Russische Deutschlandbilder und deutsche Rußlandbilder im 20. und 21. Jahrhundert

Russische Deutschlandbilder und deutsche Rußlandbilder im 20. und 21. Jahrhundert

Organisatoren
Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropastudien an der KU Eichstätt-Ingolstadt; Lehrstuhl für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte (Prof. Dr. Leonid Luks) in Zusammenarbeit mit Christian Holtz - Prof. der Akademie für Fragen der Rechtsordnung, Verteidigung und Sicherheit der Russ. Föderation - Beauftragter in Bayern, Vorsitzender der Internationalen Cooperation für Wirtschaft und Kultur, Denkendorf
Ort
Eichstätt
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.07.2007 - 14.07.2007
Von
John Andreas Fuchs, Zentralinstitut für Mittel- und Osteuropastudien (ZIMOS), Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Ausgehend von den Gründen für die deutsch-russische Entfremdung versuchte die internationale Konferenz "Russische Deutschlandbilder und deutsche Russlandbilder im 20. und 21. Jahrhundert", die vom 12. bis 14. Juli an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt stattfand, Brüche und Kontinuitäten im ambivalenten deutsch-russischen Verhältnis aufzuzeigen und zu analysieren. Die Veranstaltungsleiter, Leonid Luks (ZIMOS, KU) und Christian Holtz (Beauftragter der Akademie für Fragen der Rechtsordnung, Verteidigung und Sicherheit der Russischen Föderation in Bayern, Denkendorf), sahen die Tagung als Chance für die Intensivierung des deutsch-russischen Dialogs und für die Infragestellung mancher Denkstereotypen.

Nach einer kurzen Einleitung und der Begrüßung durch die Veranstaltungsleitung eröffnete Alexei Rybakov (KU) die Konferenz. Sein Vortrag "Die deutsche Russophilie im frühen 20. Jahrhundert" zeigte den interdisziplinären Charakter der Tagung, da sich Rybakov dem Thema von literaturwissenschaftlicher Seite näherte, und die deutsche Russophilie an Thomas Manns und Rainer Maria Rilkes Verehrung für die "heilige russische Literatur" darstellte. Mann und Rilke seien beide im "bürgerlich-liberalen und fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert" geboren und mussten sich "sehr schnell als eine Generation der Krise verstehen lernen". Thomas Mann könnte das Motto für den Vortrag geliefert haben, als er in seiner "Russischen Anthologie" schrieb: "In der Tat sind es zwei Erlebnisse, welche den Sohn des neunzehnten Jahrhunderts, der bürgerlichen Epoche, zur neuen Zeit in Beziehung setzen, ihn vor Erstarrung und geistigem Sterben schützen und ihm Brücken in die Zukunft bauen, nämlich das Erlebnis Nietzsches und das des russischen Wesens. Diese beiden." Im ausgehenden 19. Jahrhundert galt Russland, wo man das "dritte Testament" erwartete und das "'silberne Zeitalter', die Epoche der russischen religiösen, philosophischen und ästhetischen Renaissance" herrschte, als Land der Zukunft, während Westeuropa als etwas Vergangenes, oder Vergehendes gesehen wurde. Die verbindende Brücke war die christliche Religion und auch Russland war "irgendwie Europa, ein anderes Europa eben", so Rybakov. Begeistert von Merežkovskij und Nietzsche strebte Thomas Mann zu einer Synthese "von Aufklärung und Glauben, von Freiheit und Gebundenheit, von Geist und Fleisch, 'Gott' und 'Welt'", die er selbst als "Drittes Reich" bezeichnete. Die Vorahnungen einer "neuen Epoche des Geistes" sollten sich allerdings trügerisch und als Vorahnung der sich nähernden Katastrophe erweisen, wie Rybakov ausführte. Die große, alle Gegensätze vereinigende Synthese hätte sich als die Zwangseinigkeit totalitärer Systeme und das "Dritte Reich" Thomas Manns als das "real existierende" "Dritte Reich" des Nationalsozialismus entpuppt.

Trotz seiner eingangs geäußerten Skepsis, was für ein Deutschlandbild man von einem Mann erwarten könne, der all die Schrecken und Gräueltaten des Dritten Reiches als Kriegsberichterstatter bei der Roten Armee aus erster Hand erlebt hatte, konnte Jürgen Zarusky (Institut für Zeitgeschichte, München) in seinem Vortrag "Das Deutschlandbild Vasilij Grossmans" einen Schriftsteller vorstellen, der sich durch eine "große Tiefenschärfe" bei seiner Darstellung der Deutschen auszeichnete. Diese zeige sich unter anderem in der Eingangsszene seines Romans "Leben und Schicksal": Dort tauchen die Opfer nur als anonyme Masse auf, erzählt wird aus der Perspektive eines Lokführers und dessen Gehilfen, die an ihre menschliche "Fracht" nur insofern denken, als sie ihnen Umstände bereitet. Hier werden keine indoktrinierten faschistischen Täter, sondern Unbeteiligte gezeichnet, deren scheinbare Biederkeit in Wahrheit die extreme Teilnahmslosigkeit von Mordkomplizen ist. Zarusky betont Grossmans klare Darstellung eines Phänomens der Komplizenschaft, ohne das Massenverbrechen undenkbar wären. In "Leben und Schicksal" schildere Grossman nationalsozialistische und stalinistische Verfolgung gleichermaßen schonungslos und stelle direkte Vergleiche der beiden Regime an. Dabei beweise er aber seine historisch-analytischen Fähigkeiten, da sich seine Vergleiche nie auf die vereinfachende Formel "rot=braun" herab begäben. Es sei zudem bemerkenswert, dass in Grossmans Werken Deutsche nicht ausschließlich als faschistische Mörder und Mordkomplizen aufträten. Zarusky schloss mit der Frage, ob es für Grossman Wege der Verständigung zwischen Deutschen und Russen gegeben habe. Die Antwortet findet er in einer Szene aus "Leben und Schicksal", in der eine Russin anstatt ihrem Zorn gegen deutsche Gefangene freien Lauf zu lassen dem deutschen Leutnant ein Stück Brot gibt. Trotz aller Gräueltaten und der Entmenschlichung des jeweiligen Gegners, habe eine spontane Menschlichkeit überlebt.

Der zweite Veranstaltungstag wurde von Markus Edlinger (KU) eingeleitet. Sein Vortrag "Das Russlandbild der deutschen Militärführung im Ersten Weltkrieg" konzentrierte sich zuerst auf die allgemeinen Kriegsziele, um dann auf die Pläne der Militärführung für einen Separatfrieden mit Russland einzugehen, der aufgrund der Lage an der Westfront dringend benötigt wurde. Eine detailliertere Darstellung der deutschen Russlandbilder im Jahr 1917 gab der Vortrag "Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf die russische Revolution von 1917" von John Andreas Fuchs (KU). Ausgehend von Jürgen Habermas Definition von "Öffentlichkeit" wurden hier zwei Bereiche der Öffentlichkeit betrachtet: die der Tageszeitungen und die der Parlamentsdebatten. Die Reaktionen auf die Februar- und die Oktoberrevolution spiegelten jeweils die einzelnen Bilder der verschiedenen politischen Parteien und Interessengruppen wider. Verbindend sei einzig die Hoffnung auf Frieden gewesen, wobei sich auch hier Unterschiede zeigten, so lehnte die SPD einen Separatfrieden konsequent ab. Besonders deutlich werde das Festhalten an vorgefertigten Bildern und Ideologien an Äußerungen der USPD und Rosa Luxemburgs, nach deren Meinung "der Sieg überall dem Bolschewismus gehöre".

Vladimir Kantor (Universität Moskau) ermöglichte Einblicke in das "Deutschlandbild Fedor Stepuns". Stepun habe in den beiden Revolutionen von 1917 Russland und Deutschland eng verbunden gesehen. Diese Ansicht teilte er laut Kantor mit einem Großteil der russischen Exil-Intelligenz, die dann auch wiederholt auf Parallelen zwischen der NS-Diktatur und dem russischen Bolschewismus hingewiesen habe. Stepuns Erfahrungen halfen ihm zu sehen, in welch gefährliche Richtung Deutschland driftete; seine ostpreußische Herkunft habe ihm eine "doppelte Sichtweise" ermöglicht und auch er selbst habe stets seine Zugehörigkeit zu den zwei verschiedenen Welten, Deutschland und Russland, betont. Leider habe Europa allerdings nichts aus den russischen Erfahrungen gelernt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialimus allerdings sei Deutschland bereit gewesen, seinen "großen Sohn" schätzen zu lernen.

Aleksandr Vatlins (Universität Moskau) Vortrag über "Das Russlandbild der deutschen Emigranten in der stalinistischen Sowjetunion" beleuchtete anschließend eine Gruppe, die im "Arbeiter und Bauern Paradies" Zuflucht suchte. Die Emigranten hätten zwar kein einheitliches Bild von Stalins Sowjetunion gehabt, allerdings seien sie stark von Propaganda und Indoktrination geprägt gewesen. Das Bild, das man vor der Emigration hatte, sei ein von oben verordnetes Bild gewesen, so Vatlin: Die Linksintellektuellen residierten im "goldenen Käfig", dem Hotel Lux, und kamen kaum mit dem "real existierenden Arbeiter und Bauern Paradies" in Kontakt. Den Facharbeitern versprach man die Erlösung aus der Weltwirtschaftskrise; die Sowjetunion könne nur besser sein, als alles was der kapitalistische Westen zu bieten habe. Interessant sei zu beobachten, was aus dieser Utopie wurde, als sie auf die Realität traf: Anstatt in Palästen wohnten die Arbeiter dicht gedrängt in kleinen Wohnungen. Die hygienischen Zustände und die Lebensmittelversorgung waren verheerend. So seien nach und nach alte Stereotypen wieder an die Oberfläche gekommen. Der Glaube der deutschen Emigranten an das "Arbeiter und Bauern Paradies" sei indes so stark gewesen, dass sie trotz der offensichtlichen Mängel, über die sie sich bei den Behörden beschwerten, daran festhielten und das positive Bild weiter nach außen vertraten. Russland, oder die Sowjetunion, blieb somit die Projektionsfläche auf der man seine Sehnsüchte und Wünsche abbildete. Dennoch sei die "versuchte Utopie letzten Endes Utopie geblieben".

Leonid Luks befasste sich in seinem Vortrag "Hitler und das nationalsozialistische Regime aus der Sicht Stalins und der Stalinisten" mit den fatalen Fehleinschätzungen des stalinistischen Regimes bezüglich des Nationalsozialismus und der deutschen Sozialdemokratie. Die Deutschlandpolitik Stalins sei so selbstzerstörerisch gewesen, dass sie der Forschung bis heute Rätsel aufgäbe. Bis zur Machtübernahme durch die NSDAP habe die Komintern ihren Kampf gegen den Faschismus in erster Linie als Kampf gegen die Sozialdemokratie gesehen. Die Isolation der KPD zeige das mangelende Interesse an der Gestaltung der deutschen Innenpolitik, ein Fehler, der sich nur damit erklären lasse, dass die Bolschewiki seit 1919 keine Gefahr im deutschen Nationalismus sahen. Selbst nach der Machtübernahme hätten die Stalinisten Hitler weiterhin unterschätzt und ihren nächsten Fehler begangen, nämlich ihn mit Mussolini zu vergleichen. Infolgedessen sei der Antisemitismus als die vermutlich bedeutendste ideologische Komponente des Nationalsozialismus, die ihm eine beispiellose Dynamik verlieh, zu wenig beachtet worden. Das abstrakte Bild einer fiktiven Endzeit, der Endkampf zwischen arischer und jüdischer Rasse musste unbedingt noch zu Hitlers Lebzeiten gelöst werden, konnten die Stalinisten nicht verstehen, so Luks. Sie seien deshalb bei ihrem Bild geblieben, Hitler verteidige den Kapitalismus. Erst seit dem deutsch-sowjetischen Krieg habe Stalin zwischen deutschen Nationalisten und den Nationalsozialisten, die er wegen ihrer Eroberungsfeldzüge nun als Imperialisten bezeichnete, unterschieden. Teil dieses "Flirts mit der deutschen Nationalidee" seien auch die Gründungen des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) und des Bundes Deutscher Offiziere (BDO) gewesen. Dieser "Flirt" habe nach der Zerschlagung des Dritten Reiches skurrile Nachwirkungen gehabt als Stalin 1947 darüber nachdachte, ehemalige Nationalsozialisten eine eigene Partei gründen zu lassen – die National-Demokratische Partei. Diese wurde gegen die ausdrücklichen Bedenken der SED-Führung schließlich auch gegründet.

Die andere Perspektive, "Das nationalsozialistische Russlandbild am Vorabend und zu Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges", wurde zusammen von Alexei Rybakov, Leonid Luks und Jürgen Zarusky in drei Kurzbeiträgen vorgestellt. Während Rybakov den Pluralismus des Russlandbildes anhand von Hanns Johsts Werk "Ruf des Reiches – Echo des Volkes" darstellte, konzentrierte sich Luks auf den Charakter des "Unternehmens Barbarossa" und die Enthumanisierung des Gegners, während Zarusky am Beispiel des KZ Dachau die Folgen des nationalsozialistischen Russlandbildes und der Entmenschlichung des Gegners verdeutlichte. Rybakov wies daraufhin, dass das klassische Russlandbild im Nationalsozialismus hinlänglich bekannt sei: Es genüge, solche Stichworte wie „Lebensraum“ und „Untermensch“ zu nennen, um dieses Bild gleich vor Augen zu führen. Gleichzeitig sei dieses Bild aber auch politisch bedingt gewesen und habe stets die jeweilige politische Konjunktur berücksichtigt. In keiner anderen Periode sei dieses Konjunkturelle deutlicher zum Vorschein gekommen als in der Periode der vorübergehenden Allianz zwischen den beiden Diktaturen. Hanns Johst unternahm zusammen mit Heinrich Himmler 1939 und 1940 zwei Reisen in das eroberte Polen, von denen er vor allem die zweite in seinem Buch "Ruf des Reiches – Echo des Volkes" beschreibt. Darin zeichne er die Russen, die späteren Untermenschen, als sympathische intelligente Leute. Mit erfrischender Ironie vermittelte Rybakov den geradezu kitschigen Stil Johsts bei der Beschreibung eines russischen Lokomotivführers. Im Gegensatz dazu werden Polen in dieser Reisebeschreibung gar nicht erwähnt. Polen ist entmenschlicht. Auf die Entmenschlichung ging anschließend Leonid Luks ein, der kurz Hitlers und Himmlers Pläne zur Dezimierung der slawischen Bevölkerung, dem rücksichtslosen Vorgehen gegen die Bolschewiki und die Vernichtung der Juden in den sowjetischen Gebieten darstellte. Die Frage wieso es seitens der Führung der Wehrmacht nur am Rande Widerstand gegen die von Hitler konzipierte neue Form des Kriegs gegeben hätte, beantwortet Luks in Anlehnung an den Militärhistoriker Manfred Messerschmidt damit, dass sich die konservative Eliten aus Dankbarkeit für die Abschaffung des verhassten Versailler-Systems zum Teil mit dem Nationalsozialismus identifiziert hätten. Die Folgen des verbrecherischen Vorgehens der NS-Diktatur skizzierte Jürgen Zarusky am Beispiel des Konzentrationslagers Dachau ab 1941. Dort hätten die "Russen" – gemeint waren damit Russen, Weißrussen und Ukrainer – nachdem die letzten jüdischen Häftlinge im Oktober 1942 nach Ausschwitz gebracht worden waren an unterster Stelle gestanden. Von den fast 7.000 Gefangenen die am Abend des 26. April 1945 vom KZ Dachau auf den Marsch nach Süden geschickt wurden, stellten die "Russen" mit 4.150 die bei weitem größte Gruppe. Für die Überlebenden sei das Leid noch keinesfalls vorbei gewesen, denn in der Sowjetunion wurden Kriegsgefangene nicht selten diskriminiert, in Arbeitskommandos gesteckt oder interniert.

Boris Chavkin (Akademie der Militärwissenschaften Moskau) stellte "Den deutschen Widerstand gegen Hitler aus Sicht der russischen Historiographie" dar. Für die sowjetische Historiographie war die Geschichte des deutschen Widerstandes gegen Hitler eine Art Sublimation, so Chavkin, da es in der Sowjetunion nicht möglich war, offen über den Widerstand gegen Stalin zu schreiben. Die Geschichte des deutschen Widerstandes sei für Russland ein besonders heikles Thema, weil sich in seiner Darstellung die akuten Probleme sowohl der deutschen als auch der russischen Vergangenheit widerspiegelten. Eines der neuesten Themen der russischen Geschichtsschreibung sei der "Rettungswiderstand". Ebenso hätte sich in der Aufarbeitung der Geschichte der "Roten Kapelle" nach der Archivrevolution einiges getan. Die seitdem zugänglichen Quellen in den russischen Archiven hätten mit etlichen Legenden aufgeräumt, unter anderem mit der vom Berliner Netz der "Roten Kapelle" als der größten sowjetischen Spionageorganisation in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges. Die moderne russische Historiographie des deutschen Widerstandes habe in den letzten 20 Jahren ihre Selbstisolierung und ihr ideologisches Engagement überwunden. Der neue Trend der modernen Geschichtsschreibung sei ihre Internationalisierung sowie die Entstehung der Tradition einer deutsch-russischen Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit. Dabei sei es das Ziel, das Andenken an die Menschen, die am Widerstand teilnahmen, für die Geschichte zu bewahren und die im antitotalitären Widerstand geborenen humanistischen Ideen hochzuhalten.

Andreas Hilgers (Universität Hamburg) Vortrag "Das Russlandbild der deutschen Kriegsheimkehrer", unterstrich nochmals die Tatsache wie schwer es sein kann, bestehende Bilder zu durchbrechen. Die Kriegsheimkehrer brachten kein neues Russlandbild mit, sondern ihr jeweiliges Bild von Russland – positiv oder negativ – hätte sich in der Regel verfestigt, so sein Fazit. Für heimgekehrte Soldaten habe die Gefangenschaft eine ungleich größere Rolle als der eigene aktive Part als Angreifer gespielt. Das erfahrene Leid durch z.B. Lebensmittelmangel in den Gefangenenlagern sei nicht als Nachlässigkeit, sondern als Absicht und Schikane gesehen worden. Dies hätte die alten indoktrinierten Stereotypen vom slawischen Untermenschen erhalten: Die Lagerverhältnisse dienten als Beweis für das mindere Slawentum und die kommunistische Misswirtschaft, so Hilger. Einige Gefangene trennten die Russen auch in "gute" Zivilisten und "böse" Soldaten, dies sei allerdings die Minderheit gewesen. Letztlich sei die frühere Prägung, verstärkt durch Leid, Kriegserfahrung sowie Gefangenschaft und teilweise begünstigt durch die Verdrängung des Erlebten, ausschlaggebend für das Russlandbild der Heimkehrer gewesen.

Der letzte Tag der Konferenz brachte zum Einstieg mit dem Vortrag "Deutschland und Russland aus kaukasischer Sicht" von Zaur Gasimov (KU) einen Perspektivenwechsel. Nach einer kurzen Einführung in die Geschichte und die aktuellen politischen Verhältnisse Georgiens, Armeniens und Aserbaidschans präsentierte Gasimov eine schlüssige Analyse der Beziehungen der südkaukasischen Länder zu Russland und Deutschland. Das Deutschlandbild basiere hauptsächlich auf aktuellen Wahrnehmungen, da alle drei Staaten an der Europäischen Nachbarschaftspolitik teilnähmen und Deutschland als eines der Schlüsselländer in der EU und der NATO betrachteten. Was die Beziehungen zu Russland angehe, habe die sowjetische Vergangenheit eine größere Bedeutung und sei oft der Grund für aktuelle Spannungen. Georgien habe durch seine starke Westorientierung die größten Probleme, Armenien, ohne Interesse an der NATO, die wenigsten. Das künftige Russlandbild Armeniens und Aserbaidschans hänge von der eventuellen Lösung des Berg-Karabach Konflikts ab, während Georgiens negatives Bild Russlands wohl stabil bleibe.

Bei den letzten beiden Vorträgen stand die Fremdwahrnehmung in den Medien der postsowjetischen Ära im Mittelpunkt. Wiebke Bachmann (KU) sprach über "Gorbatschow, Jelzin und Putin im Spiegel der deutschen Medien". Sie konnte eine zweimalige doppelte Sichtweise auf die Sowjetunion/Russland und ihre jeweiligen Präsidenten aufzeigen: Zum einen die Dualität Präsident/Staat, zum anderen die Dualität deutsche Presse/deutsche Politik. Während die deutschen Medien Gorbatschow ziemlich schnell losgelöst von der Sowjetunion in einem positiven Licht gesehen hätten, das sich bis 1987 zur regelrechten "Gorbi-Manie" ausgewachsen habe, sei das Bild Gorbatschows bei der Regierung Kohl zunächst noch negativ besetzt gewesen. Umgekehrt verhielten sich die Dinge mit Putin: Während die politischen Beziehungen bis 2005 sehr gut gewesen seien, hätten die deutsche Bevölkerung und die Presse ein äußerst negatives Russlandbild gezeichnet. In Deutschland mache sich die Bevölkerung unabhängig von politischen Notwendigkeiten ein eigenes Bild von Russland und seinen Präsidenten. Dieses Bild sei jedoch nach Putins Abkehr von westlichen Werten immens gefährdet in alte Feindbilder und Stereotypen abzudriften.

Mit dieser Abkehr Putins von Werten wie der Pressefreiheit hatte Vladislav Belov (Moskau) in seinem Vortrag "Die Bundesrepublik aus Sicht der russischen Medien nach 1990" zu kämpfen. Die Medienlandschaft in Russland sei immer noch im Entstehen begriffen und auch wenn Putin mittlerweile das Fernsehen unter staatliche Kontrolle gebracht habe, gäbe es dennoch eine große Zahl unabhängiger Zeitungen und Radiosender. Hier ein einheitliches Deutschlandbild herauszukristallisieren sei sehr kompliziert. Es ließe sich jedoch feststellen, dass das Bild Deutschlands in den russischen Medien "positiv, objektiv genug und äußerst vielfältig" sei.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Konferenz durch ihre internationale und interdisziplinäre Ausrichtung die Frage nach der gegenseitigen deutsch-russischen Fremdwahrnehmung in zahlreichen Facetten beleuchtete. Sehr zum Gelingen der Konferenz beigetragen hatte auch die rege Beteiligung der bis zu 40 Gäste, die mit ihren Fragen und Beiträgen die Diskussionen um eine weitere Perspektive bereicherten. Was sich als roter Faden durch alle Vorträge zog und auch in den Diskussionen stets angesprochen wurde, war das Fremdbild als Projektionsfläche der eigenen Wünsche, Sehnsüchte, aber auch Ängste und indoktrinierten Feindbilder, das allzu oft die Realität überdeckt. Ermöglicht wird diese Projektion durch die ebenso häufig erwähnte gleichzeitige Vertrautheit und Fremdheit zwischen Deutschland und Russland.

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zimos@ku-eichstaett.de

http://www1.ku-eichstaett.de/ZIMOS/zimos.htm
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