Arbeitskreis Bank- und Versicherungsgeschichte

Arbeitskreis Bank- und Versicherungsgeschichte

Organisatoren
Arbeitskreises für Bank- und Versicherungsgeschichte der GUG
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.06.2007 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Christopher Stadlin, Zürich

Nach der Begrüßung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch den Leiter des Zentralbereichs Unternehmenskommunikation Dirk Johannsen und den Leiter des Arbeitskreises für Bank- und Versicherungsgeschichte Peter Borscheid eröffnete der Leiter des historischen Archivs der Münchener Rück Zoran Andric die Sitzung mit einem Referat über Entwicklung, Aufgaben und Zukunft der vom ihm geleiteten Institution. Das 2004 gegründete historische Archiv der Münchener Rück umfasst inzwischen rund 110 Laufmeter an alten Aktenbeständen, die bis ins Gründungsjahr 1880 zurückgehen. Dieser Bestand wurde mit Findbüchern erschlossen, die auch online verfügbar sind. Ziel des Archiv ist, sich nicht nur als Kompetenzzentrum für Geschichte weiter zu entwickeln, sondern auch Kompetenzzentrum für Records Management zu werden.

Frank Oberholzner (Ludwig-Maximilian-Universität München) sprach über "Naturgefahren und die Entwicklung von Versicherungen: Die deutsche Hagelversicherung im 19. Jahrhundert“. Oberholzner unterschied drei Phasen der Entwicklung der Hagelversicherung in Deutschland: Die erste Phase vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis 1850 und war geprägt durch die Organisationsform der Gegenseitigkeitsvereine, durch die regionale Begrenzung des Geschäftsbetriebes sowie mangelnde versicherungstechnische Fundierung (Statistik und Prämienkalkulation). Vor allem letzteres sei dafür verantwortlich gewesen, dass über die Hälfte der insgesamt 26 in Deutschland in dieser Zeitspanne gegründeten Hagelversicherungen nach kurzer Zeit die Geschäftstätigkeit wieder einstellen musste. Dies wiederum war einer der Gründe, wieso in einer zweiten Phase von 1850 bis 1870 Kapitalgesellschaften unter Hagelversicherern rasant zunahmen. Ein zweiter Grund lag darin, dass Kapitalgesellschaften mit fixen Prämien arbeiteten, was der Budgetierung der Kunden entgegen kam. Die fixen Sätze ihrerseits wurden zu einer wichtigen Ursache für ein Revival der Gegenseitigkeitsvereine um 1870. Die 1860er-Jahre waren allgemein regenarm und damit in der Hagelversicherung schadensarm gewesen. Die Kapitalgesellschaften, die zwar keine Nachschusspflicht, aber eben auch keine Beteiligung der Versicherten am guten Geschäftsverlauf kannten, sahen sich dem Vorwurf der Ausbeutung ausgesetzt, was den Gegenseitigkeitsvereinen wieder Zulauf verschaffte. Diese Situation nutzten Preußische Großgrundbesitzer und gründeten die Norddeutsche Hagelversicherung: Ein Gegenseitigkeitsverein, der in der Folge sein Geschäft rasch über ganz Deutschland ausdehnte. Die dritte Phase von 1870 bis 1913 schließlich zeichnete sich durch die Koexistenz der zwei Gesellschaftsformen aus, wobei sich die gegen Hagel versicherte Gesamtsumme mehr oder weniger gleichmäßig auf beide verteilte. Aus der angeregten Diskussion sei im Hinblick auf den Tagungsort nur der Hinweis erwähnt, dass Carl von Thieme vor der Gründung der Münchener Rück über die Hagelversicherung seine Leidenschaft für die Versicherung entdeckt hatte.

Die De-Globalisierungs- und Globalisierungstendenzen der Zwischenkriegszeit auf dem Gebiet der Versicherungswirtschaft waren das Thema des mit zahlreichen Statistiken unterlegten Referates von Peter Borscheid (Philipps-Universität Marburg). Einleitend wies Borscheid daraufhin, dass damals Versicherungen weitgehend standardisierte Produkte waren. Aus Sicht der Vorstände seien daher einfach Güter exportiert worden. Dies im Gegensatz zu heute, wo Versicherungsprodukte aufgrund der allgemein ausdifferenzierten gesetzlichen Rahmenbedingungen meist zwangsläufig auf nationale Märkte beschränkt sind. Trotzdem korrelierte der Export von Versicherungen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert nicht mit dem rasant zunehmenden internationalen Handel. Der Grund ist darin zu suchen, dass Versicherungen von der Standardisierung her zwar als Produkt betrachtet werden konnten, als Dienstleistung aber schon immer an spezielle Bedingungen des Konsums gebunden waren: Vorhandensein eines Rechtsystems, das zumindest eine gewisse Vertragsicherheit garantiert; Vorhandensein bestimmter informeller Normen wie Fairness, Vertrauenswürdigkeit etc., die von den Vertragspartnern, vor allem auch den Versicherten eingehalten werden. Dies zeigt, wie genuin moderne Versicherung mit kapitalistischer Geschäftskultur verbunden ist. Es waren kapitalistische Unternehmer, die das vom europäischen Rationalismus entwickelte Konzept der Kalkulierbarkeit von Risiken in Versicherungsprodukte umsetzten. Für eine Untersuchung über transnationalen Versicherungsexport heißt das, dass es sich beim Export von Versicherungsdienstleistungen, speziell wenn dieser in andere Kulturkreise geht, um einen Institutionenexport handelt. Der transnationale Export von Versicherungsprodukten sprengt daher den Rahmen der Internationalisierung von Güteraustausch und Geschäftsbeziehungen und muss im Kontext der Globalisierung der kapitalistischen Geschäftspraxis und -kultur gesehen werden.
Konkret ging Borscheid darauf ein, wie Erster und Zweiter Weltkrieg, Oktoberrevolution, Inflation, Weltwirtschaftskrise und Staatsinterventionen der 1930er-Jahre das Auslandsgeschäft der Versicherungen weltweit drastisch reduzierten. Lediglich die Schweizer Versicherungsgesellschaften konnten ihr Auslandsgeschäft auf dem Gebiet der Direkt- und Rückversicherung ausweiten; Großbritannien und Frankreich den Versicherungsverkehr mit den Dominions und Kolonien. Hinzu kamen weitere Globalisierungstendenzen auf dem Gebiet der Versicherungswissenschaften und die Bildung von weltweit gültigen Standards. Zudem wurde durch Übernahme der Versicherungstechnik durch zahlreiche Schwellenländer der Grundstein für eine Intensivierung des grenzüberschreitenden Versicherungsverkehrs gelegt.

Kai Umbach (Philipps-Universität Marburg) beschäftigte sich mit der strukturellen Transformation der internationalen Seeversicherungsindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg. Umfang und Konzentrationsgrad von Großrisiken bewirkten seit jeher eine bedeutende Nachfrage nach internationalen Deckungskapazitäten. Ganz besonders gilt dies im Bereich der See- und Transportversicherung. Umbach hob in diesem Zusammenhang die herausragende Rolle des Londoner Versicherungsmarkts hervor, dessen Angebot die Möglichkeiten nationaler Versicherungsmärkte in aller Welt beträchtlich erweiterte. Der relative Bedeutungsrückgang der Seeversicherung im Portefeuille der Versicherungsindustrie nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs ist eine bekannte Tatsache. Für die Seeversicherung nach 1945 dagegen weit weniger klar und vor allem schlecht untersucht ist laut Umbach die Bedeutung folgender polit- und sozioökonomischer Faktoren: die Etablierung eines neoliberalen Regimes im internationalen Seetransportgewerbe, die weltweit in rasantem Tempo voranschreitende Deregulierung von Finanz- und Kapitalmärkten sowie eine radikale Liberalisierung des globalen Arbeitsmarkts für Seeleute. Des Weiteren erst wenig geklärt sind die Auswirkungen der verstärkten Interventionen des Gesetzgebers, des Ausbaus von Restriktionen und daraus resultierenden Nationalisierungstendenzen, die den inhärent internationalen Charakter des Seeversicherungsgeschäfts auf Auslandsmärkten zunehmend beschnitten.
Nützliche Hinweise zur Beantwortung der Frage, ob es legitim ist vom internationalen Seeversicherungsgeschäft nach 1945 als einem "business in global transition“ zu sprechen, ergeben sich aus einem Bündel aufschlussreicher Tatbestände, so z. B. aus dem Umstand, dass der Londoner Versicherungsmarkt seit Beginn der 1970er-Jahre eine steigende Beteiligung ausländischer Interessen verzeichnete. Zur gleichen Zeit verringerte sich das im Ausland abgeschlossene Direktgeschäft der vormals dominierenden europäischen, insbesondere britischen Seeversicherer, während das grenzüberschreitende Rückversicherungsgeschäft eine zunehmend wichtigere Rolle zu spielen begann. Schließlich ist festzuhalten, dass die Seeversicherungsindustrie einen starken Einfluss auf internationale Regierungsorganisationen ausübte, insbesondere unter dem Eindruck verschärfter Umweltschutzgesetze.

Im abschließenden Vortrag referierte Adrian Jitschin (Philipps-Universität Marburg) über "Bangladesch – Indien – Japan – Saudi-Arabien. Prinzipien der Versicherungsentwicklung in Asien“. Jitschin geht davon aus, dass sich in den Versicherungsmärkten dieser vier Länder die übrigen asiatischen Versicherungsmärkte sozusagen idealtypisch spiegeln:
Saudi-Arabien ist Repräsentant für diejenigen asiatischen Länder, in denen trotz hohen Bruttosozialprodukts die Versicherung kaum verbreitet ist. Außerhalb der erdölfördernden östlichen Regionen des Landes hat Versicherung bislang praktisch keine Verbreitung gefunden. Und auch da steht sie meist in Zusammenhang mit westlichen Investitionen. Vor allem die Lebensversicherung ist praktisch nicht vorhanden. Auf 26 Millionen Einwohner entfallen Lebensversicherungen im Wert von lediglich 17. Millionen US $.
Auch in Bangladesch ist die Versicherung unterentwickelt, allerdings bei sehr niedrigem Bruttosozialprodukt. Bangladesch gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Seitdem 1972 erfolgte Verstaatlichung 1985 wieder rückgängig gemacht wurde, sind drei interessante Entwicklungen zu beobachten: Erstens ist in dem Land mit immerhin 147 Millionen. Einwohnern nur eine ausländische Gesellschaft tätig, die American Life. Zweitens ist das Lebensversicherungsgeschäft doppelt so gut entwickelt wie das Sachversicherungsgeschäft. Dies entgegen der gängigen durch das Beispiel Saudi-Arabien gestützten These, dass Lebensversicherung in muslimischen Ländern aus kulturellen Gründen keine Chancen habe. Drittens wurde 1986 die erste Mikroversicherungsgesellschaft gegründet: eine bis heute anhaltende Erfolgsgeschichte, wenn auch bei geringem Gesamtvolumen.
Indien hat eine sehr lange Versicherungsgeschichte, die bereits 1818 beginnt. Moderne Versicherung blieb allerdings bis 1870 auf in Indien lebende Europäer beschränkt. Ab diesem Zeitpunkt begann sich ein eigener Versicherungsmarkt mit indischen Gesellschaften zu entwickeln. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts zeichneten diese Gesellschaften auf dem Subkontinent mehr Prämien als europäische Versicherungsunternehmen. Und diese Differenz nahm sukzessive zu. Trotz zum Teil positiver Effekte – so konnten Versicherungsrücklagen erfolgreich zur Finanzierung öffentlicher Projekte genutzt werden – wurden die Verstaatlichung der Lebensversicherung von 1956 sowie diejenige der Sachversicherung von 1972 im Jahr 2001 wieder rückgängig gemacht. Seiher haben die privaten Versicherer einen Marktanteil von 25 Prozent erreicht.
Japan gilt als das Musterbeispiel einer erfolgreichen Versicherungsentwicklung. Nach den USA ist es nach Prämienvolumen der zweitgrößte Versicherungsmarkt der Welt. Vor allem drei Faktoren sind dafür verantwortlich: Erstens übernahm Japan bereits um 1880 die modernen Versicherungskonzepte des Westen. Sie wurden sofort erfolgreich kopiert. So sind die meisten bedeutenden Gesellschaften vor 1900 gegründet worden. Ausländische Gesellschaften dagegen haben bis heute eine nur marginale Position. Zweitens zog auch der Staat früh nach. Japan kam 1900 noch vor Deutschland zu einem Versicherungsvertragsgesetz. Drittens ist die große Widerstandsfähigkeit, der Leistungsausweis par excellence im Versicherungsgeschäft, der japanischen Gesellschaften zu nennen, die regelmäßige Erdbebengroßschäden sowie die Folgen von zwei Weltkriegen überstanden. Seit der Deflationskrise der 1990er-Jahre, die vor allem zu einem für Versicherungen verheerenden Einbruch der Anlagerenditen führte, stagniert der japanische Versicherungsmarkt allerdings. Der Anteil am Weltmarkt ist von der Bestmarke 19 Prozent auf 11,6 Prozent (2005) zurückgefallen.
Die vier Länder zeigen eine ganz unterschiedliche Entwicklung: Während in Saudi-Arabien trotz vorhandenen Geldes keine Entwicklung stattfindet, ist in Bangladesch das Versicherungsvolumen zwar marginal, die moderne Versicherungsidee aber über die Mikroversicherung positiv aufgenommen worden. Der indische Versicherungsmarkt zeichnet sich durch enorme Wachstumsraten aus, der japanische ist dagegen am Schrumpfen. Adrian Jitschin schlägt vor, diese Unterschiede am Beispiel der Lebensversicherung unter drei Blickwinkeln zu untersuchen: Erstens demjenigen der „natürlichen Nachfrage“, das heißt dem Bedarf nach Lebensversicherung in einem Land, bedingt u. a. durch die Einkommensverteilung; zweitens, der Fähigkeit der Versicherungsunternehmen, effektiv auf die tatsächlichen Kundenbedürfnisse einzugehen (dies scheint insbesondere im Falle von Verstaatlichungen ein Problem darzustellen); drittens dem Vorhanden- oder Nichtvorhandensein rentabler Investitionsmöglichkeiten für die eingenommenen Prämiengelder. In der Diskussion wurde vor allem die Frage aufgeworfen, ob durch die ausgewählten Länder wirklich alle Typen von Versicherungsmärkten des asiatischen Raumes adäquat repräsentiert sind. So wurde vorgeschlagen, Südkorea in die Betrachtung einzubinden.

Insgesamt erlaubten die Vorträge einen detaillierten Einblick in laufende Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Versicherungsgeschichte; von besonderem Interesse war dabei der Fokus auf die internationale Ebene der Versicherungswirtschaft.


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