Wissen zwischen Brücken und Brüchen - Der Umgang mit Krankheit und Gesundheit in kulturellen Kontexten von der Spätantike bis zur Reformation.

Wissen zwischen Brücken und Brüchen - Der Umgang mit Krankheit und Gesundheit in kulturellen Kontexten von der Spätantike bis zur Reformation.

Organisatoren
Graduiertenkolleg 516 "Kulturtransfer im europäischen Mittelalter" und Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Friedrich-Alexander-Universität
Ort
Erlangen-Nürnberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.12.2002 - 14.12.2002
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Von
Florian Steger

Rundgespräch veranstaltet vom Graduiertenkolleg 516 "Kulturtransfer im europäischen Mittelalter" und dem Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 13. bis 14. Dezember 2002.

Im Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der FAU Erlangen-Nürnberg fand vom 13. bis 14.12.2002 ein Rundgespräch mit dem Titel "Wissen zwischen Brücken und Brüchen - Der Umgang mit Gesundheit und Krankheit in kulturellen Kontexten von der Spätantike bis zur Reformation" statt; Organisation, Konzeption und Leitung der Veranstaltung lagen in den Händen von Florian Steger (Erlangen-Nürnberg) und Kay Peter Jankrift (Münster/Stuttgart).

Das Rundgespräch nahm den Untersuchungsgegenstand des Graduiertenkollegs auf, in den Steger zu Beginn in seinen methodisch-konzeptuellen Überlegungen "Kulturtransfer - Kulturelle Kontextualisierung: Wozu?" einführte. Die von Michel Espagne und Michael Werner anhand der nationalstaatlichen Bedingungen des 18. und 19. Jahrhunderts entwickelten theoretischen Überlegungen zum Kulturtransfer werden im Graduiertenkolleg an den vornationalen Bedingungen des 9. bis frühen 17. Jahrhunderts in einer interkulturellen und über das europäische Mittelalter hinausgehenden Perspektive diskutiert. Das Rundgespräch legte hierbei den Fokus auf den Transfer medizinischen Wissens und konzentrierte sich damit auf die in Galenischer Tradition stehende mittelalterliche Medizin, bezog den für die kulturellen Transfer- und Transformationsprozesse wichtigen arabisch-islamischen und byzantinischen Kulturbereich ein und richtete schließlich den Blick auf den lateinisch geprägten, europäischen Westen. Steger machte in seinen grundlegenden Überlegungen deutlich, daß für diese komplexen Transferverhältnisse nicht nur das Vergleichen selbst Bedeutung hat, sondern auch der dem Transfer zugrundeliegende vielschichtige Prozeß intensiver kultureller Begegnungen in angemessener Form berücksichtigt werden sollte. In diesem Rahmen plädierte er anstelle eines erneuten Definitionsversuchs von Kultur dafür, Kultur als Kategorie der Untersuchung und als einen Kontext zu verstehen.

Mischa Meiers (Bielefeld) Beitrag "Die spätantike Pest und das Ende der antiken Geschichtsschreibung" wurde verlesen, da der Referent kurzfristig verhindert war. Meier verfolgte die Frage nach dem Einfluß der großen Pestepidemien des 6. Jahrhunderts und zeigte Konsequenzen auf, die sich aus Wahrnehmung und Deutung des Unheils durch die Betroffenen ergaben und die Prozesse eingeleitet haben, welche für die weitere Entwicklung der Geschichtsschreibung essentiell waren. Meier analysierte die Pestbeschreibungen in der zeitgenössischen Historiographie (Prokop, Agathias, Johannes von Ephesos und Euagrios) unter der Frage nach den Auswirkungen der beschriebenen Ereignisse auf die Historiker, die das Unheil der Pest selbst miterlebt haben. An Prokop und Agathias verdeutlichte er, daß im 6. Jh. für konventionelle Historiographie kein Raum mehr bleibt. Lösungen und Handreichungen für die Erklärung historischer Geschehnisse anzubieten, ist nicht mehr Aufgabe der Historiographie des 6. Jhs. Die Kirchengeschichte, die jedes Geschehen in den göttlichen Heilsplan einzuordnen imstande war, konnte dagegen plausible Deutungsangebote unterbreiten, wie dies beispielsweise für Johannes von Ephesos zutrifft. In einem Ausblick verdeutlichte Meier diesen ‚geglückten' Verschmelzungsprozeß bei Menander Protektor und Theophylaktos Simokattes.

Von Prokop zu Gregor von Tours ging dann Gernot Kirchner (Marburg) in seinem Beitrag "Ärzte und medizinische Tätigkeiten im Gesellschaftskonzept Gregors von Tours (583-594 n.Chr.)" über. Gregor bietet als Autor der frühmittelalterlichen Transformationszeit mit seiner Geschichte, deren Bezugspunkt die "ecclesia" ist und sich damit als Heilsgeschichte ausweist, ein Gesellschaftskonzept nach bischöflichen Kriterien. Bischöfen kommt die höchste Autorität zu; sie verfügen in der Nachfolge Christi über Heilungskompetenzen. Krankheiten, für die Gregor eine eigene Typologie verwendet, sind oft von Gott gegeben. So können Gottesmänner heilen, aber auch Ärzte - und damit ausschließlich Männer. Frauen besitzen zu Lebzeiten keine Heilkraft. Krankheiten haben bei Gregor große Bedeutung in heilsgeschichtlicher Funktion und als Grundkonstante menschlichen Handelns.

Peregrine Horden (Oxford) thematisierte in seinem Beitrag "The Hospitals in the Early Byzantine Empire: Break or Bridge?" das Krankenhaus als Institution, das nach Ansicht Hordens im Zeitraum sehr selten ist. Während es in Babylon, Ägypten, im klassischen Griechenland und im Buddhismus kein Hospital gab, ist das recht plötzliche Aufkommen des Krankenhauses - sieht man vom römischen Valetudinarium einmal ab - von der Forschung auf die Mitte des 4. Jhs. n. Chr. datiert worden. Das kommt - wie es Peter Brown als soziale Revolution definiert - einem Bruch gleich. Zu fragen ist, wie es zu diesem Bruch kommt und inwiefern das Hospital eine Erfindung sein könnte. Anstatt auf Traditionen aus dem klassischen Griechenland aufzubauen, die einem kulturellen Transfer zugrundeliegen und eine Brückenfunktionen erfüllen könnten, ist das Hospital eine neue Erfindung - ein Bruch im kulturellen Transfer. Es gibt kein Hospital in der jüdischen Geschichte, in vorkonstantinischer Zeit und während der Regierung Konstantins. Brückenfunktionen könnten allerdings deutlicher werden, wenn man eine minimale Definition von Krankenhaus zugrunde legt, das noch nicht diesen Namen trug. Unter diesen Umständen wäre der von der Forschung in das 4. Jh. datierte Bruch durch die Erfindung des Hospitals abzuschwächen, und es könnten durchaus Traditionslinien aufgezeigt werden, die diesen Bruch überbrücken.

Johannes Pahlitzsch (Berlin) konzentrierte sich in seinem Beitrag auf "Christliche, jüdische und samaritanische Ärzte in Ägypten und Syrien zur Zeit der Kreuzzüge". Pahlitzsch ging der Gruppierung der Schutzbefohlenen nach, zu denen arabischsprachige Juden, Christen und Samaritaner zu zählen sind, die unter islamischer Herrschaft lebten. Diesen standen nur wenige Berufsfelder offen, in denen ein Aufstieg möglich war. Zu diesen zählte auch die Laufbahn als Arzt. Mit der Gründung der Kreuzfahrerstaaten kamen die lateinischen Fürsten und Könige in Kontakt mit arabischer Medizin, die auf griechische Wissenschaft zurückgeht. Damit wird verständlich, warum in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in den Kreuzfahrerstaaten christlich-arabische und samaritanische Ärzte tätig waren. Hierbei zeigt sich ein besonderes Maß an Mobilität zwischen den Kulturen. So hatte auch für die christlichen Araber die Grenze zwischen Kreuzfahrerstaaten und islamischen Staaten keine Bedeutung als Grenze für den Wissenstransfer.

Piers Mitchell (London) konzentrierte sich in seinem Beitrag "Evidence for Elective Surgery in the Frankish States of the Near East in the Crusader Period (12th-13th centuries)" auf die Frage nach chirurgischen Eingriffen während des Mittelalters. Es geht hierbei darum, ob man bei der mittelalterlichen medizinischen Versorgung bereits von geplanten Operationen ausgehen kann oder ob der chirurgische Eingriff dem Notfall vorbehalten bleibt. In mittelalterlichen medizinischen Fachtexten finden sich zahlreiche Hinweise auf geplante Chirurgie, doch Detailstudien, die der medizinischen Alltagspraxis anhand von erhaltenen Kasuistiken nachgegangen sind, haben gezeigt, daß eine nichtinvasive Therapie bevorzugt wurde. Mitchell konzentrierte sich in seinen Ausführungen auf das Frankenreich im Lateinischen Osten während des 12. und 13. Jahrhunderts. Anhand zahlreicher und sehr verschiedener Quellen, die von klassischen Texten bis hin zu paläoanthropologischem Material reichen, konnte Mitchell gegenüber den bisherigen Forschungen plausibel machen, daß von einer ganzen Reihe geplanter Operationen auszugehen ist, für die auch einzelne Indikationen nachzuweisen sind.

Auf die Bedeutung jüdischer Gelehrter ging Kay Peter Jankrift (Münster/Stuttgart) in seinem Beitrag "Eigenes und Fremdes. Die Rolle jüdischer Gelehrter für die Vermittlung von Wissen im Mittelalter" ein. Der Verdienst jüdischer Gelehrter ist von der Forschung in der Bewahrung antiker Lehren und Weiterentwicklung der Naturwissenschaften im Mittelalter bestimmt worden. Während für die Iberische Halbinsel und den Süden Frankreichs bereits zahlreiche Studien vorliegen, konzentrierte sich Jankrift auf Formen, Strukturen und Entwicklungen des wissenschaftlichen Wirkens von Juden an den Polen Sefarad und Aschkenas. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen standen die überlieferten hebräischen Manuskriptbestände, anhand derer die Art des Wissensaustausches und die Gestalt des Transfers von medizinischem Wissen in Theorie und Praxis analysiert wurde.

John Henderson (Cambridge) ging in seinem Vortrag "Material Culture of Health. Hospitals and the Care of the Sick in Renaissance Italy" auf die Stadt in der Renaissance ein und wies auf Brücken hin, die bei diesem Forschungsfeld zwischen Medizingeschichte, Sozialgeschichte, Kunstgeschichte und Architekturgeschichte bestehen. Henderson widmete sich Hospitälern im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts, wobei er sich auf das Verhältnis von Form und Funktion konzentrierte. Hospitäler wie Santo Spirito in Rom, Ospedale Maggiore in Mailand und Santa Maria della Scala in Siena stellten Modelle bereit für weitere wichtige Gründungen in anderen Teilen Europas. Es war vor allem die Größe der Gebäude und die Reichweite der Aktivitäten, die diese von anderen unterschied. Analysiert man die materielle Kultur von Gesundheit, so läßt sich deren doppelte Funktion in spiritueller wie in medizinischer Sorge um die Patienten bestimmen.

Renate Wittern-Sterzel (Erlangen-Nürnberg) steuerte dem Rundgespräch einen Abendvortrag mit dem Titel "Wissenschaftlicher Streit oder Glaubenskrieg? Die Auseinandersetzung über die "richtige" Anatomie im 16. Jahrhundert" bei. Andreas Vesals "De humani corporis fabrica libri septem" (1543) kann als ein Wendepunkt in der Geschichte der Medizin angesehen werden, insofern als Vesals publizierte Erkenntnisse im Widerpruch zur großen antiken Autorität Galens stehen und damit der gerade entstehende strenge und rigide Galenismus grundsätzlich in Frage gestellt wird. Einige Zeitgenossen Vesals haben auf dessen Kritik in sogenannten Streitschriften reagiert. Allen voran rechnete Jakobus Sylvius, der Lehrer Vesals und einer der überzeugtesten Anhänger Galens, mit seinem Schüler ab. In dem sich über etliche Jahre hinziehenden Streitgespräch, das über Briefe und Publikationen geführt wurde, ging es vor allem um die Frage der Objekte galenischer Forschung, um die Beziehung von Text versus Natur, um den neuen Blick auf den Körper, sowie um den Stellenwert der Tradition im Kontext der Religionskriege.

Am Beginn des zweiten Tages stand der Kommentar "Transfer von Wissen - Theorie und Praxis" von Bettina von Jagow (München), in dem die theoretischen Positionen, die zur Einführung in die Tagung entfaltet worden waren, wieder aufgegriffen und unter direkter Bezugnahme auf die bisher vorgeführten Einzelbeispiele kommentiert wurden. Von Jagow stellte einen Entwurf von Wissenstransfer zur Diskussion, dessen zentrale Dimensionen die Perzeption, die Interaktion und die Dynamik betonen. Sie stellte dem Plenum sieben Thesen zur Theorie und Praxis des Transfer von Wissen zur Diskussion. Hierbei sind hervorzuheben, daß Wissensformierung und -speicherung über Wahrnehmung, logisches Denken und Gedächtnis realisiert werden. Wissen kann in diesem Sinn als ein sozial vermitteltes Gut angesehen werden, das über Kommunikationsprozesse performativ konstituiert wird.
Florian Steger (Erlangen-Nürnberg) griff in seinem Beitrag "Medizinische Streitkultur im 16. Jahrhundert. Zu einer kulturellen Kontextualisierung von Georgius Agricola: ‚Bermannus sive de re metallica Dialogus' (1528)" den Abendvortrag von Renate Wittern-Sterzel auf. Wenn in dem von Georgius Agricola verfaßten Dialog auch kein "Glaubenskrieg" herrscht, so ist er doch ein reiches Dokument für das Verständnis des medizinischen Humanismus und für die verschiedenen Wissenstraditionen, die am Kulturtransfer medizinischen Wissens beteiligt sind. Der Dialog trägt wesentlich dazu bei, ein ideen- wie kulturgeschichtliches Bild von den im 16. Jahrhundert geführten Disputationen über die "wahre" Medizin zu bekommen. Es geht hierbei vor allem um den seit den 1490er Jahren entstehenden medizinischen Humanismus, in dem Gelehrte und Gebildete eine Rückkehr zu den griechischen Originaltexten, nun in lateinischer Sprache, einfordern und in dem zur selben Zeit die arabischen Gelehrten, durch deren Vermittlung die griechischen Urtexte zunächst in den Westen gekommen waren, abgelehnt werden. Steger führte vor, wie mit der Perspektive des kulturellen Transfers das Phänomen einer Rückkehr zu den antiken Originalen, um den im Mittelalter durch arabisch-islamischen Einfluß vollzogenen "Verfälschungen" entgegenzutreten, zu fassen ist.
Daniel Schäfer (Köln) führte in einem Querschnitt in seinem Vortrag "De senectute - Zur Rezeption medizinischen und nicht-medizinischen Wissens der Antike in der frühneuzeitlichen Altenheilkunde" die einzelnen Traditionsspuren in der Antike vor. Es gibt zwar kein eigenständiges Werk der Antike, das sich dem fortgeschrittenen Alter widmet, jedoch Einzelaussagen in medizinischen wie nicht medizinischen Schriften. Gerade Galens Schriften erweisen sich in Teilen als eine Vorlage für die mittelalterliche und frühneuzeitliche Greisenphysiologie und Greisendiätetik. Ergänzungen finden sich im Bereich der Pharmakotherapie. Nichtmedizinische Texte wie Teile der Bibel oder beispielweise die antike Komödie üben einen bemerkenswerten Einfluß auf die frühneuzeitliche Altenheilkunde aus, die nicht zuletzt zu einer Ablösung der medizintheoretischen Vorstellungen in Galenischer Tradition führen.
Sandra Pott (Paris/Hamburg) zeigte in ihrem das Rundgespräch abschließenden Beitrag "‚Medicus poeta'. Poetisierung medizinischen Wissens in der Frühen Neuzeit", wie medizinisches Wissen in Literatur übersetzt wurde, und wie es zu einer Verschmelzung von Medizin und Poesie kam. Pott zeigte das anhand von lateinischer, gelehrter und ‚hoher' Dichtung der Universitätsmediziner, in der medizinisches Wissen nahezu vorausgesetzt wird und in der sich Poesie als eigenständige Praktik erweist. Anhand von Sprichwörtern und aus dem Kontext gezogener Versatzstücken, die an den medizinisch interessierten Leser gerichtet sind und durch die zum Ausdruck gebracht wird, was den Mediziner als Mediziner kümmert, entwarf Pott mit ihren Ausführungen eine Typologie des Transfers einer Poetisierung medizinischen Wissens in der Frühen Neuzeit.
In der Abschlußdiskussion wurde allgemein der Nutzen einer derart interdisziplinären Diskussion anerkannt und angeregt, das Rundgespräch fortzusetzen und hierbei in methodischer Hinsicht das aufgemachte Feld der Interdisziplinarität noch weiter zu öffnen. Dabei sollte thematisch noch stärker eine außereuropäische Perspektive einbezogen werden. Eine Veröffentlichung der überarbeiteten Vorträge in einem Sammelband ist für 2003 in Vorbereitung.

Isabelle Hertner und Florian Steger


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