Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft. Zur Wechselwirkung medialer und gesellschaftlicher Veränderungen in Deutschland und Frankreich

Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft. Zur Wechselwirkung medialer und gesellschaftlicher Veränderungen in Deutschland und Frankreich

Organisatoren
Jörg Requate; Deutsches Historisches Institut Paris; mit freundlicher Unterstützung der Deutsch-Französischen Hochschule und der FAZIT-Stiftung
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
07.06.2007 - 08.06.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Sebastian Brandt

Am 7. und 8. Juni 2007 veranstaltete das Deutsche Historische Institut Paris eine wissenschaftliche Konferenz zum Thema „Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft“.

Jörg REQUATE, Gastdozent am Institut und Organisator der Tagung, leitete das Kolloquium mit einigen Worten zu Zielsetzung, Begrifflichkeit und Fragestellungen ein. Requate machte eine doppelte Zielsetzung aus: Einerseits die deutsch-französische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Mediengeschichte zu verbessern und die eher nationale Ausrichtung des Forschungszweiges zu erweitern und andererseits zu fragen, in welcher Weise der Begriff – ausgehend von dessen kommunikationswissenschaftlicher Definition – für das 19. Jahrhundert sinnvollerweise Verwendung finden könne.

Die Einführungssektion stellte zunächst sowohl Fragen nach der Periodisierung als auch nach französischen und deutschen Spezifika im Verhältnis von Medien und Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Dabei datierte Marie-Eve THÉRENTY den Beginn des „medialen Zeitalters“ für Frankreich provokativ konkret auf das Jahr 1836, in dem Emile de Girardin seine Zeitung La Presse gründete. Sie wandte sich damit gegen die in der französischen Forschung dominierende Lesart, die den Beginn des „Medienzeitalters“ in Frankreich in der Regel frühestens ab den 1860er Jahren oder noch später mit dem Aufstieg der Massenpresse ansetzt. Sie begründete diese These u.a. mit dem Verweis darauf, dass die Narration nun in den verschiedensten Formen, sowohl in fiktionaler Form in den Feuilleton-Romanen als auch in den faits divers nun zum bevorzugten Beschreibungsmodus in der Presse wurde. Christian DELPORTE betrachtete anschließend die „Mediengesellschaft des 19. Jahrhunderts“ aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts. Er diskutierte zunächst die Problematik der Periodisierungen und machte dann insbesondere im Streben nach politischer und moralischer Erziehung sowie in der zunehmenden Marktorientierung die Besonderheiten der Medienlandschaft des 19. Jahrhunderts aus. Die Medien des 20. Jahrhunderts, so Delporte, hätten dann auf große Teile dieses Erbes zurückgreifen können. Nach diesen beiden französischen Beispielen sprach Jörg REQUATE von den Kennzeichen der deutschen Mediengesellschaft des 19. Jahrhunderts. Er thematisierte das Gewicht der politischen Kontrolle im deutschen Fall, aber auch die Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation. Wie Delporte unterstrich auch er zudem den besonderen pädagogischen Anspruch vieler Zeitungen und Zeitschriften, die lange Zeit gerade in der Kombination von „Belehrung und Unterhaltung“ ihre spezifische Publikumsorientierung fanden. Thomas MERGEL wies in seinem Sektionskommentar insbesondere darauf hin, dass alle drei Beiträge Medien in erster Linie als Presse verstanden hätten. Zudem wandte er sich gegen einen zu sehr auf Medienproduzenten zugespitzten Ansatz und mahnte an, die Ebene der Rezipienten nicht aus dem Blick zu verlieren. Schließlich betonte Mergel im Vergleich zu Christian Delporte stärker die Veränderungen zwischen 19. und 20. Jahrhundert.

Die zweite Sektion, „Presse als Medium gesellschaftlicher Selbstorganisation“, wurde von Alice PRIMI eröffnet. Sie behandelte die Frage, inwieweit sich journalistisch tätige Frauen einen Status als Bürgerinnen erkämpfen konnten und welchen Problemen sie dabei gegenüberstanden. Trotz zahlreicher Schwierigkeiten hätten es, so Primi, einige Frauen geschafft, in der öffentlichen Meinung Präsenz zu zeigen oder sich gar als politische Akteurinnen zu profilieren. Thorsten GUDEWITZ’ Vortrag thematisierte mit der Rolle der Medien in den Schillerfeiern von 1859 einen gänzlich anderen Zusammenhang. Am Beispiel der Feierlichkeiten skizzierte er Nationsbildung als von individuellen Akteuren vorangetriebenen „bottom-up-Prozess“. Laut Gudewitz machten Journalisten ihren Lesern Deutungsangebote und vernetzten lokale Feiern durch eine breite Berichterstattung erst zu einem nationalen Festraum, so dass Identitätsbildung und Vergemeinschaftung möglich geworden seien. An diesem Punkt setzte der Kommentar von Martina KESSEL an. Sie warnte vor einer allzu emphatischen Tendenz, sich dem zeitgenössischen, heroischen Diskurs einer immer inklusiveren, „emanzipatorischen“ Presse zu sehr anzuschließen. Exklusion sei kein überwindbares Relikt vergangener Gesellschaftsformen, sondern vielmehr ein konstitutives Element der Gesellschaft.

In der ersten Sektion des zweiten Tages ging es dann um die Präsentation „alltäglicher Sensationen“ in den Medien. Anne-Claude AMBROISE-RENDU begann mit einem Vortrag zu den so genannten „faits divers“ in Frankreich. Diese dienten, so ihre These, keineswegs nur der Unterhaltung, sondern vielmehr auch gesellschaftlicher Normierung und Regulierung. Die „faits divers“ hätten darüber hinaus den Glauben ihrer Leser an die Beeinflussbarkeit der Politik bestärkt, indem sie Politiker durchaus erfolgreich zur Behebung erkannter Missstände aufforderten. Philipp MÜLLER sprach im anschließenden Referat über die Herstellung der Figur des „Hauptmanns von Köpenick“ durch die Berliner Presse um 1900. Die vor allem von den Behörden gewünschte Kriminalisierung des Täters konnte sich laut Müller keineswegs allgemein durchsetzen. Die tragikomische „Überhöhung“ des Täters verdanke sich letztlich den medialen Bedingungen in Berlin, wo Unterhaltung und Vergnügen um 1900 einen immer zentraleren Platz eingenommen hätten. Der Kommentar von Jörg REQUATE sowie die Diskussion kreisten schnell um die Frage des politischen Charakters von Unterhaltung. Gerade die „faits divers“ seien in der Lage gewesen, aus „Vergnügen“ Politik zu machen. Die strikte Unterscheidung von politischen und unpolitischen (kommerziellen, unterhaltenden) Zeitungen wurde damit in Frage gestellt.

Damien DE BLIC eröffnete die folgende Sektion zu „Skandalisierungen“ mit seinem Vortrag über den Panamaskandal in Frankreich. An diesem Beispiel werde besonders deutlich, wie die zahlreichen Skandale am Ende des 19. Jahrhunderts sowohl in der Presse als auch in der französischen Gesellschaft erhebliche Wandlungsprozesse einleiteten. Die Medien entdeckten Skandalisierung als neues politisches Instrument, in der Gesellschaft wurden Journalisten zunehmend als potenziell korrupt eingestuft und kritisch beäugt. Martin KOHLRAUSCH und Frank BÖSCH sprachen danach über Skandale im deutschen Kaiserreich. Kohlrausch betrachtete die Wirkungen von Skandalisierung aus der Perspektive des Kaisers. Zwar stabilisierten Skandale die Monarchie kurzfristig, weil sie dem Volk Mitspracherecht und Aussicht auf Verbesserung suggerierten. Langfristig entwickelte sich laut Kohlrausch jedoch eine dynamisierende Wirkung, da die Fehler des Kaisers sehr genau registriert und ihm in späteren Fällen negativ angerechnet wurden. Für Bösch, der eher aus einem „emanzipatorischen“ Blickwinkel argumentierte, waren Skandale Ausdruck quasi demokratischer Medienöffentlichkeiten, die gegen die wilhelminische Autorität ankämpften und, wie er in seinem Referat an einigen Beispielen zeigte, auch in der Lage waren, dem Obrigkeitsstaat seine Grenzen aufzuzeigen. Diese positiv konnotierten Auswirkungen von Skandalisierung griff Christophe CHARLE in seinem Kommentar auf und stellte eine zu optimistische Darstellung in Frage. Wie man nicht zuletzt an der Entstehung gefährlicher Populismen erkennen könne, sei die demokratiefördernde Wirkung von Skandalen doch sehr beschränkt. Des Weiteren trat Charle besonders für die Erstellung einer Typologie von Skandalen ein, mit der man auch international vergleichend arbeiten könne.

Zur Eröffnung der letzten Sektion des Tages behandelte Laurent BIHL zunächst das Verhältnis von satirischen/pornografischen Bildern und Zensurgesetzen zwischen 1881 und 1914. Nach einem Überblick über die maßgeblichen Gesetze sowie einigen Beispielen zensierter Bilder verglich Bihl mit Autozensur und absichtlichem Gesetzesbruch zwei geradezu gegensätzliche verlegerische Reaktionsstrategien anhand zweier konkreter Fälle. Daniela KNEIßL referierte danach über die 1878 gegründete Zeitschrift Le Père Gérard, die sich explizit an die bäuerliche Landbevölkerung richtete. Kneißl konzentrierte sich dabei auf verschiedene Wege der Vermittlung republikanischer Werte durch die Zeitschrift: Die Nutzung von Licht- und Sonnensymbolik, Personifizierung der Republik etwa durch die Marianne, oder auch eine umfassende Substitution besonders napoleonischer Symbolik. Während Kneißl sich eher mit kleinen und einfach gezeichneten Bildern auseinander setzte, behandelte Frank BECKER mit dem riesigen, hyperrealistischen Panorama den gegenteiligen Fall. Er verglich zunächst Panoramen in Deutschland und Frankreich nach dem Krieg von 1870/71. Anschließend zeigte er besonders am deutschen Fall die nationsbildende Funktion des Panoramas, welches den Besuchern ein gemeinsames Kriegserlebnis, die Vorstellung einer „Nation als Erfahrungsgemeinschaft“, ermöglicht habe. Mit dem Einsatz von Lichtbildprojektionen in der Armenfürsorge sprach Ludwig VOGL-BIENEK im abschließenden Vortrag über ein nur wenig bekanntes Visualisierungsmedium. Lichtbilder seien aber im Zusammenhang der sozialen Frage während des gesamten 19. Jahrhunderts mit steigender Tendenz genutzt worden und stellten deshalb eine wichtige Quelle zur Erforschung der „Mediengesellschaft“ dar. Gesellschaftliche Probleme wurden hier laut Vogl-Bienek häufig in narrativer Form abgehandelt, so dass auch die Projektion „Unterhaltung“ und anschauliche „Belehrung“ miteinander verknüpfte. Der Kommentar von Andreas BIEFANG thematisierte ähnlich wie die anschließende Debatte besonders das Verhältnis von Text- und Bildmedien, die spezifisch visuelle Wirkung von Bildern sowie Möglichkeiten und Grenzen einer Bildwirkungsforschung.

In einem Schlusskommentar fasste Jörg REQUATE die wichtigsten Probleme der Konferenz aus seiner Sicht noch einmal zusammen. Zunächst habe die Tagung verschiedenste Fragen zu Periodisierung und Zäsursetzung aufgeworfen und diskutiert. Als zentrale Aspekte der Mediengesellschaft im 19. Jahrhundert seien in besonderem Maße Pädagogik und Erziehung herausgearbeitet worden, wobei Requate anmahnte, den historischen Wandel dieser Konzepte genau nachzuzeichnen. Die Beiträge hätten ebenfalls Licht auf die verschiedenen Medienrezipienten geworfen: So könne man etwa zwischen Großstadtblättern und Zeitungen für die bäuerliche Landbevölkerung differenzieren. Für die Auflösung einer weiteren Unterscheidung von politischen und kommerziellen Medien plädierte erneut Thomas Mergel. Jörg Requate griff dann noch einen letzten wichtigen Aspekt der Tagung auf: Auch wenn Mediengeschichte, wie in einigen Diskussionsbeiträgen erwähnt, nicht auf Pressegeschichte reduziert werden könne, so sei die Presse doch das Leitmedium des 19. Jahrhunderts gewesen und von daher zunehmend ins Zentrum der gesellschaftlichen Kommunikationsprozesse gerückt. Abschließend äußerte sich Requate positiv zu der Tatsache, dass auf einer deutsch-französischen Konferenz auch einige Anknüpfungspunkte zwischen französischer und deutscher Mediengeschichte zutage getreten seien, die man in Zukunft dann stärker ausnutzen könne als bisher geschehen.