszeit den Vorsitz führten. Die Erkenntnismöglichkeiten seien aber trotz mangelnder Rechtsstaatlichkeit und Rechtsförmigkeit auch bei den sowjetischen Verfahrensakten relativ hoch, da anhand dieser Akten vor allem in der Mikroperspektive tiefe Einblicke in die lokale Gewalt unter deutscher Besatzung gewonnen werden könne – zumal oft anderes Quellenmaterial zum Alltag der Besatzung fehle. Für die Rekonstruktion von Abläufen und Tathergängen seien solche Akten unentbehrlich – auch wenn individuelle Verantwortung daraus meist nicht zu rekonstruieren sei.

Die letzte Sektion unter Leitung von Ludwig EIBER (Augsburg) thematisierte weitere Aspekte der historischen Methode und Quellenkritik bei der Arbeit mit justiziellen Verfahrensakten. Zu Beginn brachte das Referat von Freia ANDERS (Bielefeld) einen Perspektivwechsel, indem es sich von der Nachkriegsjustiz ab- und der NS-Justiz vor 1945 zuwandte. Mit Blick auf den Forschungsstand mahnte sie Studien an, die die Rechtsprechung lokal kontextualisierten, die NS-Normsetzung in ihrer systemstabilisierenden Funktion untersuchten und die Zäsur von 1945 überschritten. Im Folgenden erläuterte Anders die unterschiedlichen Deutungen des NS-Rechts in der Nachkriegszeit, um im Anschluss auf die Vielfalt der juristischen Quellenbestände hinzuweisen, zu denen auch institutionelle Überlieferungen und Personalakten zu zählen sind. Diese Bestände ermöglichen vielfältige Einblicke in die Justizpraxis und bieten Potenzial auch für prosopographische Ansätze. Abschließend widmete sich Anders der Frage, welche Schlüsse aus einer Analyse von NS-Rechtspraxis und NS-Normsetzung sowie deren Deutung für den Umgang mit NSG-Verfahren gezogen werden können.

Claudia KURETSIDIS-HAIDER (Wien) referierte zum Quellenwert von Gerichtsakten am Beispiel der sechs zwischen 1945-1954 durchgeführten sog. „Engerau-Prozesse“. Insgesamt 21 Personen hatten sich in diesen „österreichischen Auschwitz-Prozessen“ vor den zuständigen Volksgerichten wegen ihrer Verbrechen in einem jüdischen Zwangsarbeiterlager in Bratislava im Kontext des „Südostwall“-Baues zu verantworten. Gerade im zeitlichen Ablauf der einzelnen Verfahren zeigten sich, so Kuretsidis-Haider, Unterschiede in Qualität und Intensität der Opfer- und Zeugenaussagen ebenso wie im Einfluss dieser Aussagen auf die Urteilstexte. Dies lasse Rückschlüsse auf Interessensschwerpunkte und Bedeutungszuschreibungen der Volksgerichte zu. Die Unentbehrlichkeit juristischen Aktenmaterials unterstreichend betonte die Referentin, über die Vorgänge in Engerau sei nur ein einziges zeitgenössisches Schriftstück erhalten geblieben. Gleichwohl müsse man das juristische Erkenntnisinteresse berücksichtigen, das sich vor allem auf die strafrechtliche Bewertung und damit relevante, subjektive Tatbeiträge, nicht aber Strukturen, Prozesse und kollektive Wahrnehmungen konzentriert habe. Die häufig fehlende Einordnung in einen größeren Verbrechenskomplex oder die Aufteilung eines Verbrechenskomplexes in unzusammenhängende Einzelverfahren erschwere dem Historiker den Blick auf den Kontext der Verbrechen.

In der Endphase des Zweiten Weltkrieges begangene Verbrechen bildeten einen frühen Schwerpunkt der west- und ostdeutschen Strafverfolgung. Anhand von rund 750 Urteilsschriften zu 330 Tatkomplexen erarbeitet Sven KELLER (Augsburg) einen Überblick über diese Endphasenverbrechen. Allein auf dieser Quellengrundlage sei es möglich, der Heterogenität dieser Gewalttaten in der Phase des staatlichen, militärischen und gesellschaftlichen Zusammenbruchs gerecht zu werden. Der Referent erläuterte Möglichkeiten und Grenzen einer solchen weniger in die Tiefe, sondern eher in die Breite gehenden Auswertung juristischen Aktenmaterials und warnte angesichts des „Strafverfolgungszufalls“ vor den Verlockungen der Quantifizierung. Die Chance der Auswertung einer großen Zahl von Einzelfällen liege vielmehr in der gesellschaftlichen Perspektive, die sich durch die akteurs- und handlungsbezogene Analyse der vielfältigen Gewalt biete, die die Kriegsendphase prägte.

In einem kurzen Résumé betonte Jürgen FINGER (Augsburg) nochmals die besonderen methodischen Vorraussetzungen der Arbeit mit Strafprozessakten zu NS-Verbrechen. Dabei hob er drei während der Tagung immer wieder angesprochene Problemkomplexe hervor: (1) Die materiellen Rahmenbedingungen der Ermittlungen und Verfahren, (2) der politische und gesellschaftliche Rahmen, über dessen Verhältnis zur Verfolgungspraxis erst noch zu diskutieren sei, und (3) schließlich das methodische und quellenkritische Problem des spezifischen Umgangs mit den Akten der kriminalistischen und justitiellen Aufarbeitung von NS-Unrecht: Der Historiker müsse mit den rechtsdogmatischen, prozeduralen, justiz- und personalpolitischen Bedingungen der Verfahren genauso umgehen wie mit der Diskrepanz zwischen unterschiedlichen Wissensbeständen, Erfahrungshorizonten, Erkenntnisinteressen, Begriffen, Wahrheits- und Objektivitätsvorstellungen in Rechtswissenschaft und Geschichtswissenschaft. Erschwerend für die Quellenkritik sei die Berücksichtigung unterschiedlicher Prozesstaktiken aller Beteiligten sowie die Rückbindung an zeitgenössische Wahrnehmungshorizonte und geschichtswissenschaftliche Deutungsmuster, die ihre Erkenntnismöglichkeiten strukturierten und begrenzten. Zu diskutieren seien dabei: die Probleme einer Vergleichs- und Beziehungsgeschichte der Strafverfolgung; die Möglichkeiten der Phaseneinteilung von Vergangenheitspolitik, Strafverfolgung und Erinnerungskultur in Beziehung zueinander; die Möglichkeiten und Probleme der qualitativen wie der quantitativen Analyse von Prozessakten und schließlich die Bedeutung, die der garantierten, defizitären oder gar fehlenden Rechtsstaatlichkeit bzw. Rechtsförmigkeit für den Quellenwert der Verfahrensakten zukomme.

Anmerkungen:
1 <http://ifz-muenchen.de/verfolgung_von_ns-verbrechen.html> (09.10.2007)
2 <http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/projekte/index.php> (09.10.2007)
3 <http://www.barch.bund.de/aufgaben_organisation/dienstorte/ludwigsburg/index.html> (09.10.2007)


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