Die Vielfalt Europas: Identitäten und Räume

Die Vielfalt Europas: Identitäten und Räume

Organisatoren
Geisteswissenschaftliches Zentrum Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO)
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.06.2007 - 09.06.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Peter Krüger, Philipps-Universität Marburg E-Mai:

In den ersten Dutzend Jahren seit seiner Gründung hat sich das Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) einen Namen gemacht mit Forschungen seiner Mitarbeiter und mit Tagungen, die auf möglichst breiter Basis kultur- und geistesgeschichtlichen Institutionen und Phänomenen Europas nachgehen, und zwar bis in ihre Wirkungen auf die realhistorischen Abläufe. Von dieser Tragweite ist auch die hier anzuzeigende Tagung, die das GWZO – anlässlich der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und im Rahmen des "Jahres der Geisteswissenschaften" – im Auftrag des Bundesforschungsministeriums veranstaltet hat.

„Der Reichtum Europas liegt [...] in seiner Vielfalt“ – lautet die Begründung für diese Tagung durch ihren Leiter, den scheidenden Direktor des GWZO, Professor Winfried Eberhard. Weil der Vielfalt eine so hohe Bedeutung zuerkannt wird, ist es nur folgerichtig, dafür einzutreten, ihre Wahrung dementsprechend fest unter den richtungweisenden und verpflichtenden Zielen der Europäischen Union zu verankern. Um so wichtiger ist es deswegen auch, sich eingehend mit Umfang, Tragweite und Gehalt dessen zu befassen, was man mit der Vielfalt Europas bezeichnet und wo ihre Grenzen liegen.

Mit dem Untertitel „Identitäten und Räume“ kommen schwierige Fragen eines die Vielfalt konkretisierenden Selbstverständnisses und der Zugehörigkeit des Einzelnen zu unterschiedlichen Auffassungen, Glaubensbereichen, Ordnungen und Gruppen ins Spiel. Sie schaffen durch ihre ebenso unterschiedlichen Identifikationsangebote – oder auch Identifikationszwänge – wichtige Voraussetzungen für die Vielfalt. In diesem umfassenden kulturellen Rahmen werden auch Orte, Räume, Regionen und Landschaften vielfältig geprägt oder prägen selber Menschen, ihre Identität und ihre Organisationsformen durch natürliche Gegebenheiten. „Räume“ sind daher selbst Bestandteile von Identität. Identität und Identitätsbildung sind gerade im Bezug auf Europa und seine Bindungswirkung schwierige Begriffe, es sei denn, man entleert sie völlig, indem man alles darunter versammelt, jede Form des Akzeptierens, des Interesses, der Bindung etc., bis alles irgendwie identifikatorisch gedeutet werden kann, oft weil man zu bequem ist, präzisere Bezeichnungen zu wählen. Das geht bis hin zur „Verteidigungsidentität“. Auch die Konzentrierung aufs Kulturelle hilft nicht weiter. Denn dort besteht die gleiche Gefahr der Überdehnung – alles wird auf beliebige Weise kulturell, und das führt zu so schönen Formulierungen wie der „Sicherheits- und Informationskultur“ in einem Kernkraftwerk. Mit klaren begrifflichen Grenzen hingegen sind Vielfalt und Identitätsbildung durchaus erkenntnisfördernd in Beziehung zu setzen, und ein solches Vorgehen vertieft unser Wissen über die Komplexität europäischer Gemeinsamkeiten. Es ging deswegen in der Tagung darum, dies genauer zu ergründen; und zwar sei, wie Winfried Eberhard in seiner Eröffnungsansprache noch einmal betonte, dabei von der kulturellen Vielfalt Europas als Merkmal sozialer Zugehörigkeit und Bindungen auszugehen.

Aufgabe der Tagung war infolgedessen sowohl eine möglichst breit gespannte Bestandsaufnahme von Forschungen über die Europa kennzeichnende Vielfalt aus unterschiedlichen Wissenschaftsperspektiven und den darin angewandten Untersuchungsmethoden, als auch eine kritische Überprüfung der europäischen Bedeutung von Vielfalt in den untersuchten Bereichen und der daraus für Europa zu ziehenden Konsequenzen. Eine derartige Überprüfung kann zur Klärung beitragen, an welchem Punkt wir auf einzelnen Gebieten mit der europäischen Einigung angelangt sind. Daraufhin lässt sich besser abschätzen, wohin die Reise gehen mag und was dabei zu beachten wäre, damit man der Vielfalt und Vielgestaltigkeit – um das Moment des Gestalterischen stärker zu betonen – ebenso wie den Gemeinschaftserfordernissen gerecht wird. Das heißt, eine kritische Überprüfung soll auch die Gefahren aufspüren, die bei einer Übertreibung des Prinzips, Vielfalt zu wahren und zu fördern, auftreten können, etwa in ihrem politischen Missbrauch zu nationalen Sonderungen oder gar Rückbildungen in der EU. Jedenfalls muss eine prinzipielle Voraussetzung gültig sein: „Vielfalt“ ist schon ihrer begriffsgeschichtlichen Entwicklung nach stets auf eine übergreifende Einheit oder Gemeinsamkeit bezogen, also in unserem Fall auf die auf bestimmten Prinzipien und Einrichtungen beruhende Europäische Gemeinschaft. Es geht um mehr als eine bloße „Vielzahl“ von kulturellen Phänomenen.

Die Breite der behandelten Thematik zeigte sich schon an den nicht weniger als 12 Sektionen mit jeweils vier Referaten. Jeder Sektion stand – auch zum Zweck ausführlicher Diskussion – am 7. und 8. Juni je ein halber Tag zur Verfügung, so dass immer drei Sektionen gleichzeitig tagten, ehe in der Schlussveranstaltung am 9. Juni die Ergebnisse zusammengetragen und erörtert werden konnten. Damit war erreicht, dass auch häufig vernachlässigte Themen zur Sprache kamen. Die Teilnehmer waren in der Lage, sich mit Hilfe von Zusammenfassungen der Referate einen gewissen Überblick über die gesamte Tagung zu verschaffen. Teilgenommen haben bekannte Wissenschaftler aus dem In- und Ausland sowie aufstrebende jüngere Talente, neben Historikern Vertreter unterschiedlicher Bereiche der Sozial- und Kulturwissenschaften – ein breites Spektrum der Wissenschaft konnte sich entfalten.

In den 12 Sektionen wurden folgende Themenbereiche abgehandelt:1
- Nationale und regionale Identitäten: Konkurrenz und Integration
- Konstituierung und Relevanz europäischer Kulturlandschaften
- Europas ökonomische Vernetzung und Verräumlichung
- Konfessionelle und religiöse Identitäten im Wandel
- Europa als Erfahrungs- und Kommunikationsraum
- Soziale Muster der regionalen und nationalen Identitätsbildung: Konsum und Tourismus
- Europäische Erinnerungskulturen: Dialog und Konflikt
- Transnationalisierung in der europäischen Geschichte und Kultur
- Lesen, Lernen und Forschen im Spannungsfeld von nationalem Bildungskanon und transnationaler Wissensgesellschaft
- Europäisierende Konflikte
- Europa und die Anderen: Der Blick von außen
- Die Künste als universelle Sprachen oder Nationalkultur

In der Schlussdiskussion kam es zu einer Erörterung der Ergebnisse der einzelnen Sektionen und zu einer kritischen Bilanz, die als Basis für künftige Untersuchungen dienen könnte. Darüber hinaus wurden die steigenden Sachprobleme und Herausforderungen für die europäische Einigung von innen und außen betont, die Rolle der USA und der außereuropäischen Welt hervorgehoben und zu wenig Beweglichkeit und Ausgewogenheit der europäischen Politik festgestellt. Das Europäische sei nichts Unwandelbares. Allerdings blieb offen, was das Europäische zur Zeit sei oder darstelle.

Generell durchzog die Sektionen eine mehr oder weniger ausgesprochene Grundthematik: der Prozess der Weiterentwicklung und Anpassungsfähigkeit oder der Aufweichung und Überwindung nationaler Phänomene, sowohl in den verschiedenen Kulturbereichen und Identitäten als auch in der historischen Entstehung oder Konstituierung von Räumen – von der historisch gewachsenen Kulturlandschaft, behandelt in einer eigenen Sektion mit weitem Rückgriff in Geschichte und Vorzeit und Aussagen auch zur kulturlandschaftlichen Vielgestaltigkeit, bis zu modernen Kulturräumen und ihrer Anziehungs- und Ausstrahlungskraft. Der Trend zum Transnationalen in allen Reichweiten ist in vollem Schwung und verschwimmt manchmal schon in einem eigenartigen Schwebezustand des Transeuropäischen und Globalen, wo von Europa kaum mehr die Rede ist; doch vermochte eine spezielle, stärker methodisch gehaltene Sektion das Instrumentarium transnationaler Forschung klärend und differenzierend darzulegen. Dieser Ansatz entwickelte auch in zwei weiteren Sektionen bemerkenswerte Perspektiven und Auseinandersetzungen in Bildung und Wissenschaft und in den Künsten. In einem gewissen Zusammenhang mit transnationaler Forschung standen auch die aufschlussreichen Sektionen über Europa als Erfahrungs- und Kommunikationsraum sowie über Konsum und Tourismus als soziale Muster der Identitätsbildung. Hervorzuheben ist schließlich, dass sich eine Sektion dem unentbehrlichen Thema des Blicks von außen auf Europa und der Herausforderung, die Europa für die übrige Welt darstellt, gewidmet hat. Untersucht mit Hilfe der Methoden zur Erforschung kulturellen Wandels, führte eine Reihe von Beiträgen aber auch vor, wie über den einzelnen Fall hinausgehende Ergebnisse in Analysen über einzelne Länder aus deren unterschiedlichem Umgang mit ähnlichen europäischen Entwicklungen gewonnen werden können, und zwar in zwei Sektionen über tiefgreifende Veränderungen auf dem Feld der Erinnerungskulturen sowie auf dem der Konfessionen im Verhältnis zur Religiosität (grundsätzliche Frage: Reicht der Begriff „Vielfalt Europas“ auch für Religion und Konfession aus?).

Bleiben noch zwei Sektionen über sozusagen klassische Integrationsthemen im New Look: einerseits die Bedeutung der Wirtschaft für die europäische Integration auf Grund der Frage nach der ökonomischen Vernetzung und Verräumlichung Europas, nach den strukturellen Stärken und Schwierigkeiten europäischer Einigung, nach den Schwächen der EU-Politik angesichts der neuen Aufgaben und Konfliktfelder sowie nach der Bedeutung grundlegender Prinzipien der Integration; andererseits der Versuch, in einer vergleichenden Analyse über die einzelnen Epochen der Neuzeit jenen Anstößen zu einer neuen Ordnung Europas nachzugehen, die durch die großen „europäisierenden Konflikte“ ausgelöst wurden, jedoch generell für Bestrebungen standen, kooperative und schließlich integrative Strukturen unter den europäischen Staaten durchzusetzen, wobei die Entwicklung des Völkerrechts und die Entstehung eines europäischen Rechtsraums eine wesentliche Rolle spielen.

An einer Reihe von Beiträgen wurde eine latente Gefahr für das Tagungsthema sichtbar: Sie hätten so auch in einem völlig anderen Zusammenhang präsentiert werden können. Das ist im einzelnen nicht zu beanstanden – zumal bei der Breite der Gesamtthematik; man sollte sich dessen nur bewusst bleiben. Denn es handelte sich oft eher um die „Vielfalt in Europa“ als um die „Vielfalt Europas“. Europa verschwindet zuweilen unter all den Unterschieden und nur gelegentlich tauchen die Gemeinsamkeiten auf, die dann teilweise auch noch – im jeweiligen Fall durchaus zu Recht – mit globalen Tendenzen zusammengebracht werden. Zu kurz kamen auf der Tagung Funktion und Wandel der modernen Stadt samt den Verschiebungen von Zentren und Peripherien im Zuge der europäischen Integration sowie überhaupt Beiträge der Kulturgeographen. Aber das gehört zu den wohl unvermeidlichen Lücken selbst bei einer so umfangreichen und so ergiebigen Tagung. Die Beiträge werden in einer zweisprachigen Ausgabe (Deutsch/Englisch) veröffentlicht werden.

Eine abschließende Überlegung könnte die hier so erfolgreichen Neuansätze und die Breite in der Behandlung von Problemen und Entwicklungen europäischer Einigung fortsetzen und zu einer weiteren Tagung überleiten: Wirtschaftliche und politische Integration und das Recht haben den Rahmen geschaffen, innerhalb dessen die Frage nach kultureller Vielfalt und Eigentümlichkeit Europas Rang und Antrieb gewonnen hat. Künftig sollte man sich stärker darum bemühen, in einem weit gefassten, aber gut zu begründenden Verständnis von Kultur Politik, Wirtschaft und Recht als maßgebende, ja für die Zukunft entscheidende Bestandteile europäischer Kultur und eben auch der persönlichen Identität sowie der Identität von Gruppen zu erörtern (wie steht es z.B. um die Identitätsbildung und kulturelle Diversifizierung des wachsenden Heeres von Beamten, Angestellten, Juristen und Diplomaten, Fachleuten, Parlamentariern und Lobbyisten etc. in der EU?). Insgesamt wäre es im übrigen für das vereinigte Europa und seine kulturelle Entfaltung dringend, sich nachdrücklich zum einen mit der Bedeutung der Freiheit – in allen Bereichen – als Basis europäischer Einigung und zum anderen mit dem tiefgreifenden, in seinen Folgen wahrscheinlich einem Umbruch nahekommenden Wandlungsprozess zu befassen, der die Einigung Europas allein schon durch ihre Ergebnisse von einer Angelegenheit der Eliten zu einer Angelegenheit aller macht – oder scheitert.

Anmerkung:
1 Das detaillierte Programm sowie die Abstracts der einzelnen Referate sind auf der Konferenzhomepage http://www.gwzo-euroconference.de einsehbar.

Kontakt

Geisteswissenschaftliches Zentrum Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas
GWZO-Euroconference
Luppenstraße 1b
04177 Leipzig

+49 341 97 35 591
gwzoeuro@uni-leipzig.de

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