Neuland. Migration mitteleuropäischer Juden 1850-1920

Neuland. Migration mitteleuropäischer Juden 1850-1920

Organisatoren
Martha Keil; Peter Rauscher; Barbara Staudinger; Institut für Geschichte der Juden in Österreich; Institut für Geschichte der Universität Wien; Zentrum für jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
01.07.2007 - 04.07.2007
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Von
Martha Keil, Institut für Geschichte der Juden in Österreich

Dass das Thema Migration von allgemeinem Interesse und hoher Aktualität ist, zeigte die hohe Besucherzahl der Tagung von durchschnittlich 100 ZuhörerInnen pro Vortrag, die sich aus WissenschaftlerInnen, Studierenden und einem interessierten Publikum zusammensetzte, hat doch so gut wie jede Wiener Familie einen Migrationshintergrund und sind auch fast alle ReferentInnen "Bildungs-" und "BerufsmigrantInnen". Begleitet wurde die Veranstaltung durch den ORF, der im Radioprogramm Ö1 der Sommerakademie am 11. Juli in der Reihe „Dimensionen – Die Welt der Wissenschaft“ einen halbstündigen Bericht widmete. Inhaltlich hatte die Tagung, die ganz bewusst jüdische Geschichte in einem breiten methodischen wie thematischen Kontext betrachten wollte, folgende Schwerpunkte:

1. Allgemeine Thematik
Josef Ehmer (Wien) wies in seinem einführenden Vortrag darauf hin, dass „alle Menschen wandern“, „Migration die Menschheit selbst“ ist und Juden und Jüdinnen bei diesem Phänomen keine Sonderstellung einnehmen. Tobias Brinkmann (Southhampton) stellte die Frage nach dem Besonderen der jüdischen Auswanderung und nahm die MigrantInnen als Subjekte in den Fokus. Er mahnte zur Vorsicht bei den Methoden: Minderheiten – in diesem Fall jüdische – mit „Gesamtbevölkerungen“ zu vergleichen, führe immer zu verzerrten Ergebnissen. Für Vergleiche müssten daher immer quantitativ ähnliche Gruppen herangezogen werden, die etwa im selben Verhältnis zur Gesamtbevölkerungszahl stehen. Jüdische Geschichte ist, wie bei allen Forschungsthemen, auch hier in die allgemeine Geschichte einzubetten. Innerhalb der großen Migrationsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts war die jüdische nur eine von mehreren mobilen Bevölkerungsgruppen.

2. Mythen der Migrationsgeschichte
Der „wandernde Jude“ ist also ein Mythos, weitere Mythen kamen im Lauf der Tagung zur Sprache: Alfred Bodenheimer (Heidelberg) untersuchte den „Ostjuden“, dem Alexander Döblin bei seiner Reise nach Polen in stereotyper Weise begegnete, Klaus Davidovitz (Wien) sprach über die verzerrte Wiedergabe des Chassidismus bei Martin Buber. Ein weiterer Mythos ist die angeblich stetige und hohe Migration von Juden nach Erez Israel, was Annemarie Steidl (Wien) mit konkreten Zahlen widerlegen konnte. Bis 1890 betrug sie nur 3 Prozent der jüdischen Auswanderung, gegenüber 85 Prozent in die USA. Auch das bisher als hauptmaßgeblich dargestellte Auswanderungsmotiv Pogrom ist nicht haltbar, eine ebenso große Rolle spielten neben der ökonomischen Situation die Toleranzpatente und Gesetze zur freien Niederlassung und die Anbindung des Heimatortes an die Eisenbahn. Migranten gründeten auch nicht immer eine dauerhafte Existenz; eine Rückkehr konnte, etwa bei Ortswechsel wegen Ausbildung oder Saisonarbeit, von Anfang an geplant gewesen sein, sie konnte aber auch das Scheitern des Erfolgstraums bedeuten. Dass der größte Teil der MigrantInnen mittellos und ungebildet war, entspricht ebenfalls nicht der Realität, doch sind die statistischen Auswertungen der amerikanischen Einwandererlisten, welche keine religiöse, sondern nur eine sprachliche Kategorie für Juden und Jüdinnen enthielten, mit größter Vorsicht heranzuziehen.

3. Unterschiedliche Methoden und Zugänge
Das Thema wurde vorwiegend in großen "Bewegungen" untersucht, von Josef Ehmer und Annemarie Steidl wie bereits erwähnt, oder unter dem Aspekt politischer Bewegungen und Aktivitäten von Markus Kirchhoff (Leipzig), der die Palästinamigration zwischen 1880 und 1920 anhand diplomatischer Verhandlungen russischer und englischer Politiker darstellte. Mehrere Vortragende behandelten auch kleinräumigere Wanderungsbewegungen, also Binnenmigration, wie Christoph Lind (St. Pölten) zu Österreich, oder Marsha Rozenblit (Maryland) zum Zuzug ungarischer und mährischer Juden nach Wien. Mit der speziellen Situation der Menschen auf der Reise befassten sich Tobias Brinkmann und Eli bar Chen (München), der in einer philosophischen Einleitung die Frage stellte, auf welche Weise die Schaffung eines „Orts des Vergessens“, eines „lieu d’obliance“ funktioniert, und vorschlug, das „Auswandererschiff“ als „lieu de mémoire“ zu sehen und basierend auf Briefen und anderen Selbstzeugnissen zu untersuchen. Dem Auswandererschiff als diffusen Ort eines „Schon-weg“ aber „Noch-nicht-dort“, in dem alte Gewohnheiten fortgesetzt werden und die neuen Lebensumstände noch fern sind, widmete sich auch Joachim Schlör (Southhampton).

Mikrohistorische Untersuchungen bringen zuweilen vernachlässigte Aspekte zu Tage, wie Marsha Rozenblits Untersuchung der Motivation von Zuwanderern nach Wien und deren speziellen Identität als „Juden des Kaisers“. Michael Brenner (München) irritierte das Klischee Berlins als Stadt der „wilden Zwanzigerjahre“ und des politischen Radikalismus und stellte es als Zentrum der jüdischen Gelehrsamkeit und Orthodoxie vor, welches durch jüdische Gelehrte aus dem Osten begründet und gefestigt wurde. Ortszentriert arbeitete auch Yvonne Kleinmann (Jerusalem) und erklärte die Nicht- oder nur geringe Zuwanderung von Juden nach St. Petersburg und Moskau mit den politischen Restriktionen. Sie zeigte aber auch – zu optimistisch, wie in der Diskussion angemerkt wurde – die Möglichkeiten für Jüdinnen und Juden an russischen Universitäten und im Wirtschaftswesen auf.

4. Personengeschichtliche Zugänge
Einige Vorträge waren auf Einzelpersonen fokussiert und machten an diesen exemplarisch Aspekte des Themas fest. Barbara Staudinger (Wien) stellte mit der Persönlichkeit des Mäzens James Loeb eine mehrfache Identität als Deutscher und Amerikaner sowie als leidenschaftlicher Kunstsammler vor, der die politische Realität in seinem geliebten München gefährlich lange verleugnete. Ingo Haar (Berlin/Wien) untersuchte an dem Berliner Juristen Hermann Makower und dem Wiener Rabbiner und Historiker Josef Samuel Bloch die politische Partizipation von Juden im Deutschen Reich und in der cisleithanischen Hälfte des Habsburgerreichs, wobei sich die politischen Möglichkeiten für österreichische Juden günstiger als für deutsche erwiesen. Bei allen dreien setzte jedoch der Antisemitismus der erfolgreichen Integration starke Grenzen. Markus Kirchhoff verband anhand der diplomatischen Verhandlungen zwischen Arthur James Balfour, Lucien Wolf und Chaim Weizmann zur Gründung eines jüdischen Staates persönliche mit politischer Geschichte.

5. Innerjüdische Aspekte und Kulturtransfer
Auf Briefen und Lebenserinnerungen basierend, beschrieb Joachim Schlör die Lebenswirklichkeiten der Reisenden und die Schwierigkeiten der Anpassung im „Gelobten Land“, wobei er ein liebevolles Bild der „Jeckes“, der deutschen Juden mit ihren Krawatten trotz großer Hitze und den „typischen Tugenden“ wie Pünktlichkeit und Organisation zeichnete. Er brachte auch den Aspekt der Armut und des Scheiterns ein, der in Familiengeschichten, die oft Erfolgsnarrative vermitteln, meist unterschlagen wird. Tobias Brinkmann schilderte eindrucksvoll die demütigenden Erfahrungen der Auswanderer aus dem Osten im Durchgangslager in Berlin-Ruhleben und in den Quarantänestationen der Einwandererhäfen. Seine Beschreibung von Szenen in überfüllten Viehwaggons weckten Assoziationen von späteren Gräueln. Eli Bar Chen beschrieb die Rolle der jüdischen Hilfsorganisationen, welche in einem internationalen Netzwerk die Weiterreise der oft mittellosen jüdischen Ostflüchtlinge vorantrieben und deren Niederlassung in Deutschland verhinderten. Dabei betonte er auch das massive ökonomische Interesse der Schifffahrtslinien.

Im Zusammenhang mit innerjüdischen Phänomenen trat in einigen Vorträgen der Kulturtransfer in den Blick. Michael Brenner beschrieb die jiddische Kulturszene der Vor- und Zwischenkriegszeit in Berlin, Barbara Staudinger umgekehrt die bayerische Trachten- und Brauchtumspflege von Münchner Juden.

In der regen Schlussdiskussion wurde auch die Lage der Daheimgebliebenen thematisiert, etwa der Alten, Frauen und Kinder, deren Familienerhalter oft jahrelang abwesend waren. Aktuelle Vergleiche sprangen bei vielen Aspekten ins Auge und machten, wie Peter Rauscher in seiner Einführung darstellte, die zeitlose Relevanz des Themas aus.

Die Tagung machte einmal mehr klar, welch unterschiedliche Themenbereiche und Methoden die Migrationsforschung allgemein und diejenige zur jüdischen Migration im Speziellen umfassen kann. Jüdische Migration ist, wie in den Mehrheitsgesellschaften, nicht auf eine soziale Schicht, eine besondere Motivation, ein bevorzugtes Ziel und einen häufigen Verlauf zu beschränken. Einige Vorträge lenkten den Fokus auf bisher kaum erforschte „Räume“: die Transportmittel Bahn und Schiff, die Durchgangslager und Quarantänestationen und die ökonomischen und politischen Anlaufstellen am neuen Heimatort mit den Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg und zur politischen Partizipation. Diese Schwerpunkte sind auf die Heranziehung autobiographischer Quellen, vor allem der noch kaum erfassten Briefe, angewiesen. Am anderen Ende der Skala stehen die statistischen Auswertungen der Aus- und Einwandererlisten. Quantitative Methoden in Verbindung mit Selbstzeugnissen lassen für das Forschungsfeld Migration noch spannende Ergebnisse erhoffen.

Die Vorträge werden im Herbst 2008 in der Zeitschrift „Aschkenas“ publiziert.

www.injoest.ac.at
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