Das Andere – Theorie, Repräsentation und Erfahrung im 19. Jahrhundert (4. Deutsch-französischer Sommerkurs für Nachwuchswissenschaftler)

Das Andere – Theorie, Repräsentation und Erfahrung im 19. Jahrhundert (4. Deutsch-französischer Sommerkurs für Nachwuchswissenschaftler)

Organisatoren
Mareike König; Jörg Requate; Carole Reynaud Paligot; Deutsches Historisches Institut Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
25.06.2007 - 27.06.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Melanie Aufenvenne; Patrizia Mascolo

Das Andere. Was ist das für uns? Allgemein ist es das unserer Erfahrungswelt Fremde und immer nur als Gegenpol zum Ich/Wir, zum uns Bekannten denkbar. Beide Seiten - Identität wie Alterität - sind somit relativ, dynamisch und historisch. Was war das Andere im 19. Jahrhundert? Wie erfuhr man es, wie konstruierte man es und wie theoretisierte man es? Zu diesem Thema organisierten Mareike König, Jörg Requate und Carole Reynaud Paligot (Deutsches Historisches Institut Paris) im Rahmen des 4. Deutsch-französischen Sommerkurses für Nachwuchswissenschaftler des DHIP eine dreitägige Tagung mit dem Titel „Das Andere - Theorie, Repräsentation und Erfahrung im 19. Jahrhundert / L’Autre – théorie, représentation, vécu au XIXe siècle“. Der Anspruch lag in einem breit gefächerten Untersuchungsfeld, welches sich in einem transnationalen Kontext situierte und verschiedene Kulturkreise betraf. Die Tagung diente ebenfalls dazu, deutsche und französische Doktoranden zu einem Austausch zusammenzubringen und wurde von der DFH finanziell unterstützt.

Jörg REQUATE begann mit einer Einführung zur Figur des Fremden im 19. Jahrhundert. Geprägt durch Immigration, Nationalismus, Expansion und Kolonialismus, hat das 19. Jahrhundert den Rahmen geschaffen für eine bis dato noch nicht erfahrene Multiplikation der Repräsentationen des Anderen einerseits und der Konstruktionen eigener Identitäten andererseits. Welche Ideen sind dabei entstanden? In welchem Kontext? Von wem wurden sie propagiert? Was besagten sie schließlich über die eigene (Vorstellung von) Identität? Somit waren die Fragen formuliert, deren Beantwortung das Anliegen der Vorträge war.

In der ersten Sektion ging es um die Bedeutung der rassischen und kolonialen Diskurse, die im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht nur enorm an Breite und Umfang zunahmen, sondern sich auch immer mehr verfestigten. Konnte im präkolonialen Kontext, wie der Beitrag von Eva BLOME zur Rolle von Sexualität und Reproduktion im kolonialen Rassendiskurs des deutschen Kaiserreiches zeigte, „Rassenmischung“ noch als Chance zur Stabilisierung imperialer Machtverhältnisse bewertet werden, wurde eine solche Sichtweise im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend unmöglich. Unter dem Einfluss des Sozialdarwinismus und der Kolonialisierung Afrikas wurde ein rassistisch-dichotomisches Interpretationsmuster gleichsam alternativlos. Der kolonialisierte Andere entwickelte sich in allen Lebensbereichen, wie Sandra MASS („Der Andere Mann. Afrikanische Soldaten als Spiegel weißer Männlichkeit im 19. Jahrhundert“) und Viviane AZARIAN („La misson civilisatrice de la France et la construction d’une „altérité nègre“) in ihren jeweiligen Beiträgen verdeutlichten, zu einem stereotypen Gegenentwurf, der die eigene Identität ebenso bedrohen wie verfestigen konnte, in jedem Fall aber zur Begründung der eigenen Vormachtstellung diente. Diese Identitätskonstruktionen spiegelten sich, auch dies zeigten die Beiträge, in einer Vielzahl unterschiedlicher Medien, wobei sich Elisabeth SCHMIDT insbesondere mit der Rolle der deutschen Kolonialpresse in der Zeit zwischen 1884-1918 auseinander setzte. Ihr Ergebnis, dass Stereotype hier der Handhabe des widersprüchlichen Gefühls von Angst und Faszination dem Anderen gegenüber dienten und zugleich als Abgrenzungsmechanismen zur Konsolidierung der eigenen Gruppe fungierten, erwies sich dabei als unmittelbar anschlussfähig auch für die Untersuchung anderer Medien.

Eine zweite Sektion behandelte die Erfahrung körperlicher Alterität im 19. Jahrhundert. Patrick SCHMIDT („Die mediale Konstruktion körperlicher Alterität um 1800“) machte dabei eine Tendenz zur zunehmenden Rationalisierung aus. Waren „Monstren“ und „Wundergeburten“ - also missgebildete Neugeborene - in der Frühen Neuzeit als Prodigien gedeutet worden, so sollten im 19. Jahrhundert medizinisch-anatomische Beschreibungen und die rein körperliche Alterität in den Vordergrund rücken. Paradoxerweise beförderte gerade diese Verwissenschaftlichung rassistische Deutungsmuster körperlicher Andersartigkeit, was Birgit STAMMBERGER am Beispiel der „Hottentottenvenus“ aufführte. War die physiologische Differenz einiger Südafrikanerinnen im 18. Jahrhundert noch nach einem monogenetischen Weltbild mit kulturellen Praktiken begründet worden, so bildete im 19. Jahrhundert das polygenetische Argument die ideologische Basis für Rassentheorien.

Der Orient als Erfahrungsort kultureller Alterität war unter der Leitung von Tobias KIES Bestandteil der letzten Sektion des Tages. Die Beiträge verwiesen insbesondere auf die Dynamik des Gegensatzpaares von Identität und Alterität. So kann man beispielsweise Christin PSCHICHHOLZ zufolge nicht von einer einheitlichen kulturellen Identität deutscher protestantischer Migranten im osmanischen Umfeld des 19. Jahrhunderts sprechen. Auch ist die Wahrnehmung des Anderen wandelbar und unterliegt historischen Prozessen, was der Beitrag von Evelyn GOTTSCHLICH zur Wahrnehmung Tibets im europäischen Bewusstsein unterstrich. Gottschlich zeigte, dass der positiv konnotierte europäische Blick einen Paradigmenwechsel und eine Dekonstruktion des Tibet-Bildes erfuhr. Schließlich stehen Identität und Alterität in Interaktion. David MOTADEL veranschaulichte dies in seiner Analyse zu den Deutschlandbesuchen persischer Schahs im Zeitraum von 1873-1905. Motadel vertrat die These, dass es bei diesen interkulturellen Monarchenbegegnungen zu einer zunehmenden „zeremoniellen Europäisierung“ der Schahs kam, was mit einer symbolischen Anerkennung der Schahs und Persiens seitens des deutschen Kaiserreiches einherging.

Am zweiten Tag des Kolloquiums kam in einer ersten Sektion Alterität als greifendes Charakteristikum der Nation und als identitätsstiftender Faktor zum Tragen. Bénédicte ÉLIE („Michelet: du fantasme de l’altérité à la construction de l’identité“) und Richard POHLE („Das nächste Fremde – Identitätsbildung durch Verwandtschaft mit den Griechen“) kamen in ihren jeweiligen Vorträgen zu dem Ergebnis, dass das Andere dabei oftmals nur als Projektionsfläche für das Eigene fungierte. Weiterhin wurde in dieser Sektion verdeutlicht, dass es gerade im 19. Jahrhundert dort zu Identitätskonflikten kam, wo die Nation in Frage gestellt wurde, was oftmals auch literarisch verarbeitet wurde. So referierte Stefan DYROFF zum negativen Stereotyp des Bartek aus einer Novelle von Henryk Senkiewicz, der einer kulturellen polnischen Elite als negative Symbolfigur eines germanisierten Polen diente. Dass die Repräsentation des Anderen auch von politischen Faktoren beeinflusst wurde zeigte Florian KAISINGER in seinem Beitrag über die Wahrnehmung von Krieg und Gewalt auf dem Balkan in den Presseöffentlichkeiten Englands, Deutschlands und Irlands im Zeitraum von 1876 bis 1913.

Der zweite Teil des Tages war unter der Sitzungleitung von Rosemarie BEIER-DE-HAAN den Darstellungen vom Anderen gewidmet. Bénédicte PERCHERON sprach zunächst zur Darstellung der außereuropäischen Völker in den naturgeschichtlichen Museen des 19. Jahrhunderts. Sie verdeutlichte, dass die Ausstellungen und Publikationen dieser Museen - welche sich im Kontext entstehender Geisteswissenschaften wie der Anthropologie und Ethnographie situierten - zwar einen wissenschaftlichen Anspruch gegenüber beispielsweise exotisch angefärbten Darstellungen in der Kunst erhoben, jedoch eine sozialdarwinistische Hierarchisierung der „Rassen“ nicht überwinden konnten. In den beiden folgenden Vorträgen ging es um die Darstellung von Alterität in der ethnographisch-anthropologischen Photographie des 19. Jahrhunderts. Mathilde ROUSSAT referierte zu der Repräsentation des Anderen in den photographischen Beständen der 1869 gegründeten Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Die Instrumentalisierung von Medien, insbesondere die der Photographie, für politische Ziele führte Imed BEN SALAH am Beispiel Tunesiens in Bildern einiger französischer Photographen vor.

Im Zentrum des letzten Tages standen die dialektischen Bezüge von Wissenschaft und Alterität. Christine LAURIÈRE verwies auf die ethnologischen Forschungen Paul Rivets, in denen sich eine Verschiebung vom dominierenden Alteritätsgedanken des 19. Jahrhunderts besonders im epistemologisch-wissenschaftlichen Bereich abzeichnete. Ungleichheit sei, so Laurière nach Rivet, historisch und sozial konstruiert. Anschließend machte Julie DUMONTEIL in ihrem Vortrag über die Erziehungs- und Bildungsreformen im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland darauf aufmerksam, dass entgegen der Bestrebungen zu nationaler Vereinheitlichung, soziale und kulturelle Unterschiede und Umbrüche in der Gesellschaft umso stärker zum Vorschein kamen. Fréderic DUPIN stellte in seinem Vortrag über den Soziologen und Philosophen Auguste Comte differenziert dessen Konzeption von Alterität vor. Eine weitere Leseart von wissenschaftlichen Diskursen stellte Guillaume BONNIN in seinem Beitrag über die Geschichte Koreas. In den ethnographischen und anthropologischen Debatten des 19. Jahrhunderts figurierte ein deterministisches und ein politisches Element im Koreabild, das zielgerichtet den westlichen Imperialismus rechtfertigte und legitimierte.

Volker BARTH zeichnete in seinem Schlusskommentar die wichtigsten gemeinsamen Themenstränge und Probleme des Konferenzthemas nach. Besonders betonte er, wie in einer immer wiederkehrenden Dialektik Alterität und Identität miteinander verflochten sind. Alterität als relationales Phänomen resultiert aus einer Konstruktion, aus einem „othering“ des Anderen, welches Gefahr läuft, zur bloßen Projektionsfläche für das Eigene zu verkommen.

So beinhalten Aussagen über die Alterität nichts über den Anderen, sagen jedoch viel über denjenigen, der spricht. Der Andere wird durch Namensgebung angeeignet, wobei man stets in eigenen Denksystemen verhaftet bleibt. Daraus ergibt sich freilich als methodisches Problem die Frage, was man über den Anderen dann eigentlich noch sagen und wissen kann.

Kritisch merkte Barth an, dass wirtschaftliche Aspekte des Themas auf der Tagung fehlten. Dabei hat Alterität z.B. in ihrer Zuschaustellung auch eine starke kommerzielle Seite. Auch wurde der politische und militärische Faktor nicht thematisiert, und das, obwohl Alterität immer zweckgebunden verwendet wird und als Ausdruck von Macht gelten kann.

In der Abschlussdiskussion wurde die Wichtigkeit einer differenzierten Quellenbetrachtung betont, die auch andere Meinungen berücksichtigt. Anstatt einer einseitigen Darstellung sind - im Sinne der Postcolonial Studies - die Interaktion zwischen Eigenem und Fremden und die Simultanität konkurrierender Diskurse in den Blick zu nehmen. So kann man zu hybriden Formen von Alterität gelangen, die sich nicht mit Fragen der „Wahrheit“ oder einer nachträglichen Gerechtigkeit aufreiben.


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