Quellen der Judenräte im besetzten Polen

Quellen der Judenräte im besetzten Polen

Organisatoren
Freia Anders; Katrin Stoll; Karsten Wilke in Zusammenarbeit mit dem „Kolloquium zur Zeitgeschichte“ (Prof. Dr. Ingrid Gilcher-Holtey), Univ. Bielefeld
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.06.2007 - 28.06.2007
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Von
Giles Bennett, Institut für Zeitgeschichte München

Bereits für die jüdischen Ghettoinsassen war kaum ein Thema kontroverser als das Verhalten ihrer Judenräte. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschäftigt auch die Historiker die Frage nach dem Spielraum und der Verantwortung dieser von den deutschen Besatzern eingesetzten so genannten jüdischen „Selbstverwaltungen“, die tatsächlich zuvorderst deutsche Befehle auszuführen hatten. Waren die Judenräte die jüdischen Anführer, und hatte in ihnen die jüdische Selbstverteidigung versagt?

Am 27. und 28. Juni 2007 versammelten sich deutsche, polnische, schweizer und israelische Forscherinnen und Forscher im Internationalen Begegnungszentrum der Universität Bielefeld, um sich diesen Fragestellungen aus unterschiedlichen Perspektiven zuzuwenden. Die engen Beziehungen der Veranstalter1 mit Bialystok, die aus der Beschäftigung mit dem Bielefelder Bialystokprozess hervorgegangen sind 2, stellten naturgemäß den dortigen, reich dokumentierten Judenrat ins Zentrum der Betrachtung, ohne dabei andere Themen auszuschließen. Die anwesenden Dolmetscher sowie die Mehrsprachigkeit etlicher Teilnehmer erlaubten den reibungslosen Wechsel zwischen den Konferenzsprachen Deutsch, Englisch und Polnisch sowohl während den (jeweils in schriftlichen Übersetzungen vorliegenden) Vorträgen und den anschließenden Diskussionen als auch beim informellen Austausch in den Pausen.

Mit DAN MICHMANN (Jerusalem) konnten die Veranstalter einen bedeutenden israelischen Historiker für den Eröffnungs- sowie einen Abendvortrag gewinnen. In einem Überblick führte Michman in die Kontroversen über die Judenräte in der jüdischen Welt von 1945 bis in die Gegenwart ein. Dabei wies er auf die Bedeutung der überlebenden polnisch-jüdischen Historiker hin, die das Bild der Judenräte lange bestimmten. In seinem zweitem Vortrag erläuterte Michman seine Überlegungen zur Entwicklung der nationalsozialistischen Ghettos, die auf einer neuen Interpretation zentraler Dokumente wie Heydrichs „Schnellbrief“ vom 21. September 1939 beruhen. Dabei betonte er, dass nach den ideologischen Wurzeln des Ghettobildes in der nationalsozialistischen Ideologie der 1930er-Jahre gesucht werden müsse.

Zwei weitere Beiträge widmeten sich der Rezeption des Geschehens: Sehr eindrucksvoll schilderte KAROL SAUERLAND (Warschau) die Holocaust-Debatten in Polen (bzw. ihr Fehlen in der Zeit der Volksrepublik). Besonders hob er die bis heute unaufgearbeiteten antisemitischen Ausschreitungen von 1968 hervor. KARSTEN WILKE (Bielefeld) analysierte den Streit um Hannah Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem“, das nach dem Eichmann-Prozess den wohl schärfsten öffentlichen Disput über die Rolle der Judenräte auslöste.

Die Behandlung der Großghettos Warschau und Lodz nahm ebenfalls breiten Raum ein: HAVI BEN-SASSON (Jerusalem) fragte anhand neuer Einblicke in das Warschauer Untergrundarchiv des polnisch-jüdischen Historikers Emanuel Ringelblum nach dem Zustand der Moral in der extremen Situation der Juden am Rande des physischen und psychischen Zusammenbruchs. Dabei nahm sie vor allem die Lage der Kinder in den Blick: Sie mussten in einer abnormalen Gesellschaft aufwachsen. Die Rivalitäten zwischen den inoffiziellen Wohlfahrtsorganisationen, die Ringelblum gewissermaßen repräsentierte, und dem offiziell eingesetzten Judenrat unter Adam Czerniakow, dessen unteren Chargen vielfach Korruption vorgeworfen wurde, betrachtete PIOTR WEISER (Warschau). Eine Analyse des berühmten Tagebuches des Adam Czerniakow unternahm ANDREAS RUPPERT (Detmold). Dabei demonstrierte er, wie ausweglos die Lage des Warschauer Judenratsvorsitzenden war – niemals konnte dieser die Situation gegen die Deutschen entscheidend verbessern, obwohl er sich redlich darum bemühte. In Lodz hingegen herrschte Chaim Rumkowski autokratisch. MONIKA POLIT (Warschau) legte entsprechend dar, wie sich die Lodzer Ghettochronik als eine an die Nachwelt gerichtete Propaganda Rumkowskis verstehen lässt.

Den regionalen Schwerpunkt bildete aber, wie gesagt, das Ghetto Bialystok. ADAM DOBRONSKI (Bialystok) ordnete die Ghettogeschichte in ihrem lokalgeschichtlichen Zusammenhang ein. Dabei spielten vor allem die in den letzten Jahren gesammelten Erinnerungen von Überlebenden eine bedeutende Rolle. Die justizielle Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen im Bezirk Bialystok stand im Fokus zweier weiterer Referate: JERZY JAN MILEWSKI (Bialystok) ging auf die polnischen Nachkriegsprozesse als Quellen für indigene antisemitische Gewalt ein, während KATRIN STOLL von ihren Forschungen über den Bielefelder Bialystokprozess berichtete. Insbesondere hob sie als Schwierigkeit des Prozesses hervor, dass hier die Beweise für die Verwicklungen der Angeklagten vor allem anhand von Indizien erbracht werden mussten.

Dieses Bielefelder Verfahren spielte auch im Vortag von HANS-PETER STAEHLI (Bern) eine Rolle. Der Schweizer Theologe trat gleichzeitig in unterschiedlichen Funktionen auf: Als Übersetzer der Bialystoker Judenratsmeldungen und als Zeitzeuge des Bielefelder Prozesses, bei dem er in dieser Funktion als Sachverständiger vernommen wurde. JOANNA FURLA-BUCZEK (Warschau) nahm eine Klassifizierung und Charakterisierung ebendieser Judenratsmeldungen vor und ging dabei hauptsächlich auf die unterschiedlichen Textsorten und die damit verbundenen Inhalte ein, während der in Abwesenheit verlesene Vortrag von SARA BENDER (Haifa) eine Rekonstruktion der Institutionen im Ghetto Bialystok anhand der Meldungen unternahm.

Abschließend stellten HANS-WILHELM ECKHARDT (Hameln) und MATTHIAS HOLZBERG (Alfeld) Konzepte vor, nach denen man Schülern die Geschichte des Holocaust unter Verwendung der Bialystoker Judenratsmeldungen näher bringen könnte. Begegnungen mit Zeitzeugen in der Schule werden naturgemäß immer seltener. Texte wie die Meldungen stellen eine akzeptable Alternative dar, um den Alltag und das Umfeld eines großen Ghettos anschaulich zu vermitteln. Wie in allen vorhergehenden Vorträgen wurde auch hier deutlich, dass es sich um einen geschlossenen und vielfältigen, aber relativ anspruchsvollen Quellenbestand handelt, der viel Vorbereitung durch den Lehrer und ausreichend Zeit im Unterricht bedarf.

Der relativ klare Fokus der Tagung, der überschaubare, zum regen und vertrauten Austausch einladende Teilnehmerkreis, die anregenden Referate und die reibungslose Organisation der zweitägigen Tagung hinterließen einen positiven Eindruck – man darf zu Recht auf die Publikation der Beiträge gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Freia Anders, Katrin Stoll und Karsten Wilke in Zusammenarbeit mit dem Kolloquium zur Zeitgeschichte von Ingrid Gilcher-Holtey an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld. Unterstützt wurde die Veranstaltung ferner durch den Fonds „Erinnerung und Zukunft“, die Robert Bosch Stiftung und das AKE-Bildungswerk.
2 Vgl. dazu Anders, Freia; Kutscher, Hauke-Hendrick; Stoll, Katrin(Hrsg.), Bialystok in Bielefeld. Nationalsozialistische Verbrechen vor dem Landgericht Bielefeld; 1958 bis 1967. Bielefeld 2003.

Kontakt

Freia Anders
Fakultät für Geschichtswissenschaft
Universität Bielefeld, Universitätsstr. 25
33615 Bielefeld
0521-106-3228
0521-106-2966
fanders@uni-bielefeld.de


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