Quellenarbeit und Schriftgutverwaltung. Historische Hilfswissenschaften im Kontext archivischer Aufgaben

Quellenarbeit und Schriftgutverwaltung. Historische Hilfswissenschaften im Kontext archivischer Aufgaben

Organisatoren
Archivschule Marburg
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.06.2007 - 13.06.2007
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Von
Tobias Crabus, Antje Diener-Staeckling, Beate Sturm, Christoph Volkmar

Seit langem haben sich die Historischen Hilfswissenschaften als Grundlagenwissenschaft für die archivische Arbeit und die historische Forschung etabliert. Jedoch hat ihre Ausrichtung auf die mittelalterliche und allenfalls frühneuzeitliche Überlieferung verhindert, dass ihre Methoden und Instrumente auf moderne Schriftgutproduzenten und -erzeugnisse Anwendung fanden. Zudem haben Sparzwänge an den Universitäten die Hilfswissenschaften zuletzt massiv unter Druck gebracht.

Unter diesen Vorzeichen stellte sich das Marburger Kolloquium der Herausforderung, das Verhältnis der Archive zu den Historischen Hilfswissenschaften neu zu definieren: Es fragte nach dem Nutzen der Disziplin für die Bearbeitung von zeitgenössischem Schriftgut und beschäftigte sich mit ihrer Zukunft im Kontext von universitärer Ausbildung und archivischer Praxis.

Nach der Eröffnung der Tagung durch Frank M. Bischoff (Archivschule Marburg) beschäftigte sich die 1. Sektion mit neuen Techniken der Urkundenbearbeitung. „Sind Urkundenbücher ein Auslaufmodell?“ fragte Henning Steinführer (Stadtarchiv Braunschweig). Die mittelalterlichen Urkunden Braunschweigs gelten als überregional bedeutender Quellenbestand. Das achtbändige Urkundenbuch reicht bis in das Jahr 1400. Die anschwellende Überlieferung des 15. Jahrhunderts ist jedoch mit herkömmlichen Editionsprinzipien nicht mehr zu bewältigen.
Mit Blick auf das Forschungsinteresse im Vorfeld der 1000-Jahrfeier Braunschweigs plädierte Steinführer für ein breit angelegtes Erschließungsvorhaben. Durch die Präsentation von Onlinefindmitteln könnte das Braunschweiger Urkundenbuch „virtuell“ fortgesetzt werden. Auf der Basis der älteren Findhilfsmittel sollen die Urkunden neu bearbeitet und als Regesten unter Beigabe von Digitalisaten online verfügbar gemacht werden, wobei auch gedruckte Ausgaben denkbar bleiben. Die Stadtbücher werden auf Bandebene erschlossen, bei zentralen Stücken sind Regestierung und Edition vorgesehen.
Strategische Säulen für die Umsetzung des Vorhabens sind die hinreichende personelle Ausstattung des Stadtarchivs, ein positives Umfeld für die Einwerbung von privaten Drittmitteln sowie die enge Zusammenarbeit mit Hochschulen, Geschichtsvereinen und Historischen Kommissionen.

Pauline Puppel (ehemals Landeshauptarchiv Koblenz) stellte in ihrem Vortrag „Kopfregest und Kennzahl – Urkundenverzeichnung im 21. Jahrhundert“ eine Möglichkeit des Umgangs mit den großen Mengen spätmittelalterlicher Urkunden vor, die sie anhand des Bestandes 1 A im Landeshauptarchiv Koblenz erprobt hat. Um den Nutzern den schnellen Zugang auch zu bisher schlecht erschlossenen Quellen zu ermöglichen, werden dabei neue onlinefähige Findmittel erstellt. Diese basieren auf der leicht korrigierenden Übernahme älterer, nur analog vorliegender Kopfregesten. Grundlage für die Entscheidung für Kopfregesten war ein Vergleich von Kennzahlen, die den Arbeitsaufwand pro Stück darstellen. Durch den Verzicht auf eine Neubearbeitung kann ein gut achtfach höherer Output produziert werden (14 Minuten pro Kopfregest anstatt 120 Minuten pro Vollregest).

Andreas Berger (Kreisarchiv Kleve) zeigte in seinem Vortrag „Möglichkeiten und Grenzen der Urkundenverzeichnung mit Erschließungssoftware“ an marktgängigen Produkten die Leistungsfähigkeit moderner Erschließungssoftware auf. Er ging dabei von den vielfältigen Klassen von Erschließungsinformationen aus, die er am Beispiel einer DTD (Document Type Definition) verdeutlichte. Als zentrale Elemente für die Urkundenverzeichnung stellte er Bestand, Signatur, Datierung sowie inhaltliche und formale Beschreibung heraus. Anschließend demonstrierte er am konkreten Beispiel Vor- und Nachteile der verfügbaren Softwarelösungen.

Die 2. Sektion wagte den Spagat "Vom mittelalterlichen Amtsbuch zum elektronischen Register". Andreas Petter (Bundesarchiv) erläuterte in seinem Vortrag "Die Bedeutung vormoderner Amtsbuchführung für Geschichte und Theorie des europäischen Archivwesens" die historische Funktion von Amtsbüchern. In ihnen sah er ein Leitmedium für die Organisation schriftlicher Verwaltungsdokumentation in der Vormoderne und Instrumente der aus der Verwaltungstätigkeit selbst generierten Überlieferung. Als solche besaßen Amtsbücher dasselbe Schrift-Vertrauen wie andere für die Verwaltung bedeutende Schriftstücke. Sie seien deshalb in ihrer Anfangsphase "archivgleiche" Objekte gewesen.

Über elektronische Amtsbücher der Gegenwart sprach Magrit Ksoll-Marcon (Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns). Nachdem bereits das Grundbuch in Bayern rein digital geführt wird, soll ab 2007 auch das bayrische Handelsregister in ein elektronisches Format überführt werden. Da für eine Übertragung der Daten an das Archiv eine eigens zu programmierende Schnittstelle erforderlich ist, scheuen viele Behörden – trotz Archivgesetz – die Abgabe der Registerblätter. Deshalb forderte Ksoll-Marcon nachdrücklich feste Bewertungskriterien und eine standardisierte Übergabe, um das Werben der Archive um die Einrichtung entsprechender Schnittstellen argumentativ zu untermauern.

Die 3. Sektion beschäftigte sich unter dem Titel "Aktenkunde und Schriftgutverwaltung" mit der Schnittmenge zwischen klassischer Hilfswissenschaft und modernem Records Management. Karsten Uhde (Archivschule Marburg) stellte in seinem Beitrag "Alter Stil – Neuer Stil – Neuester Stil" eine neuen Periodisierung der systematischen Aktenkunde vor. Die aktuellen Veränderungen (Umstrukturierungen in den Verwaltungen, Einführung von elektronischen Bürosystemen) markieren dem Referenten zufolge eine Zäsur zwischen dem Neuen Stil und einem "Neuesten Stil". Insbesondere letzterer bedürfe bezüglich der systematischen Aktenkunde noch umfassender Untersuchungen: So müsse die Grenze zwischen dem Neuen Stil und dem Neuesten Stil so scharf wie möglich gezogen sowie ein Schema zur Klassifikation der Schriftstücke und eine einheitliche Terminologie entwickelt werden. Der Vortrag schloss mit der Anregung, eine Expertengruppe zu gründen, um die Aktenkunde für das 20. und 21. Jahrhundert fortzuschreiben.

Udo Schäfer (Staatsarchiv Hamburg) skizzierte in seinem Vortrag „Amtliche Aktenkunde der Neuzeit – Records Management des 21. Jahrhunderts. Zur Schnittmenge zweier Disziplinen“ die verbindenden Elemente von klassischer Aktenkunde und modernen Verwaltungssystemen. Einleitend plädierte er für einen offenen Oberbegriff „Diplomatik“, unter dessen Dach die bisher zu stark getrennten Disziplinen der Urkunden-, Akten- und Amtsbuchlehre zu vereinen wären. Schäfer stellte die Frage nach der Anwendbarkeit von Methoden der analytischen und genetischen Aktenkunde auf die Produkte des Records Management. Als belastbar erschienen ihm vor allem Bezüge zur genetischen Aktenkunde (Ablauforganisation und Geschäftsgang; Prozessinformationen; Versionsinformationen) und zur analytischen Aktenkunde (Festlegung der inneren Merkmale (DTD), elektronische Signatur). Abschließend betonte Schäfer den Unterschied von retrospektiver amtlicher Aktenkunde und prospektivem Records Management. Er sprach sich für die Berücksichtigung von Unterlagen aus elektronischen Systemen im Rahmen einer als Quellenkunde verstandenen Aktenkunde aus.

Der Bedeutung der Historischen Hilfswissenschaften im 21. Jahrhundert widmete sich die 4. Sektion. In die Rolle der Historischen Hilfswissenschaften an den Universitäten nach dem Bologna-Prozess führte Marita Blattmann (Universität Köln) ein. Sie stellte zunächst die aktuelle Hochschulreform vor und zeigte anschließend, welchen Platz die Hilfswissenschaften in den neu strukturierten Studiengängen haben könnten. Da sie entgegen der Vorgaben des Bologna-Prozesses auf keinen Beruf direkt vorbereiten und die Zahl der Dozenten für einen Bachelor in diesem Fach an den meisten Hochschulen nicht ausreiche, drohe das eigenständige Fach Hilfswissenschaften zu verschwinden bzw. im Fach Geschichte aufzugehen.

Chancen sah Blattmann in den Praktika, die die neuen Studiengänge vorsehen. Die Archive sollten die Nachfrage nach Praktikumsplätzen nutzen, um die Studenten für die Arbeit am Original und damit für eine Beschäftigung mit den Hilfswissenschaften zu begeistern.

Robert Kretzschmar (Landesarchiv Baden-Württemberg) stellte in seinem abschließenden Referat noch einmal pointiert die Frage nach der Zukunft der Hilfswissenschaften. Die Archivare sah er dabei als Impulsgeber, etwa durch die Fortentwicklung der Quellenkunde. Diplomatik und Aktenkunde, aber auch die Archivwissenschaft, würden ein analytisches Instrumentarium bereithalten, mit dem sich auch die Quellengattungen des 20. und 21. Jahrhunderts von den massenhaften Einzelfallakten über die audiovisuellen Medien bis hin zur E-Mail analysieren, beschreiben und klassifizieren ließen. Dabei würden die Archivare in ihrer täglichen Arbeit von einer Quellenkunde der Gegenwart selbst am meisten profitieren.
Zur zeitgemäßen Pflege der Hilfswissenschaften gehöre aber auch ihre kundenorientierte Vermittlung, etwa durch die Nutzung des Internets. Erfolgsgeschichten wie die Stuttgarter Wasserzeichendatenbank Piccard Online gäbe es bereits. Dabei betonte Kretzschmar, dass die Archive ihre hilfswissenschaftliche Fachkompetenz pflegen müssten. Eigene Forschungen könnten hier ebenso einen Beitrag leisten wie universitäre Lehrangebote. So könnten die Hilfswissenschaften den Archivaren helfen, ihr Profil als Spezialisten für die Artefakte der eigenen Kultur aus allen Zeitepochen weiter zu schärfen.

Das 12. Archivwissenschaftliche Kolloquium machte deutlich, dass die Historischen Hilfswissenschaften auch in Zukunft zum Handwerkszeug des Archivars gehören werden. Von der klassischen Erschließungsarbeit bis hin zur Entwicklung elektronischer Vorgangsbearbeitungssysteme erweisen sich hilfswissenschaftliche Kenntnisse und Methoden im archivischen Aufgabenspektrum als Kernkompetenzen. Die Tagung zeigte vielfältige Wege zur inhaltlichen Neuausrichtung der Hilfswissenschaften auf, von konkreten Projekten bis hin zu strategischen Überlegungen. Dabei wurde immer wieder betont, dass die Hilfswissenschaften im archivischen Arbeitsalltag gepflegt und gerade mit Bezug auf die modernen Archivbestände forschungsorientiert weiterentwickelt werden sollten.

Angesichts der aktuellen Krise der Hilfswissenschaften an den Universitäten macht dieser Konsens Mut. Allerdings wurde auch deutlich, dass die Archive nur bedingt dort in die Bresche springen werden, wo sich die Universitäten zurückziehen. Universitäre Forschung und Lehre können die Archivare lediglich begleiten und ergänzen, aber nicht ersetzen. Neue Herausforderungen wie die steigende Nachfrage nach studentischen Archivpraktika scheinen deshalb zunächst eine engere Zusammenarbeit zu erfordern, schon im Interesse der Ausbildung des wissenschaftlichen wie des archivischen Nachwuchses.
Trotz aller Schwierigkeiten überwog in Marburg der positive Ausblick, ja die Aufbruchsstimmung, die sich auch in der regen und fruchtbaren Diskussion ausdrückte. Die historischen Hilfswissenschaften bleiben ein Thema – wegen ihrer praktischen Relevanz für die archivischen Aufgaben unserer Zeit.

Die Tagungsbeiträge werden in der Reihe "Veröffentlichungen der Archivschule Marburg" erscheinen.

Kontakt

Dr. des. Christoph Volkmar
Archivreferendar
Archivschule Marburg
Bismarckstraße 32
35037 Marburg

e-mail: volkmar@rz.uni-leipzig.de


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