Zivilisationsbrüche. Die Bruchlinien des 20. Jahrhunderts im Gedächtnis des beginnenden 21. Jahrhunderts

Zivilisationsbrüche. Die Bruchlinien des 20. Jahrhunderts im Gedächtnis des beginnenden 21. Jahrhunderts

Organisatoren
Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien, Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
07.11.2002 - 09.11.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Peter Stachel, Österreichische Akademie der Wissenschaften/Graz

4. Internationale Konferenz des Forschungsprogramms "Orte des Gedächtnisses"

Seit dem Jahr 1999 besteht an der „Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte“ der „Österreichischen Akademie der Wissenschaften“ in Wien ein Forschungsprogramm, das sich spezifisch mit einem der zentralen Begriffe kulturwissenschaftlicher Forschungsansätze, jenem des „Gedächtnisses“, auseinandersetzt. Bislang sind aus diesem Forschungsschwerpunkt bereits sechs Publikationen hervorgegangen: Zwei theoretisch orientierte Sammelbände über Bibliotheken, Museen und Archive als Speicher des Gedächtnisses, je ein Sammelband über die Verortung von Gedächtnis, über die Mehrdeutigkeit von Gedächtnisorten und über transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, sowie eine von Jacques Le Rider (Paris) verfaßte monographische Studie über Tagebuchliteratur.

Die Anfang November vergangenen Jahres in Wien abgehaltene 4. Internationale Konferenz des Forschungsprogramms „Orte des Gedächtnisses“ war einer Thematik gewidmet, die nicht unwesentlichen Anteil an der Konjunktur des Gedächtnisbegriffs in der kulturwissenschaftlichen Forschung, gerade auch innerhalb des deutschen Sprachraums, hat: Der Erinnerung und vor allem auch dem ethischen Gebot der Erinnerung an jenen Ereigniskomplex, der vom Historiker Dan Diner mit dem Begriff des „Zivilisationsbruchs Auschwitz“ umrissen wird. Der als Konferenztitel gewählte Begriff des „Zivilisationsbruchs“ verknüpft, so die für die Programmgestaltung hauptverantwortliche Zeithistorikerin Heidemarie Uhl, zwei zentrale Aspekte historischen Denkens in unserer Zeit: „Einerseits die Frage des individuellen und kollektiven Umgangs mit dem Trauma des Holocaust und anderer Ereignisse, von denen eine „anthropologische Irritation“ ausgeht, und andererseits die Reflexion über „Vergangenheit“ als (Re-)Konstruktion, als Prozeß des (Neu-)Schreibens der Geschichte vom Bezugspunkt der Gegenwart aus.“

Eingeleitet wurde die Konferenz, entsprechend der Tradition der veranstaltenden „Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte“, nicht mit einem Vortrag, sondern mit einer literarischen Lesung: Der österreichische Autor Robert Menasse las vor zahlreich erschienenem Publikum aus seinem jüngsten Roman „Die Vertreibung aus der Hölle“, einem Werk, daß sich thematisch bruchlos in die Problemstellung der Tagung einfügte. Den im engeren Sinn „wissenschaftlichen Teil“ eröffnete Dan Diner (Jerusalem/Leipzig) mit einem Grundsatzreferat über die Veränderung historischer Zeitvorstellungen durch den Zivilisationsbruch Auschwitz: Der Holocaust – so Diners Hypothese – fungiere als eine Art „Zeitstau“, als ein singuläres Ereignis, daß in seiner elementaren Einzigartigkeit nicht nur die nachfolgende, sondern – in der retrospektiven Wahrnehmung – auch die Zeit davor „kontaminiere“; auch die Geschichte vor 1933 könne heute nicht ohne das Wissen um die Shoa abgehandelt werden. Dies liege aber, so Diners Auffassung, nicht allein an der Form der Wahrnehmung, sondern an der Einzigartigkeit des Ereignisses selbst. Weiters plädierte Diner für eine „doppelte“ Sicht auf den Holocaust: Einerseits müsse der „Zivilisationsbruch“ Auschwitz in historischer Perspektive betrachtet werden, andererseits gelte es aber, darüber den Blick auf die anthropologische Ebene, auf den „nackten Menschen“ als Opfer, nicht aus den Augen zu verlieren; dazu ist freilich kritisch anzumerken, daß sich auf rein anthropologischer Ebene, die nur das Leiden des Individuums thematisiert, das Postulat der Einzigartigkeit des Geschehens nicht begründen läßt.

Im zweiten Referat präsentierte der Wiener Sprachwissenschafter Alexander Pollak erste Ergebnisse eines laufenden Forschungsprojektes über die Wahrnehmung des Nationalsozialismus durch heutige österreichische Jugendliche, anhand von Video-Interviews, die mit jugendlichen Besuchern der Ausstellung über „Verbrechen der Wehrmacht“ gemacht wurden. Daran schloß sich der Vortrag des Philosophen Oliver Marchart (Wien/Basel), der sich kritisch mit den aktuellen Vorstellungen einer „Globalisierung“ der Erinnerung an den Holocaust, insbesondere mit den Theorien Daniel Levys und Natan Sznaiders, auseinandersetzte: Außerhalb des westlichen Kulturkreises, so Marcharts ebenso provokante wie überzeugend argumentierte Kritik, werde diese Konzeption oftmals als kolonialistisch empfunden, insbesondere dann, wenn sie zur Legitimierung politischer oder militärischer Maßnahmen instrumentalisiert werde. Im abschließenden Referat dieses Halbtages bot Heidemarie Uhl (Wien/Graz) unter dem Titel „Von Endlösung zum Holocaust“ einen Überblick über semantische Transformationen und nationale Differenzierungen in der Darstellung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Terminologische Abwägungen zogen sich dann auch in weiterer Folge durch die intensiv geführten Diskussionen. So merkte etwa die Wiener Psychoanalytikerin Elisabeth Brainin kritisch an, daß die heute geläufigen, „beinahe sakralisierten“ (Brainin) Termini „Holocaust“ oder „Shoa“ nicht bloß als Ausdruck begrifflicher „Humanisierung“, sondern auch als Mittel der emotionalen Distanzierung und letztlich terminologischen Neutralisierung des Ereignisses – der Vernichtung des gesamten europäischen Judentums durch die angestrebte Ermordung jedes einzelnen als „jüdisch“ definierten Individuums – interpretiert werden könnten.

Der bereits im Referat von Heidemarie Uhl andiskutierten Thematik unterschiedlicher nationaler Erinnerungsmilieus war der zweite Halbtag des Kongresses gewidmet. Rudolf Jaworski (Kiel) widmete sich in seinem Referat in vergleichender Perspektive „national“ umstrittenen Gedächtnisorten im östlichen Zentraleuropa, die zwar einerseits Konfliktpotentiale darstellten, andererseits aber dadurch, daß sie Auseinandersetzungen provozierten, die Chance zu einer bewußt kritischen „Erinnerungspolitik“ in sich trügen. Peter Niedermüller (Berlin) beschäftigte sich, gleichfalls vergleichend, mit der Geschichtspolitik in den postsozialistischen Gesellschaften: Die Erinnerung an den Holocaust, so Niedermüller, werde in diesen Gesellschaften zumeist vom Erinnerungsbruch „1989“ überlagert, was einerseits zur Vorstellung einer durch den Kommunismus gleichsam künstlich aufgehaltenen und erst nach 1989 wieder in Fluß gekommenen nationalen „Geschichte“ und andererseits zu einer Neigung zur impliziten oder auch expliziten „Gleichsetzung“ von Nationalsozialismus und Kommunismus führe.

In den Referaten von Éva Kovács (Budapest/Wien) und Tomasz Szarota (Warschau) wurden zwei „nationale“ Erinnerungskulturen“ eingehender analysiert. Für Ungarn konstatierte Éva Kovács, unter anderem unter Bezugnahme auf den frischgekürten Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, daß die Erinnerung an die Shoa eine „kalte Erinnerung“ sei: Die ermordeten ungarischen Juden würden in der ungarischen Gesellschaft weder als „Opfer“ noch als „Helden“ betrachtet, die Shoa werde vielmehr externalisiert und überwiegend nicht als Bestandteil der eigenen „nationalen“ Geschichte aufgefaßt. Der polnische Historiker Tomasz Szarota, bekannt durch seine Beiträge zur Jedwabne-Debatte, analysierte die Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust für ein national polnisches „Geschichtsnarrativ“. Die jeweils gewählte Terminologie, so Szarota, sei dabei immer auch durch das jeweilige Verhältnis zu Deutschland bestimmt gewesen; so sei nach Gründung des sozialistischen „Bruderstaates“ DDR der bis dahin geläufige Begriff der „deutschen Verbrechen“ absichtsvoll durch jenen der „Hitler-Verbrechen“ ersetzt worden. Überdies warf Szarota die Frage auf, warum einzelnen Orten, wie etwa „Auschwitz“, in der Erinnerung an den Holocaust fundamentale symbolische Bedeutung zukomme, während andere Tatorte nationalsozialistischer Gewaltverbrechen allenfalls Spezialisten bekannt seien.

Der letzte Halbtag wurde durch den Vortrag des Historikers Norbert Frei (Bochum) eingeleitet, der sich mit den Veränderungen im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Wechsel der Generationen in Deutschland beschäftigte. Eckpunkte dieses Wandlungsprozesses seien, so Frei, die Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie „Holocaust“ – durch die der Begriff überhaupt erst geläufig geworden sei – im Jahr 1979, weiters der „Historikerstreit“ von 1986, die Goldhagen-Kontroverse (beides – wie Frei betonte – primär keine innerfachlich-historischen Kontroversen), die Walser-Bubis-Debatte und die Auseinandersetzungen um die beiden Ausstellungen über „Verbrechen der Wehrmacht“ gewesen. Damit einhergehend habe sich auch der Schwerpunkt der innerfachlichen Perspektive vom Blick auf das Scheitern der demokratischen Strukturen vor 1933 – wobei durch den zentralen Terminus „Machtergreifung“ die breite Zustimmung zum Nationalsozialismus terminologisch ausgeblendet worden sei – auf die hauptsächliche Thematisierung der nationalsozialistischen Verbrechen hin verschoben. Zugleich aber, so Frei, sei erst dadurch die Möglichkeit zu einer ernsthaften, auf breiterer Basis geführten Auseinandersetzung mit derzeit intensiv diskutierten Themen wie der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus dem Osten und dem Bombenkrieg gegeben worden.

Elisabeth Brainin (Wien) näherte sich der Thematik der generationsübergreifenden Erinnerung an die Shoa mit psychoanalytischem Instrumentarium, wobei ihr Hauptinteresse vor allem den Nachkommen der Opfer galt, auf die, so Brainin, im Zuge des „Familienromans“ das Trauma der Opfer als belastender „Mythos“ übergehe. Aus der Perspektive der Historikers stellt sich hier freilich die Frage, ob der zumindest potentiell vorhandenen Gefahr einer verallgemeinernden Generalisierung nicht durch eine Analyse spezifischer soziokultureller Erinnerungsmilieus entgegengewirkt werden müßte: Ob also, direkt gefragt, die einschlägigen Erfahrungen der Nachkommen von Holocaust-Überlebenden in Deutschland und Österreich mit jenen, die z.B. in den USA oder Israel aufgewachsen sind, im großen und ganzen identisch sind.
Die österreichische Historikerin Brigitte Straubinger (Wien) widmete sich in ihrem pointierten Referat der Thematisierung der Erfahrung der NS-Zeit in der österreichischen Literatur der Nachkriegszeit, wobei der Schwerpunkt ihrer Analyse auf dem 1956 veröffentlichten und zwölf Jahre später auch verfilmten Roman „Moos auf den Steinen“ von Gerhard Fritsch lag. Der abschließende Vortrag von Cornelia Brink (Freiburg) thematisierte das bislang eher vernachlässigte Problem der Medialität von „Quellen der Erinnerung“ am Beispiel von Photographien: Die Erinnerung an die NS-Zeit und ihre Verbrechen sei, so Brink, stark von bildlichen Quellen mit teilweise ikonischem Charakter geprägt, die weitgehende Vernachlässigung der Kontextbezogenheit bildlicher Quellen berge aber die Gefahr eines voyeuristischen Blickes, einer „Pornographie des Todes“ in sich. Folgerichtig kritisierte die Vortragende die weitgehend unverbundene Parallelführung der historischen Auseinandersetzung mit Bildern als „Quellen“, die als Ausdruck quasi unverstellter „Authentizität“ imaginiert würden, mit kunsttheoretischen Überlegungen zur Medialität bildlicher Darstellungen: Eine Problemfeld, in dem in der Tat noch einiges zu klären wäre.

Das große öffentliche Interesse an der Thematik der Konferenz wurde nicht nur durch den durchwegs guten Besuch der Vorträge und die Intensität der Diskussionen belegt, sondern auch durch eine landesweit ausgestrahlte, halbstündige Dokumentation der Tagung im österreichischen Rundfunk untermauert. Dem im kommenden Herbst erscheinenden, von Moritz Csáky und Heidemarie Uhl herausgegebenen Tagungsband, kann daher mit Spannung entgegengesehen werden.

Kontakt

Dr. Heidemarie Uhl
Österreichische Akademie der Wissenschaften
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte

E-Mail: heidemarie.uhl@oeaw.ac.at


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