Genizat Germania – hebräische Einbandfragmente aus Deutschland

Genizat Germania – hebräische Einbandfragmente aus Deutschland

Organisatoren
Prof. Dr. Andreas Lehnardt Seminar für Judaistik Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.06.2007 - 07.06.2007
Von
Peter Klaiber

Bereits im Sommer 2006 wurde am Seminar für Judaistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz unter der Leitung von Professor Andreas Lehnardt ein Projekt zur Erforschung hebräischer Einbandfragmente in den Stadtbibliotheken von Mainz und Trier lanciert. Für eine Zusammenarbeit konnte das Historisch-Kulturwissenschaftlichem Forschungszentrum Mainz-Trier (HKFZ) gewonnen werden.

Hebräische Einbandfragmente stellen eine wichtige Quelle für das Verständnis der jüdischen Literaturgeschichte am Ausgang des Mittelalters dar. Die im Rahmen des Projekts gemachten Funde sind zum Teil unbekannte, jüdische Texte aus der Spätantike und dem Mittelalter. Aber nicht nur der Inhalt, sondern auch die Geschichte der Fragmente wird von der Forschung immer mehr als aufschlussreiches, wissenschaftliches Quellenmaterial wahrgenommen. So können anhand der Fragmente wichtige Informationen über die Vielfalt jüdischer Literatur im Mittelalter und ihre regionale Verbreitung gewonnen werden. Das von Professor Lehnardt initiierte Projekt hat mittlerweile reges Interesse und zahlreiche Reaktionen im In- und Ausland hervorgerufen und so war es eine logische Konsequenz, eine internationale Konferenz zum Thema hebräische Einbandfragmente in Mainz zu veranstalten.

Die Konferenz Genizat Germania versammelte vom 06.-08. Juni 2007 deutsche, israelische, italienische und französische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, um den aktuellen Stand, Probleme und Perspektiven der Erforschung hebräischer Einbandfragmente in Europa zu diskutieren. Eine Genizah (im Constructus Genizat) ist ursprünglich der Raum in der Synagoge, in dem alte, nicht mehr für den Gebrauch geeignete liturgische und sakrale Texte aufbewahrt werden. Heute wird der Begriff aber auch gerne allgemein für Fundorte unbekannter Schriften und Fragmente benutzt, gewissermaßen als Metapher für unerschlossene Wissensräume.

Abbildung 1
Abb. 1: Talmud-Handschrift aus dem 14. Jh. im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (Photo: Prof. Andreas Lehnardt)

Die Konferenz fand im Atrium-Hotel in Mainz-Finthen statt. Gefördert wurde sie von der Gerda Henkel-Stiftung, dem HKFZ, dem Seminar für Judaistik an der Johannes Gutenberg-Universität und den Freunden der Gutenberg-Unversität. Feierlich begrüßt wurden die internationalen Gäste am Mittwochabend vom Vizepräsident der Mainzer Universität, Professor Jürgen Oldenstein, dem Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Professor Friedrich Wilhelm Horn, und der Sprecherin des HKFZ, Professor Mechthild Dreyer.

Die einzelnen Beiträge lassen sich in drei Themenschwerpunkten zusammenfassen: die Geschichte der so genannten Genizah-Forschung im Allgemeinen und speziell im europäischen Raum, paläographische Fragestellungen und bemerkenswerte Textfunde.

Abbildung 2
Abb. 2: Religionsgesetzliches Werk aus dem Mittelalter in der Bibliothek des Gutenberg Museums in Mainz (Photo: Prof. Andreas Lehnardt)

Avraham David von der Jewish National Library Jerusalem (JNUL) stellte die erste europäische Genizah, die Genizat Italia, vor. Diese größte bisher entdeckte europäische Sammlung hebräischer Einbandfragmente weist vorrangig literarischen Charakter auf. Dies ist laut David auf die Größe der Bücher, die mit den Fragmenten eingeschlagen wurden, zurückzuführen. Die großen Formate ließen keine Verwendung von Dokumenten (Heirats- oder Scheideurkunden) zu. David berichtete in diesem Zusammenhang von spektakulären Dokumenten-Funden im Archiv der katalanischen Kleinstadt Gerona, die uns signifikante Auskünfte über das mittelalterliche, katalanische Judentum geben.

Einen detaillierten Status quo der italienischen Genizah überbrachte Saverio Campanini im Namen von Mauro Perani (Universität Bologna). Über ein Drittel der italienischen Funde wurden in den Archiven von Bologna entdeckt. Ein weiteres Drittel in Modena (sowohl Staats- als auch Stadtarchiv). Andere Fundorte sind Archive und Bibliotheken in Nonantola (historisches Stadtarchiv), Pesaro (historisches Archiv), Rimini, Forlì und Cento (jeweils Staats- oder Gemeindearchiv und öffentliche Bibliothek). Eine Besonderheit der Fragmente wurde im Zusammenhang der Untersuchung der Talmud-Fragmente in Zusammenarbeit mit Yaacov Sussmann von der Hebräischen Universität Jerusalem verzeichnet: Gegen den statistischen Trend vorrangig ashkenazischer Handschriften (42% gegenüber 29% sefardischer und 28% italienischer Handschriften) dreht sich das Verhältnis bei den Talmudfragmenten zugunsten der Sefardischen (52% gegenüber 23% ashkenazischer und 23% italienischer Handschriften).

Michael Krupp illustrierte anhand zahlreicher Bilder seine Präsentation hebräischer Einbandfragmente aus dem Jemen. Dort sind vermutlich ganze Handschriften systematisch in die Makulatur von Büchern eingebunden worden. Im Gegensatz zur europäischen Genizah kennt die jemenitische auch zahlreiche Dokumentenfunde.

Judith Olszowy-Schlanger von der École Pratique des Hautes Études (E.P.H.E), Paris, stellte ihrem Überblick über die fortschreitende Katalogisierung hebräischer Handschriften und Fragmente in Frankreich und Polen einen historischen Exkurs in die Geschichte der Paläographie voran. Dabei wies sie darauf hin, dass die ersten Paläographen im Kreise der Wissenschaft des Judentums, wie Moritz Steinschneider, den Wert von Einbandfragmenten bzw. Genizot nicht erkannten. Heute, so Olszowy-Schlanger, werde der Fragmentenforschung soviel Aufmerksamkeit geschenkt, weil man begreife, dass nicht nur der philologische Wert des Fragments interessant ist, sondern auch die Frage, wie und warum das Fragment an seinen Platz gekommen ist. Aus diesem Grund appellierte sie auch gegen eine rücksichtslose Auslösung der Fragmente aus der Bindung. Dieser Punkt wurde mehrfach im Verlaufe der Tagung kontrovers diskutiert.

Aus Österreich berichtete Josef Oesch (Universität Innsbruck) über das von Ferdinand Dexinger 1991 initiierte und nun von ihm fortgeführte Projekt „Hebräische Handschriften und Fragmente in österreichischen Bibliotheken“. Die Bibliotheksrecherchen sind weitgehend abgeschlossen und von den 1100 katalogisierten Fragmentseiten konnten bereits 600 durch Almuth Laufer (Jerusalem) identifiziert werden. Darüber hinaus konnte man bisher 550 Falze sichten. Das bis dato identifizierte Material besteht zu 40% aus Bibelkommentaren und Targumim (spätantike aramäische Bibelübersetzungen), zu 10% aus Liturgie-Literatur und 10% sind unter „Sonstiges“ zu notieren.

Gastgeber Andreas Lehnardt stellte seine bisherigen Funde im Rahmen der Genizat Germania vor. Er machte die Beobachtung, dass die in deutschen Bibliotheken, vor allem Trier, Mainz und Frankfurt, gefundenen Fragmente meistens in Büchern aus Klosterbeständen zu finden sind. Ob dies auf eine antijüdische Motivation zurück zu führen ist, ist pauschal nicht zu beantworten. Erwähnenswert ist in diesem Kontext die Entdeckung, dass auch jüdische Bücher mit christlichen Fragmenten eingebunden wurden. Ob solch ein Fund jedoch lediglich singulären Charakters ist, bleibt abzuwarten. Aus der ehemaligen jüdischen Gemeindebibliothek, die nach 1945 in die Obhut der Mainzer Universität übergeben wurde, brachte Lehnardt als Anschauungsobjekt einen dicken, hölzernen Buchdeckel mit in die Makulatur geklebtem, christlichem Fragment mit.

Von einem kuriosen Genizah-Fund berichtete Andreas Kunz-Lübcke (Universität Leipzig). Zufällig fand er ein hebräisches Einbandfragment um ein Zechenregister in der Montanstadt Freiberg (Sachsen). Bei Nachforschungen entdeckte er insgesamt acht Fragmente, die frühesten um das Zechenregister von 1608. Bei den Fragmenten handelt es sich um Torafragmente mit den dazu gehörigen Stellen aus dem Targum Onkelos und um Mahzor-Fragmente. Es liegt nahe, dass die Fragmente nach der Vertreibung der Juden von 1448/49 in christliche Klöster kamen und von dort in die Hände der Zechenbesitzer gerieten. Die aramäischen Partien der Handschriften weisen orthographische Besonderheiten auf.

Elisabeth Hollender (Düsseldorf) konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf die Erforschung der Trierer Genizah. Oberrabiner Bassfreund hat zwar 1892 eine vollständige Beschreibung der liturgischen Fragmente vorgenommen. Beim heutigen Forschunsgsstand kann eine Überarbeitung des Materials aber neue Erkenntnisse über den Ritus und die Verbindung von liturgischen Studien mit paläographischen Fragestellungen bringen. So könnten nach Hollenders Überzeugung ganze Gebetbücher jüdischer Gemeinden des Mittelalters wieder zusammengetragen werden und abweichende Minhagim (Bräuche) ein detailliertes Bild des mittelalterlichen Judentums und seiner unterschiedlichen Bräuche ermöglichen.

Abbildung 3
Abb. 3: Hirsch zur Verzierung in einer Gebetbuch-Handschrift (Mahzor), Stadtarchiv Friedberg, Hessen (Photo: Prof. Andreas Lehnardt)

Neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der paläographischen Forschung waren ein weiterer Schwerpunkt der Mainzer Konferenz. Naomi Feuchtwanger-Sarig (Jerusalem) unterstrich die bisher stark vernachlässigten Potenziale der Forschungsergebnisse aus der Kunstgeschichte. Zwar seien Kolophone (Schlussformeln) von Buchillustratoren nicht bekannt, dennoch könnten Illustrationen einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung von Handschriften leisten. Eine sorgfältige Analyse der Ikonographie und der stilistischen Merkmale einer Illustration kann es ermöglichen, das Umfeld der Handschriftenproduktion näher zu bestimmen. Hierbei kann man Handschriften anhand der Illustrationen regional verorten, teilweise ist sogar das Atelier, in welchem die Handschrift bearbeitet wurde, zu bestimmen. Anhand dieser Informationen können selbst undatierte Fragmente datiert und lokalisiert werden.

Edna Engel (Jerusalem) konzentrierte sich in ihrem Vortrag auf die Entwicklung der ashkenazischen Quadratschrift. Dieser Schrifttyp ist aus datierten Handschriften des französischen und deutschen Raumes zwischen dem 12. und 16. Jh. bekannt. Bei dieser Untersuchung ist der Vergleich von Grabinschriften und Manuskripten maßgeblich. Während im 12. Jh. eine einfache Schrift vorherrscht, sind die Buchstaben im 13. und 14. Jh. reich verziert. Im 15. Jh. wiederum ist das gesamte Schriftbild durch eine strenge Ausrichtung an der Vertikalen geprägt. Auch die Beschaffenheit der Handschrift kann somit ein wichtiges Hilfsmittel zum datieren von Fragmenten darstellen.

Den dritten Akzent setzten die Beiträge zur inhaltlichen Erforschung von Fragmenten. Hier zeigte sich eindrucksvoll, wie wichtig das Forschen und Erforschen von Fragmenten für die Wissenschaft ist. Saskia Dönitz (Berlin) wurde 1998 auf 80 hebräische Mahzorfragmente im Stadtarchiv von Hildesheim aufmerksam gemacht. Die Fragmente wurden zum Einschlagen von Rechnungsbüchern benutzt. Da die ansässige, jüdische Gemeinde Hildesheim im Jahr 1457 verließ und die ältesten Rechnungsbücher das Datum 1479 tragen, handelt es sich beim Mahzor aus Hildesheim um einen der wenigen Fragmentenfunde, dessen historischer Hintergrund geklärt werden konnte.

Emanuel Simha (Hebräische Universität Jerusalem) stellte zwei bis heute unbekannte Bibelkommentare vor, die lediglich aus Fragmenten bekannt sind. Ein Kommentar zum Buch der Psalmen des Rabbi Elazar von Worms (geboren 1160/65), in dem sich der Verfasser gegen die jüdische Tradition für König David als Autor der Psalmen ausspricht. Das zweite Fragment ist ein Kommentar zu Kohelet, das in Salzbug gefunden wurde. Dieser Kommentar wurde vermutlich im 12. Jh. von einem Neffen Rashis, einem Bruder des Rashbams, verfasst.

Klaus Herrmann (Freie Universität Berlin) brachte neue, mystische Fragmente aus der Kairoer Genizah mit. Das Gebet des Rav Hamnuna Sava zeigt fast kaleidoskopartig das gesamte Spektrum früher mystischer Topoi auf und ist von einigen weiteren Fragmenten abhängig und umgekehrt.

Ein neues Kapitel der Intertextualität in der Tradition des Alexanderromans kündigte Peter Sh. Lehnardt (Ben-Gurion Universität des Negev, Beer Sheva) an. In Fragmenten aus einem Einband der Bayrischen Staatsbibliothek fand er ein bisher unbekanntes Ende einer hebräischen Alexanderversion. Hierbei scheint es sich um eine Version zu handeln, die stark von der mittelalterlichen französischen Version von Alexandre de Bernay abhängig ist und auf diesem Wege Rückschlüsse auf ein frühes kulturelles und gegenseitiges Interesse von Juden an den Umweltkulturen zulässt.

Saverio Campanini (FU Berlin) stellte, nachdem er bereits anstelle des kurzfristig erkrankten Mauro Perani von der so genannten italienischen Genizah berichtet hatte, einen Kommentar zu den Ahzarot des Elijahu bar Menachem von Le Mans vor, der in einigen Fragmenten in der Gemeindebibliothek von Alessandria erhalten ist.

Um den Konferenzteilnehmern einen Einblick in die tägliche wissenschaftliche Arbeit in Mainz zu ermöglichen, hielt Andreas Lehnardt ein fachlich der Konferenz um nichts nachstehendes Rahmenprogramm bereit. Schon am Mittwoch konnten sich die Teilnehmer von der Leiterin der Abteilung für Rara, Handschriften, Alte Drucke und Bestandserhaltung Frau Annelen Ottermann, M.A., in der Stadtbibliothek Mainz von der Wichtigkeit der weiteren Erforschung der Genizat Germania überzeugen lassen. Frau Ottermann präsentierte eine ästhetisch eindrucksvolle Auswahl an Einbandfragmenten, sodass es den Besuchern teilweise schwer viel, nicht sofort die Fragmente aus den Büchern zu lösen. Hierbei wurde auch noch einmal die bereits angesprochene Frage, ob Fragmente ausgelöst werden dürfen und warum, aufgeworfen und kontrovers diskutiert.

Von der Stadtbibliothek ging es direkt weiter in die Gutenberg-Bibliothek. Herr Staub und sein Team führten Fragmente aus Inkunabeln vor. Hier wurde auch noch einmal die oft stiefmütterliche Katalogisierung von Fragmenten in der Vergangenheit beklagt. Zum Abschluss der Konferenz ging es am Freitagmorgen noch auf den alten jüdischen Friedhof in Mainz, den so genannten Judensand. Josef Bamberger zeigte die Grabsteine der wichtigen Mainzer Rabbiner und es war auch noch Zeit für paläographische Untersuchungen der Grabsteine. An die Besichtigung des Friedhofes schloss sich noch der Besuch des Gutenbergmuseums an.

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Abb. 4: Die Konferenz bei der Besichtigung der Funde in der Stadtbibliothek Mainz (Photo: Prof. Andreas Lehnardt)

Es bleibt zu hoffen, dass die Konferenz und die daraus hervorgehenden Beiträge, die gesammelt publiziert werden sollen, weitere Kreise auf das Thema der zahlreich verstreuten hebräischen Einbandfragmente aufmerksam gemacht werden und somit dazu beigetragen wird, die „Deckel eines Buchs so ernst zu nehmen wie das Papier dazwischen.“

Kontakt

Professor Dr. Andreas Lehnardt
Seminar für Judaistik
Saarstr. 21
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Forum 5
55099 Mainz

Telefon: +49 06131/39-20312
Fax: +49 06131/39-26700

http://www.genizatgermania.uni-mainz.de/
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