Zeit und Geschichte. Eine Tagung zu Reinhart Kosellecks Theoriegebäude

Zeit und Geschichte. Eine Tagung zu Reinhart Kosellecks Theoriegebäude

Organisatoren
Goethe Institut Sofia, Haus der Wissenschaft vom Menschen und von der Gesellschaft, Sofia, und Institut Francais de Sofia
Ort
Sofia
Land
Bulgaria
Vom - Bis
23.11.2002 - 24.11.2002
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Von
Markus Bauer

Wer unter den Bedingungen der Moderne Geschichte darstellen will, braucht ein gehöriges Mass an Selbstvertrauen. Sind doch die methodologischen Fallgruben und praktischen Hindernisse nicht zu verachten. Seit dem Ideologieverdacht gegenüber den Funktionen der Geschichtsschreibung, seit dem Aufweis ihrer rhetorischen Strukturen, seit dem Verlust eines möglicherweise naiven Glaubens an die Evokation "wie es denn gewesen sei", hat die Reflexion über die "richtige" Art der Geschichtsschreibung manchen Historiker umgetrieben. Und Reinhart Koselleck hat mit seiner komplexen Theorie von der notwendigen Berücksichtigung der Beschleunigung und anderer Zeitstrukturen im "ordo tempore" seit dem Beginn der Moderne und mit der Differenzierung der historischen Semantik weitere Schwellen vor jede allzu geradlinige Annäherung an die vergangenen Zeiten gelegt. Oder sind seine Abhandlungen nicht eher Hinweisschilder, die den Weg zur historischen Darstellung säumen und sicherer machen - gegebenenfalls aber auch Ver- und Gebote begründen?

Die anregende Fülle von Kosellecks jahrzehntelanger Theoriearbeit konnte nun auf einem bisher eher der Modernität sich entziehenden Terrain besichtigt werden - die "Sofioter Dialoge", eine Veranstaltungsreihe in Kooperation von Goethe Institut, Haus der Wissenschaften vom Menschen und der Gesellschaft sowie dem Institut Francais, widmeten nach Jacques Derrida, Paul Ricoeur und Jürgen Habermas dem Bielefelder Emeritus eine international besetzte Tagung.

Mag der Ort eher einer Entschleunigung das Wort reden, Kosellecks brillantes Eingangsreferat stellte insbesondere Wiederholungsstrukturen der historischen Temporalität in den Mittelpunkt. Mit deren Einteilung in naturale, anthropologische und historische Aspekte lenkte er zugleich die Aufmerksamkeit auf die für seine Denkweise paradigmatischen Oppositionspaare früher - später, innen - aussen, oben - unten.

Von diesem komplexen Geflecht der Zeiten in der Geschichte nahmen die Referenten immer wieder ihren Ausgang. Auf Alban Bensas (Paris) präzise Darlegung des Status des Ereignisses in den Sozialwissenschaften, der im Gegensatz zu den historischen Wissenschaften eher prekär sei ("L'histoire aime l'événement!") und in Frankreich nun von Pierre Nora neu diskutiert werde, antwortete Koselleck listig mit dem etymologischen Hinweis auf die mediale Verfasstheit des entsprechenden deutschen "eräugnis" und seine nur vom Augenzeugen beglaubigte Einmaligkeit. Sie sei nur schwer in Kontexte und Analysen einzubeziehen, da nicht alle Strukturen gleiche Realitätsmöglichkeiten hervorbrächten, sondern nur Bedingungen der Möglichkeit. Von daher sei auch die Differenz von Geschichte und Geschichtsschreibung unaufhebbar, da letztere immer mehr oder weniger sage, als der Fall war.

Diese Problematisierung der sprachlichen Verfasstheit des Geschichtstextes führte zur dichtesten Konfrontation der Gespräche (ganz im Sinne Kosellecks, der höflich zum Widerspruch reizte: "Wenn Sie mir da widersprächen, wäre das natürlich sehr schön."). Alexandre Escudier (Paris/Berlin) wies von Chladenius und Droysen ausgehend auf drei Betrachtungsformen der Zeit seit dem 19. Jahrhundert hin, die Temporalität in Erzählungen verwandelten, während Heinz Wismann (Paris/Heidelberg) Kosellecks Begriffstriade in Opposition zu Gadamers Sprachphilosophie setzte und in das Problemfeld von Kants Kategorientafel einbezog. Er formulierte eine von Walter Benjamins Konzept des Augenblicks und der Fülle der Zeit ausgehende Frage nach weiteren anthropologischen Kategorien. Koselleck nutzte die Gelegenheit, seine philosophischen Grundlagen zu illustrieren und sich als Post-Kantianer gegen Heidegger und Gadamers nur sprachlich orientierte Hermeneutik des Erfahrungshorizontes auszusprechen. Seine eigenen begriffsgeschichtlichen Ansätze sah er daher als Gelenk zwischen dem historisch Tatsächlichen und dem Bewusstsein des Historiographen und betonte die von Helge Jordheim (Oslo) analysierte temporale Binnenstruktur der Begriffe, die gerade jede Selbstinspektion und subjektive Wahrnehmung ausschliessen solle.Weniger eindeutig fiel die Antwort auf Heinz-Dieter Kittsteiners (Frankfurt/Oder) Engführung der Koselleckschen Termini mit Ernst Cassirers Theorie der symbolischen Formen aus, die den Menschen als animal symbolicum in zahlreichen Medien objektiviert habe. Historische Narration als dreifache Mimesis im Sinne Ricoeurs führe jede Generation dazu, die ihr gestellte Aufgabe in der Fabel als Einheit der zeitlichen Totalität post festum zu erkennen (oder eben auch nicht). Der philosophisch versierte Lausanner Historiker Jean-Marc Tétaz führte Nietzsches radikale Destruktion des historischen Sinns in die Problematik der Temporalitäsformen ein, worauf Koselleck darauf hinwies, dass seit dem 18. Jahrhundert eben die Bedingungen der Erfahrung sich der Erfahrung selbst entziehen und daher "Geschichte" eine Konstruktion sei.

Bulgarische Referenten wie Roumen Daskalov (Sofia/Budapest) verwiesen auf die oft fragwürdige Wiederholungsstruktur der balkanischen Entwicklung, die jetzt wieder den ökonomischen Erfolg der westeuropäischen Staaten imitieren solle, oder entwickelten ein Konzept des Fortschritts an den mittelalterlichen Diskussionen um die Erneuerung der Kirche (Georgi Kapriev, Sofia). Die von Wismann postulierte pragmatische Dimension der Koselleckschen Begriffsarbeit hob der Rumäne Victor Neumann (Temesvar) in seinem anregenden Vergleich der Ansätze von Fernand Braudel und Koselleck hervor, um zu zeigen, wie dieser die Formalisierung seiner Herangehensweise so weit treibe bis sie objektivierte Bedingungen für das Verstehen liefere und damit Geschichtsschreibung ermögliche, ohne die Einzigartigkeit der Ereignisse zu bagatellisieren. Hier fand ein anderer Rumäne, der kürzlich verstorbene Linguist Eugen Coseriu, Kosellecks höchstes Lob, da dessen Sprachverständnis ein aristotelisches gewesen sei gegenüber der analytischen angelsächsischen Tradition und daher Diachronie und Synchronie wirklich ernst nehme.

Seinen Glauben an die reale Geschichte lässt sich Koselleck nicht durch Hayden Whites "erkenntnistheoretischen Kurzschluss, alles sei Metapher", noch durch die Aporien der Wissensstruktur der neuen Medien, in denen Ereignis und Information darüber koinzidieren, noch das aporetische Verhältnis von Geschichte und Sprache nehmen. Vielmehr hat sich auf dieser erhellenden Tagung seine Begriffs-und Theoriebildung als fundamentale Ermöglichung der intellektuellen Bedingungen von Historiographie in Zeiten eines vielfach postulierten Verschwindens der Realität profiliert.

Markus Bauer


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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Französisch, Deutsch
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