Mobilising Rural Society. Central and Eastern Europe from the 1870s to the 1920s

Mobilising Rural Society. Central and Eastern Europe from the 1870s to the 1920s

Organisatoren
Arnd Bauerkämper, Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas und Freie Universität Berlin; András Vári, Universität Miskolc
Ort
Budapest
Land
Hungary
Vom - Bis
13.04.2007 - 14.04.2007
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Von
Uwe Müller, Forschungsstelle für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas, Europa-Universität Viadrina

Am 13. und 14. April 2007 fand an der Central European University Budapest (CEU) eine internationale Konferenz zum Thema „Mobilising Rural Society. Central and Eastern Europe from the 1870s to the 1920s“ statt. Die von der Gerda Henkel Stiftung geförderte Tagung wurde von PD Dr. Arnd Bauerkämper (Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas und Freie Universität Berlin) und Dr. András Vári (Universität Miskolc) organisiert und geleitet. An der Veranstaltung, die als Workshop konzipiert war, nahmen ca. 20 Wissenschaftler aus sieben Ländern (Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Polen, Rumänien, Ungarn) teil. Die CEU bot eine ausgezeichnete Arbeitsatmosphäre. Die Organisatoren hatten darauf geachtet, dass der Zeitplan genug Raum für Diskussionen ermöglicht. Vorträge und Diskussionen fanden in englischer Sprache statt.

Nach der Begrüßung der Teilnehmer durch Prof. Dr. Laszlo Kontler (CEU, Budapest) erläuterten die Organisatoren das Ziel der Tagung. András Vári übernahm hierbei den allgemeineren Part. Er diagnostizierte zunächst ein Defizit in der historischen Forschung über die ländliche Gesellschaft Mittel- und Osteuropas im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Häufig werde daher die Komplexität der Transformation von der ländlichen zur Industriegesellschaft unterschätzt. Einerseits begann die Erosion der traditionellen Gesellschaft bereits deutlich vor der eigentlichen Industrialisierungsperiode, andererseits erlebte die bäuerliche Familienwirtschaft im Zuge der in den 1880er Jahren einsetzenden europäischen Agrarkrise eine gewisse Renaissance. Die Untersuchung dieses nicht allein mit ökonomischer Rationalität zu erklärenden Trends erfordert eine interdisziplinäre Herangehensweise, da nur die Integration verschiedener Forschungsrichtungen und ihrer methodischen Kompetenzen zu einer komplexen Sicht auf die ländliche Gesellschaft führen kann.

Wie schwierig dieses Unterfangen ist, sollte durchaus auch diese Tagung deutlich machen. Zwar wurde hier eine gelungene Mischung von Überblicksdarstellungen und Fallstudien präsentiert. Es dominierten allerdings „klassische“ sozialhistorische Perspektiven, die mitunter durch wirtschafts- und kulturhistorische Ansätze ergänzt wurden. Anthropologie oder Alltagsgeschichte traten dagegen in den Hintergrund. Dieses Ungleichgewicht stellt aber weniger ein Versäumnis der Organisatoren dar, sondern spiegelt die offenbar nicht nur in Deutschland zu konstatierende tendenzielle Marginalisierung der neueren Agrargeschichte wider. Neben der Öffnung für kulturwissenschaftliche Fragestellungen dürfte die Lösung von der nationalen Perspektive ein wichtiger Schritt zur Erneuerung der Agrargeschichte sein. Insofern hatte dieser Workshop durchaus einen Weg weisenden Charakter.

Arnd Bauerkämper charakterisierte anschließend die wesentlichen Entwicklungsprozesse, welche die ländliche Gesellschaft um 1900 prägten. Aus wirtschaftshistorischer Sicht lassen sich auf globaler, aber auch auf regionaler und lokaler Ebene massive Integrationsprozesse diagnostizieren. Dies gilt nicht zuletzt für die deutlich ansteigende dauerhafte und saisonale Migration. Gleichzeitig traten in den Dörfern neue Akteure auf den Plan. Die damit einhergehende politische Mobilisierung stand insbesondere in Mittel- und Osteuropa mit Nationsbildungs- und Demokratisierungsprozessen in engem Zusammenhang. Als Leitfragen der Tagung, die dann tatsächlich in den Diskussionen immer wieder eine Rolle spielten, nannte Bauerkämper die Interdependenz und partielle Gegenläufigkeit von sich ausbreitendem Agrarkapitalismus, politischer Mobilisierung sowie kulturellem und sozialem Wandel auf dem Lande. Auch Bauerkämper kritisierte, dass das über viele Jahrzehnte herrschende Industrialisierungsparadigma zu einer Unterschätzung der agrarischen Prägung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert geführt hat. Schließlich waren um 1900 in der überwiegenden Mehrheit der europäischen Länder und durchaus auch in vielen mitteleuropäischen Regionen immer noch mehr Menschen in der Landwirtschaft als im sekundären Sektor beschäftigt. Schon deshalb sollte die Entwicklung der ländlichen oder „Bauerngesellschaft“ nicht allein als Geschichte von Überresten der traditionellen Gesellschaft interpretiert werden. Bauerkämper forderte einen Vergleich zwischen den verschiedenen Teilen Europas ein, um so unter anderem die allgemeine Vorstellung vom innereuropäischen West-Ost-Gefälle kritisch überprüfen zu können.

Die Reihenfolge der Vorträge erfolgte entsprechend den Schwerpunkten in Sektionen über den „Einfluss wirtschaftlicher Brüche, ethnischer Differenzen und staatlicher Interventionen“, „soziale und räumliche Mobilität sowie ländliche Immigration und Emigration“, „Konfession, Ethnizität und Kultur“ sowie „Kommerzialisierung und Integration“.

In der ersten von Constantin Iordachi (CEU, Budapest) geleiteten Sektion referierte zunächst Arnd Bauerkämper über „Das Ende der Bauerngesellschaft? Agrarkapitalismus und Staatseinfluss in Brandenburg (1873-1923)“. Darin resümierte er zunächst die für die Bauern durchaus ambivalenten Resultate der seit 1807/10 durchgeführten preußischen Agrarreformen. Nach der Reichsgründung beschleunigte sich die agrarkapitalistische Entwicklung. Diese ging mit einem raschen Produktivitätszuwachs, der Mechanisierung, Intensivierung und Diversifizierung der Produktion sowie einem wachsenden Anteil von bürgerlichen Eigentümern und Pächtern am Großgrundbesitz einher. Gleichzeitig wuchs dessen Verschuldung. Die Landflucht und die Beschäftigung von Saisonarbeitern nahmen zu, während sich die paternalistischen Bindungen der traditionellen Landarbeiterschaft an die Gutsbesitzer auflösten. In den fernab von Berlin gelegenen Regionen verloren die Kleinstellen an Rentabilität, so dass der Familienunterhalt nur durch zusätzliche Verdienstmöglichkeiten in der Industrie sichergestellt werden konnte. Insgesamt blieben die bäuerlichen Betriebe Brandenburgs hinsichtlich des Einsatzes von Maschinen und Kunstdünger hinter dem Großgrundbesitz, aber auch hinter vergleichbaren Höfen im mittleren und südwestlichen Deutschland zurück. Parallel dazu erfolgte eine massive Politisierung der ländlichen Gesellschaft, da einerseits der Staat seit den 1870er Jahren durch Schutzzölle und andere Subventionen in die Landwirtschaft eingriff, sich andererseits zahlreiche agrarische Interessenorganisationen bildeten, die häufig auch dazu dienten, den Einfluss von Sozialdemokratie und Gewerkschaften unter der Landarbeiterschaft einzudämmen. Trotz der Parzellierungen und des abnehmendem Anteils am Bodeneigentum dominierte der Großgrundbesitz bis zur Bodenreform von 1945/46 das soziale Leben in den brandenburgischen Dörfern.

In der anschließenden Diskussion ging es vor allem um die ökonomischen und sozialen Indikatoren des Agrarkapitalismus und die Repräsentativität des Brandenburger Beispiels für das ostelbische Deutschland.

Im zweiten Vortrag dieser Sektion sprach Gustavo Corni (Trient) über „Das vielfältige Italien. Rückständigkeit und Fortschritt in der ländlichen Gesellschaft (1860-1914)“. Corni ging es hier um nicht weniger als eine Korrektur der von der marxistischen These von der ursprünglichen Akkumulation ausgehenden Sicht auf die Geschichte der italienischen Industrialisierung und die damit verbundene Bewertung aller Industrialisierungsvorgänge am englischen Referenzmodell. In Italien nahm zwischen 1880 und 1920 der bäuerliche Landbesitz ebenso zu wie in Deutschland und Frankreich. Dies sollte jedoch nicht als Hemmnis für eine industrielle Entwicklung Italiens gewertet werden. Wie die Enquete Stefano Jacinis aus den 1880er Jahren zeigt, haben vor allem in Oberitalien zahlreiche Mitglieder dieser Bauernfamilien in der Industrie gearbeitet. Vor allem die erfolgreiche Entwicklung der nicht vom Staat subventionierten Seidenindustrie basierte nicht zuletzt auf dem saisonalen oder ständigen Einsatz von Frauen und Kindern aus Bauernfamilien. Industrie und Landwirtschaft bildeten also keine sich ausschließende Alternativen, sondern standen in einem komplementären Verhältnis. Mit den Einnahmen aus einer oft hoch spezialisierten Landwirtschaft und der Industriearbeit gelang es vielen „Industrie-Bauern“ in den zwanziger Jahren, ihren Landbesitz zu vergrößern. Der sich hierbei herausbildende Mittelstand bildete eine wichtige soziale Basis für den italienischen Faschismus. Im südlichen und mittleren Italien standen sich hingegen weiterhin extensiv arbeitende Latifundienbesitzer und eine sehr arme, beinahe landlose Bevölkerung gegenüber. Aber auch hier gab es Regionen (Campanien) oder auch nur vereinzelte Dörfer, die eine profitable, spezialisierte Landwirtschaft betrieben, was von der agrarhistorischen Forschung noch genauer zu untersuchen ist.

Die sich anschließende lebhafte Diskussion bemühte sich um eine genauere Begriffsabgrenzung zwischen „rückständig“ und „traditionell“. Außerdem wurde über die soziale Herkunft der in den zwanziger Jahren entstehenden neuen Schicht kleiner Grundbesitzer und die verschiedenen Phasen der italienischen Emigration sowie die unterschiedlichen Haltungen der italienischen Liberalen und Faschisten gegenüber der Auswanderung ihrer Landsleute diskutiert.

Letzteres leitete bereits in die zweite Sektion „Soziale und räumliche Mobilität sowie ländliche Emigration und Immigration“ über, die von Viktor Karády (CEU, Budapest) geleitet wurde. Zunächst referierte Hermann Zeitlhofer (Wien) über „Saisonale Migration in Böhmen um 1900“. Dabei wurden Teilergebnisse eines größeren Projektes über Migrationsmuster in der österreichischen Hälfte der Habsburgermonarchie zwischen 1850/70 und 1914 vorgestellt. Zeitlhofer verwies darauf, dass sich die historische Migrationsforschung zumeist auf die transkontinentale Auswanderung sowie Wanderung vom Lande in die Stadt als konstitutives Element der Urbanisierung konzentriert hat. Tatsächlich waren die Migrationsmuster jedoch wesentlich vielfältiger, da es auch eine bedeutende Wanderung zwischen verschiedenen ländlichen Regionen sowie auch eine Rückwanderung aus den Städten auf das Land gegeben hat. Außerdem muss klar zwischen dauerhafter und saisonaler Migration unterschieden werden. Für Böhmen zeigen bereits die Volkszählungsdaten, dass im Jahre 1910 der Anteil der außerhalb der jeweiligen Bezirke geborenen Personen auch im agrarisch geprägten Südböhmen häufig über 15 Prozent lag. Die durch die im Dezember durchgeführten Volkszählungen häufig nicht erfassbare Saisonwanderung lässt sich im Falle Böhmens mit Hilfe einer Untersuchung aus dem Jahre 1913 rekonstruieren. Danach gab es nicht nur eine starke temporäre Migration aus Südböhmen in die sächsische Landwirtschaft und Industrie (Ziegeleien, Textilproduktion) sowie nach Wien, sondern auch bedeutende Wanderungsbewegungen zwischen benachbarten böhmischen Bezirken sowie aus Ostböhmen in den Süden und Westen des Kronlandes, wo Tausende Saisonarbeiter in der Hopfen- oder Zuckerrübenernte arbeiteten. Darunter kamen auch viele aus der Slowakei (Oberungarn) und sogar aus den industriell geprägten Bezirken Nordböhmens. Häufig stellte eine Kombination aus landwirtschaftlicher und protoindustrieller Tätigkeit mit temporärer Emigration die Grundlage familiärer Überlebensstrategien dar.

In der Diskussion wurde auf die Bedeutung von Migrationstraditionen, ähnliche Erscheinungen in anderen Teilen Europas (Frankreich) sowie das Streben vieler Saisonarbeiter hingewiesen, sich mit den in der Fremde erzielten Einnahmen eine die Existenz der Familie sichernde Bauernwirtschaft zu erwerben.

Im zweiten Vortrag der Sektion sprach Włodzimierz Mędrzecki (Warschau) über „soziale und territoriale Mobilität der polnischen Bauern 1864-1914/21“. Er schilderte zunächst die quantitative Dimension der transnationalen Emigration, der Land-Stadt-Wanderung sowie der Saisonwanderung. Daraus leitete Mędrzecki den Befund ab, dass es kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges nur wenige polnische Bauernfamilien, die keine Angehörigen hatten, welche entweder als Saisonarbeiter arbeiteten oder dauerhaft in mehr oder weniger weit entfernten Städten bzw. gar auf anderen Kontinenten lebten. Dennoch scheint die Lebenserfahrung dieser mehrere Millionen zählenden Migranten nur einen geringen Einfluss auf die Lebensverhältnisse in den polnischen Dörfern gehabt zu haben. Mędrzecki erklärte diesen Umstand damit, dass die Emigration immer nur teilweise aus den wirtschaftlichen Bedingungen der Herkunftsregion erklärt werden kann. Die meisten Emigranten stammten nicht aus der Hunger leidenden Dorfarmut. Sie waren zumeist relativ jung, wollten (vor allem im russischen Teilungsgebiet) dem Militärdienst entgehen, strebten bewusst nach einer Veränderung ihrer Lebensumstände und zeigten daher in den Zielregionen eine relativ hohe Assimilationsbereitschaft. Wenn polnische Emigranten oder Saisonwanderer in die Heimat zurückkehrten, ging es ihnen zumeist nicht darum, modernere Wirtschaftsformen und demokratische Institutionen zu etablieren, sondern innerhalb der gegebenen polnischen Gesellschaft eine möglichst hohe soziale Position einzunehmen. Erst in der Zwischenkriegszeit bemühte sich ein Teil der aus der Bauernschaft aufgestiegenen Intelligentsia darum, die Bauern politisch zu mobilisieren und ihre soziale Lage zu verbessern.

Im Anschluss an den Vortrag wurde Mędrzeckis These von der strukturkonservierenden Wirkung der Rückwanderung sehr kontrovers diskutiert. Dabei ging es unter anderem um die Frage, ob Genossenschaften eher zur Modernisierung der Produktionsformen oder zur Erhaltung vorhandener Besitzstrukturen dienten.

Im dritten Vortrag dieser Sektion referierte Levente Pakot (Budapest) über „Veränderungen der Familienverhältnisse, Heiratsverhalten und Mobilität in Transsilvanien am Beispiel von Kápolnásfalu (1869-1880)“. Pakot stützte sich in seinem Vortrag auf eine umfangreiche Datenbank, die er durch die Auswertung von Kirchen- und Familienbüchern dieser Gebirgsgemeinde erstellt hat, um das Verhältnis zwischen den einzelnen Haushaltsmitgliedern und deren Veränderungen im Zuge von Industrialisierung, Urbanisierung, Demokratisierung, Alphabetisierung und Säkularisierung zu ermitteln. In seinem Referat hob Pakot vor allem auf das Heiratsverhalten ab, das er hinsichtlich des Heiratsalters und der Auswirkungen auf die neue Familie sowie die ehemaligen Haushalte von Braut und Bräutigam untersuchte. So wechselten zumeist die Frauen nach der Hochzeit in den Haushalt des Mannes und damit in der Regel in den seiner Eltern und Geschwister. In der folgenden Diskussion wurde eine noch stärkere Einordnung der Datenanalyse in die jeweiligen sozialen Kontexte eingefordert.

Der erste Tag des Workshops endete mit der Vorstellung eines gerade begonnenen, von Helga Schultz, Uwe Müller (Frankfurt/Oder) und András Vári (Miskolc) geleiteten, von der VolkswagenStiftung finanzierten Forschungsprojektes über „Agrarismus in Ostmitteleuropa (1890-1960)“ durch dessen Koordinatorin Angela Harre (Frankfurt/Oder). Unter „Agrarismus“ wird hierbei eine Ideologie verstanden, welche die Landwirtschaft als die entscheidende Produktionssphäre und die Dorfgemeinschaft als Kern der gesellschaftlichen und staatlichen Struktur ansieht. Ideologie, Politik und Kultur des Agrarismus werden im Rahmen des Projektes durch mehrere Teilstudien von in der Regel ostmitteleuropäischen Forschern untersucht. Dabei werden besonders die west- und osteuropäischen Quellen des Agrarismus, die Rolle der Bauernparteien in Politik und Gesellschaft der Zwischenkriegszeit sowie ihr Verhältnis zu den autoritären politischen Kräften der dreißiger und vierziger Jahre nachgezeichnet und erklärt.

Der zweite Konferenztag begann mit der von Helga Schultz geleiteten Sektion über „Konfession, Ethnizität und Kultur“. Der Titel von Tobias Dietrichs (Trier) Vortrag lautete: „Von konfessioneller Diversität zur bäuerlichen Gemeinschaft. Religiöses Leben in deutschen und Schweizer Dörfern seit dem ‚Kulturkampf’“. Der Referent untersuchte das Verhältnis zwischen lokaler, nationaler und konfessioneller Identität für verschiedene mehrkonfessionelle Dörfer aus der thurgauischen Schweiz sowie der preußischen Rheinprovinz in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Er betonte, dass trotz einiger Konflikte das dörfliche Leben von einem Miteinander der Konfessionen geprägt war. Dies solle aber nicht vorrangig als Ergebnis eines Säkularisierungsprozesse interpretiert werden. Vielmehr erwiesen sich wirtschaftlicher Pragmatismus und lokale Kulturtraditionen zumeist als stärker handlungsleitend als konfessionelle Gegensätze. Die Durchschlagskraft der staatlichen Administration und die Akzeptanz nationaler Symbolik hingen entscheidend von deren Anschlussfähigkeit an lokale und konfessionelle Traditionen ab.

In der Diskussion wurde hervorgehoben, dass die konfessionellen Konflikte trotz des Kulturkampfes der 1870er Jahre im 19. Jahrhundert insgesamt nicht annähernd die Intensität des 18. Jahrhunderts erreichten. Dies gilt insbesondere in der Rheinprovinz, wo seit der Napoleonischen Besetzung die konfessionelle Trennung der Schulen aufgehoben war.

György Kövér (Budapest) referierte über „Ländliche Migranten. Katholiken und Juden in Tiszaezlár in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“. Dieses direkt an der Theiß gelegene Dorf wurde im Jahre 1882 in ganz Ungarn bekannt, nachdem dessen jüdische Bevölkerung des Mordes an einem vierzehnjährigen Mädchen beschuldigt worden war. Die Angeklagten wurden letztlich freigesprochen, und der Ort galt seitdem als unterentwickelt und von der Außenwelt abgeschnitten. Die Prozessunterlagen und andere statistische Erhebungen geben allerdings Aufschluss über die soziale Struktur des Ortes und zeigen, dass nach 1850 eine massive Zuwanderung in am Ortsrand gelegene Viertel eingesetzt hatte. Dieser Prozess marginalisierte die alte ortsansässige protestantische Bevölkerung, die ab 1880 zur Minderheit wurde. Dies kann als Beleg für ein signifikantes agrarisches Wachstum dienen. Die Zuwanderer stammten größtenteils aus dem gleichen Komitat (Szabolcs), aber auch aus Nordungarn und waren römisch-katholischer oder griechisch-katholischer Konfession oder auch jüdischer Religion. Tiszaezlár war also durchaus nicht rückständig, sondern ein wichtiges Zielgebiet für die Nahwanderung aus anderen agrarischen Gebieten und die Fernwanderung aus den dichter besiedelten Gebirgsregionen.

In der vierten und letzten von Arnd Bauerkämper geleiteten Sektion „Kommerzialisierung und Integration“ sprach zunächst Nadine Vivier (Le Mans) über die „Marktintegration der französischen ländlichen Gesellschaft, 1870-1930“. Sie kritisierte die bekannte und einflussreiche Darstellung Eugen Webers, der die französische Bauernschaft sehr einseitig als barbarisch, ungebildet und am industriellen Fortschritt ihrer Zeit nicht interessiert charakterisiert hat. Vivier betonte hingegen, dass sich die materiellen Voraussetzungen für die Marktintegration in der Periode zwischen den 1830er und 1870er Jahren generell deutlich verbesserten. Dies wurde von der Mehrheit der Bauern genutzt, so dass in den siebziger Jahren die Agrarproduzenten in den meisten Landesteilen gut in den nationalen Markt integriert waren. Die Agrarkrise des späten 19. Jahrhunderts wurde zwar in ganz Europa von der Konkurrenz des amerikanischen und russischen Weizens ausgelöst, traf jedoch in Frankreich auf einige zusätzliche strukturelle Probleme. Die Schädigung der Nutzpflanzen durch Seidenwürmer und Rebläuse sowie die Konkurrenz synthetischer Farbstoffe betrafen wichtige Zweige der französischen Landwirtschaft. Der Niedergang der ländlichen Industrie verringerte zudem Nebenerwerbs- und Absatzmöglichkeiten für die Landwirte. Die Agrarpolitik Melines half bei der Krisenüberwindung, so dass die Landwirtschaft zwischen 1895 und 1914 einen erneuten Aufschwung erlebte. Letztlich waren die Jahre zwischen 1880 und 1914 nicht allein von Protektionismus und Autarkiestreben, sondern durchaus auch von einer Steigerung der agrarischen Produktivität, in vielen Bereichen von einem positiven Strukturwandel sowie vom Aufbau schlagkräftiger wirtschaftlicher Interessenorganisationen gekennzeichnet. Das von vielen Historikern gezeichnete Bild des traditionell wirtschaftenden, unbeweglichen Bauern trifft um 1900 nur für einige wenige Regionen Frankreichs zu.

Den letzten Vortrag hielt András Vári über die Rolle der Genossenschaften für die Bereitstellung von Krediten und die Verbreitung von Wissen. Auch Vári ging von den Ergebnissen der Agrarkrise der späten 1870er Jahre aus. Ein besonders für die Bauernschaft möglicher Ausweg aus der Krise bestand in der Umstellung auf Viehhaltung, die allerdings nicht nur Investitionskapital, sondern auch neues agronomisches Wissen und die Bereitschaft zur Kooperation mit anderen Landwirten erforderte. Mit der Gründung von Genossenschaften wurde den Bauern dieser Strukturwandel erleichtert. Dabei ergriffen neokonservative Großagrarier und ländliche Eliten aus (ihrem Selbstbild entsprechender) paternalistischer Fürsorge für die ländliche Gesellschaft und in Opposition zur liberalen Regierung und zum Diktat des Weltmarktes die Initiative. Vári beschrieb die Gründung und Entwicklung der Genossenschaften im Pester Komitat, untersuchte die soziale Herkunft der Gründer und Leiter von Genossenschaften und versuchte die Empfänger der Betriebskredite zu klassifizieren sowie die Transferleistungen der Genossenschaften zu gewichten. Danach stellte der Aufbau kooperativer Strukturen zur Verbesserung der Marktposition, bei dem oft sogar ethnische und konfessionelle Differenzen überwunden wurden, einen wichtigeren Effekt der Genossenschaften dar als die eigentliche Kreditvergabe.

Zum Abschluss der Tagung verknüpfte Arnd Bauerkämper ein Resümee der Tagung mit einem Ausblick auf die weitere Forschung. Dabei betonte er die komparative Perspektive. Die Agrarwirtschaft und ländliche Gesellschaft war in den verschiedenen Teilen Europas im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert. Das galt vor allem für die konjunkturellen Wechsellagen und die sich, insbesondere durch die neue überseeische Konkurrenz wandelnden Marktbedingungen. Damit wurde eine Anpassung notwendig, aus der allerdings unterschiedliche institutionelle Arrangements hervorgingen. Deshalb müssen auch die spezifischen Handlungsspielräume und Akteurskonstellationen in den unterschiedlichen europäischen Regionen vergleichend untersucht werden. Zudem differierte das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie. Politische Eingriffe bedurften in den dörflichen Milieus ebenso der individuellen und kollektiven Interpretation und Aneignung wie der ökonomische und soziale Strukturwandel. Deshalb sind mikro- und makrohistorische Studien eng aufeinander zu beziehen. Obgleich die Implikationen der Tagung für das Konzept der Peasant Society nicht mehr systematisch diskutiert wurden, hob Bauerkämper abschließend doch hervor, dass dieses Interpretament vor diesem Hintergrund vor allem geeignet sei, die sozialen und kulturellen Bindekräfte und Konflikte zwischen unterschiedlichen bäuerlichen Produzenten komparativ und anhand systematischer Fragestellungen zu analysieren.

Eine Publikation der Konferenzbeiträge ist geplant.

Kontakt

Dr. Uwe Müller

Europa-Universität Viadrina
Kulturwissenschaftliche Fakultät
Lehrstuhl für Vergleichende europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Forschungsstelle für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas
PF 1786
15207 Frankfurt (Oder)
Tel.: 0335-5534-2294 (2314-Sekr.)


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